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Wissenschaftliche Analyse Pluralbildung

Carmen Steenhoff

Ist sich ein Sprecher oder eine Sprecherin unsicher bei der Verwendung einer bestimmten Wortform, so ist sie oder er zumeist auf einen flexionsmorphologischen Zweifelsfall gestoßen. Diese Art von Zweifel können laut Klein bei Wörtern auftreten, die in der Lage sind, sich in einem Satz kontextual zu verändern. So auch bei Substantiven. Zweifelsfälle treten hier neben der Genitivbildung vor allem bei der Pluralbildung auf (vgl. Klein 2018, S. 192), welche im Folgenden betrachtet werden soll. Unterschieden wird zwischen Zweifelsfällen bei nativen Wörtern und bei Fremdwörtern. Zunächst soll verkürzt auf die Systematik der deutschen Pluralbildung eingegangen werden.

Der Plural des Deutschen ist nach Eisenberg einheitlich geregelt. Das bedeutet, dass die Formen innerhalb eines Paradigmas mithilfe eines übereinstimmenden formalen Merkmales gekennzeichnet sind. Hierbei kann es sich um eine Endung, einen Umlaut, eine Endung mit Umlaut oder auch um eine Endungslosigkeit handeln (vgl. Eisenberg 2013, S. 157). Insgesamt ergeben sich nach Nübling sieben verschiedene Allomorphe, die die Funktion des Plurals erfüllen (vgl. Nübling 2010, S. 50) und im Sinne der Numerusprofilierung für eine gute Erkennbarkeit der jeweiligen Pluralform sorgen sollen (vgl. Klein 2018, S. 219).

  1. -(e)n zum Beispiel: Frage – Fragen / Welt – Welten
  2. -e zum Beispiel: Tag – Tage
  3. Umlaut + -e zum Beispiel: Hand – Hände
  4. Null zum Beispiel: Löffel – Löffel
  5. Umlaut zum Beispiel: Boden – Böden
  6. -er (+Umlaut) zum Beispiel: Lamm – Lämmer / Kind – Kinder
  7. -s zum Beispiel: Oma – Omas

Diese Allomorphe sind aufgrund bestimmter Regeln den Wörtern und diese den Flexionsklassen zugeordnet. Die Regeln für diese Zuordnung beruhen laut Nübling auf phonologische und lexikalische Eigenschaften der Wörter (vgl. Nübling 2010, S. 51). Eisenberg nennt insgesamt sechs verschiedene Pluralklassen (vgl. Eisenberg 2013, S. 158), von denen laut Wegener nur noch vier produktiv seien (vgl. Wegener 2003, S. 122). Die Systematik der Pluralbildung im Deutschen stellt Eisenberg entsprechend der folgenden Darstellung dar (vgl. Eisenberg 2013, S. 158).

MaskulinaNeutra Feminina
unmarkiert e e en
markiert ener”e”
s-Plural sss
” = obligatorischer Umlaut

Zweifel bei nativen Wörtern und bei Fremdwörtern entstehen dann, wenn der Sprecher oder die Sprecherin einem Wort nicht nur eine Pluralform zuordnen kann und zwischen zwei oder mehr Varianten schwankt. Die Ursachen für das Auftauchen dieser Varianten können vielfältiger Natur sein.

Zweifelsfälle bei nativen Wörtern

Eine Ursache für die Entstehung bestimmter Zweifelfälle bei nativen Wörtern seien semantische Faktoren. So liegen laut Klein für bestimmte Wörter unterschiedliche Pluralformen vor, deren Bedeutung allerdings verschieden ist. Die unterschiedlichen Formen finden demnach nicht in denselben Satzzusammenhängen Verwendung (vgl. Klein 2018, S. 219).

Beispiele:

Worte = zusammenhängende Rede vs. Wörter = mehrere isolierte Einzelwörter

Banken = Geldinstitute vs. Bänke = Sitzgelegenheiten

Gehalte = Inhalte, Werte vs. Gehälter = Arbeitslöhne

Anhand des Beispiels Worte vs. Wörter soll eine nähere Betrachtung gefunden werden. Der Plural Wörter bezeichnet nach Klein mehrere isolierte Einzelwörter und werde daher zum Beispiel für Bezeichnungen wie Wörterbuch verwendet. Der Plural Worte dagegen, spreche von einer zusammenhängenden Rede. So laute die Reaktion auf eine Begrüßungsrede nicht „Vielen Dank für die freundlichen Wörter!“, sondern „Vielen Dank für die freundlichen Worte!“ (vgl. Klein 2018, S. 219).

Andere Zweifelfälle, die bei nativen Substantiven auftreten und nicht die Semantik betreffen, sind komplexeren Ursprungs. Entscheidend sei hierbei der Abbau markierter Pluralklassen in der Standardsprache, wie auch deren Verbleib in apokopierenden Dialekten (vgl. Wegener 2003, S. 122).

Laut Wegener ist der Abbau markierter Pluralklassen, der zu einer Variation markierter und unmarkierter Formen führe, Teil eines natürlichen Sprachwandelprozesses (vgl. Wegener 2003, S. 122). Wegener nennt in diesem Zusammenhang derzeit zwei kleine, irreguläre Pluralklassen: den er-Plural und die Pluralklasse (e) + Umlaut (vgl. Wegener 2003, S. 120). Im ersten Fall seien Maskulina und Neutra betroffen, die ihren Plural entweder auf -er oder -e ohne Umlaut bilden und wo eine Tendenz des Übergangs von -er zu dem -e-Plural zu beobachten sei (vgl. Wegener 2003, S. 120).

Beispiele:

Denkmäler >Denkmale

Stücker > Stücke

Bröter > Brote 

Im zweiten Fall seien laut Wegener Maskulina und Feminina betroffen. Bei den Maskulina sei ein Abbau des Umlauts zu beobachten und ein damit einhergehende Pluralbildung auf -e. Bei den Feminina sei ebenfalls eine Auflösung des Umlauts festzustellen wie auch ein Wechsel zu der regulären Pluralklasse -en (vgl. Wegener 2003, S. 120).

Beispiele:

Maskulina: Schlöte > Schlote

Feminina: Schlüchte > Schluchten

Während laut Wegener über die Produktivität des Umlautplurals bei den Maskulina noch gestritten werde, sei die Unproduktivität der Klasse der starken Feminina mit Umlaut, wie auch des er-Plurals bei den Maskulina und Neutra, bereits angenommen. In einigen Fällen könne bereits nicht mehr von einem Zweifelsfall gesprochen werden.

Eine Unproduktivität liege hier vor, da im Laufe der Zeit die Motivation für markierte Pluralklassen verloren gegangen sei. Anders als in der Standardsprache sei eine Motivation für die Verwendung dieser Pluralformen in bestimmten Dialekten allerdings heutzutage noch vorhanden (vgl. Wegener 2003, S. 122). Sowohl der umlauthafte Plural als auch der er-Plural seien im südlichen Sprachraum weiterhin verbreitet (vgl. Klein 2018, S. 219). Der Grund dafür liegt gemäß Wegener in der Beschaffenheit der Dialekte.

In süddeutschen Dialekten sei der finale Schwa-Laut im Gegensatz zur heutigen Standardsprache nicht artikulierbar. Aus kompensatorischen Zwecken werde daher der Plural, anstatt mithilfe des nicht hörbaren e-Suffix, auf -er oder mit Umlaut gebildet, um eine nicht aussagekräftige Nullform, die mit der jeweiligen Singularform zusammenfällt, zu vermeiden. Im Süddeutschen wird daher beispielsweise anstelle des Plurals Tage die Pluralform Täg verwendet. Bei Substantiven, bei denen kein Umlaut möglich sei, werde der Plural laut Wegener mit -er gebildet. So werde in apokopierenden Dialekten beispielweise eher die Pluralform Bröter anstatt der Form Brote oder eher die Form Denkmäler anstatt der Form Denkmale genutzt (vgl. Wegener 2003, S. 121).

Daraus ergibt sich, dass vor allem Dialektsprecher und Dialektsprecherinnen hier auf Zweifelsfälle stoßen und bei ihnen Unsicherheit herrschen kann. Dies sei vor allem der Fall, da neben der Umgangssprache auch standardsprachliche überregionale Medien genutzt werden und diese die Variationspaare präsent erscheinen lassen (vgl. Wegener 2003, S. 124). Auch der noch nicht vollständig beziehungsweise nicht allumfassende Prozess des Abbaus der markierten Pluralklassen führe immer wieder zu Zweifeln (vgl. Wegener 2003, S. 124).

Weitere Zweifelsfälle, die Wegener unter anderem die „[…] langlebigsten Zweifelsfälle der deutschen Sprache […]“ (Wegener, 2003 S. 125) nennt, betreffen ebenfalls nicht die Standardsprache, sondern die Umgangssprache beziehungsweise Dialekte (vgl. Wegener 2003, S. 125). Diese wenden laut Wegener, solange kein anderes Markiertheitsprinzip verletzt werde, Strategien an, um der regulären Null-Pluralform von Maskulina und Neutra und damit dem Verstoß gegen das Ikonismusgebot innerhalb der Standardsprache entgegenzuwirken (vgl. Wegener, 2003 S. 125-127). Teil dieser Strategien seien (1) die Umlautung des Stammvokals, (2) das Anfügen der Endung -s oder (3) die Addition der Endung -n (vgl. Wegener 2003, S. 125).

Beispiele: 

(1) Standard vs. Süddeutsch

Wagen vs. Wägen

Hammer vs. Hämmer

(2) Standard vs. Norddeutsch

Mädel vs. Mädels

Jungen vs. Jungens

(3) Standard vs. Österreichisch, Süddeutsch

Spiegel vs. Spiegeln

Mädel vs. Madln

Zweifel kann hier also ebenfalls dann entstehen, wenn sich Umgangssprache und Standardsprache gegenüberstehen. Die umgangssprachlichen Formen seien aufgrund der Beschaffenheit der Standardsprache bisher nicht durchsetzungsfähig. Hier sieht Wegener einen Grund für den Verbleib der Zweifelsfälle (vgl. Wegener 2003, S. 125).

Zweifelsfälle bei Fremdwörtern

Neben Zweifelfällen, die bei der Pluralbildung nativer Wörter auftreten, herrschen laut Wegener die am häufigsten aufkommenden Zweifel bei Wörtern, die aus einer fremden Sprache in das Deutsche entlehnt wurden (vgl. Wegener 2003, S. 127). Klein merkt an, dass vor allem die Integrationsperspektive bei diesen flexionsmorphologischen Schwankungen der Pluralmarkierung eine entscheidende Rolle spiele, da Wörter, die in das Deutsche integriert werden, sowohl ihre Aussprache und Orthografie als auch ihr Flexionsverhalten verändern würden. Daher stehe bei der Klärung des Ursprungs von Zweifelsfällen zunächst die Frage im Vordergrund, wie stark die jeweilige Pluralform in das deutsche Kernsystem integriert wurde (vgl. Klein 2018, S. 220).

Wegener unterscheidet hierfür zwischen dem fremden Pluralsuffix, dem unassimilierten beziehungsweise teilassimilierten Pluralsuffix und dem assimilierten Pluralsuffix. Ein fremdes Pluralsuffix zeichne sich dadurch aus, dass es vollständig von der jeweiligen Ursprungssprache übernommen wurde und so der Plural des Fremdwortes beispielsweise mit einem Vollvokal gebildet werde, wie es bei Klassizismen und Italianismen der Fall sei (vgl. Wegener 2003, S. 128).

Den s-Plural beim Fremdwort nennt Wegener dagegen unassimiliert beziehungsweise teilassimiliert (vgl. Wegener 2003, S. 129) und es finde mit ihm laut Zimmer eine zunehmende Annäherung an das Kernsystem des Deutschen statt (vgl. Zimmer, S. 139). Der s-Plural werde in Bezug auf Anglizismen und Gallizismen in einigen, aber nicht in jedem Fall, von der Fremdsprache übernommen (vgl. Wegener 2003, S. 129). Daneben trete das s-Suffix bei Klassizismen und Italianismen auf, wobei dieses hier in keinem Fall von der Gebärsprache entlehnt sei.

Eine abgeschlossene Assimilation sei laut Wegener dann zu beobachten, wenn das jeweilige Fremdwort mit einem Schwa-Suffix pluralisiert werde und Formen wie zum Beispiel Visen oder Pizzen auftreten (vgl. Wegener 2003, S. 128). Das Fremdwort habe nun im Laufe des Assimilationsprozesses seine gesamten Fremdheitsmerkmale verloren (vgl. Zimmer 2019, S. 139).

Diese drei Stufen können als Prozess der Integration eines Fremdwortes betrachtet werden (vgl. Zimmer 2019, S. 139), da ein Fremdwort meistens nur vorübergehend mit einer fremden Pluralform im Deutschen genutzt werde. Eine führende Rolle können nach Klein hierbei der jeweilige Sachkontext und die Entlehnungssprache spielen (vgl. Klein 2018, S. 220).

Der Assimilationsprozess sei in seinem Verlauf stets von synchron manifestierenden Schwankungen zwischen Varianten begleitet und der Plural des Substantivs werde so gleichzeitig mithilfe verschiedener Strategien gebildet (vgl. Zimmer 2019, S. 139). Dies sei der hauptsächliche Grund für die Existenz der Zweifelsfälle. In einigen Fällen seien laut Wegener bis zu drei verschiedene Varianten mit unterschiedlich starker Assimilation präsent, was zu reichlichen Zweifelsfällen führe (vgl. Wegener 2003, S. 128).

Beispiele:

fremder Plurals-Pluralassimilierter Plural
LexikaLexikasLexiken
PizzePizzasPizzen
 –TestsTeste
 –SaunasSaunen
CelliCellos –
EspressiEspressos –

Die Ursachen für diese Schwankungen sollen im Folgenden näher betrachtet werden. Zunächst ist fraglich, wie der Zweifel zwischen einem fremden und einem teilassimilierten Plural zustande kommt, wie es zum Beispiel bei den Variantenpaaren Celli und Cellos oder Espressi und Espressos der Fall ist. Wegener erklärt, dass Formen mit fremdem Pluralsuffix hauptsächlich in fachsprachlichen Kontexten oder aus Prestigegründen Verwendung finden (vgl. Wegener 2003, S. 130). Die Begründung liege vordergründig in der Soziolinguistik: In bestimmten Fachkreisen zeichne sich ein Fachmann durch die Verwendung der fremden Pluralformen aus und beweise damit Wissen sowie auch Zugehörigkeit (vgl. Wegener 2003, S. 130). Alltägliche Fremdwörter dagegen verlieren leicht ihr fremdes Pluralmorphem (vgl. Klein, S. 220). Die seltene markierte Form werde im Alltag durch umgangssprachlich häufige Formen mit s-Plural, wie zum Beispiel Cellos beziehungsweise Espressos, ersetzt (vgl. Wegener 2003, S. 130).

Der s-Plural werde allerdings häufig nur als Übergangslösung angesehen auf dem Weg zur Pluralbildung mit nativem Suffix, doch erfülle er seinen Zweck (vgl. Wegener 2003, S. 131), da das assimilierte Pluralsuffix nicht als vollständig unproblematisch gelten könne und seine völlige Integriertheit laut Klein „[…] trügerisch […]“ (Klein 2018, S. 220) sei. Grund hierfür sei die Beschaffenheit der jeweiligen Fremdsprache (vgl. Klein 2018, S. 220).

Bei der Integration vieler Fremdwörter ergebe sich beim üblichen Anhängen des nativen Pluralsuffixes an die Grundform (additive Grundformflexion) eine ungrammatische Form. Aus der Singularform Pizza würde beispielsweise der Plural Pizzaen gebildet werden (vgl. Wegener 2003, S.131).

Eine mögliche assimilierte Form mit Schwa-Plural entspräche dagegen dem Plural Pizzen. Für das Deutsche bedeutete dies allerdings auch, dass die Grundform auf eine bestimmte Stammform hin reduziert würde, um die pluralistische Markierung vornehmen zu können (subtraktive Stammformflexion), was einen Verstoß gegen das Transparenzprinzip darstelle (vgl. Wegener 2003, S. 131).

Die Pluralbildung mit -s könne daher, obwohl diese unüblich und ebenfalls nicht vollständig regelkonform sei, als strukturbewahrende und transparente Alternative angesehen werden (vgl. Wegener, 2003 S. 131). Die Anwendung der subtraktiven Stammformflexion dagegen zeige, dass das Fremdwort als morphologisch komplex erkannt wurde und dass ein gewisses Verständnis für den Aufbau der Fremdsprache herrsche (vgl. Wegener 2003, S. 132).

Klein zweifelt aufgrund der Sachlage, welche der beiden Pluralvarianten integrierter sei, stellt allerdings fest, dass jede Pluralbildung „[…] im Sprachgebrauch aus guten Gründen […]“ (Klein 2018, S. 221) auftauche. Personen, die einem Zweifelsfall gegenüberstehen, müssten sich daher nicht fürchten, die für ihn oder sie passende Variante auszuwählen (vgl. Klein 2018, S. 221).

Literaturverzeichnis

Eisenberg, Peter: Grundriss   der   deutschen   Grammatik.   Das   Wort. 4. Auflage. Stuttgart: Metzler 2013.

Klein, Wolf Peter:  Sprachliche Zweifelsfälle im Deutschen.  Theorie, Praxis, Geschichte. Berlin/Boston: de Gruyter 2018.

Nübling, Damaris: Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. 3.  Auflage. Tübingen: Narr Verlag 2010.

Wegener, Heide:  Normprobleme bei der Pluralbildung fremder und nativer Substantive.  In: Linguistik online 16 (2003). S. 119-157.

Zimmer, Christian:  Zweifel bei der Flexion von Fremdwörtern. Morphologische Integration und Variation. In: Germanistische Linguistik 244-245 (2019). S. 137-180.

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