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Wissenschaftliche Analyse Anlaut

 Die Aussprache von Fremdwörtern, die im deutschen Sprachgebrauch benutzt werden, sorgt für Irritationen, da fremde Eigenschaften der Wörter zu verschiedenen Varianten führen. Die Variationen können in der Aussprache des gesamten Wortes vorhanden sein, im Folgenden soll sich speziell auf den Anlaut konzentriert werden. Einige Merkmale, die für verschiedene Variationen führen, sollen anhand des Wortes „Chemie“ erklärt werden. Das Wort, welches sowohl im Bildungsbereich als auch im Alltag weit verbreitet ist gilt als Zweifelsfall in der Aussprache. Aufgrund der häufigen Verwendung der Formen a) [çeˈmiː], b) [ʃeˈmiː] und c) [keˈmiː] soll zuerst keine als ausdrücklich falsch angesehen werden. Die Formen werden im weiteren als Form a), Form b) oder Form c) bezeichnet. Der Unterschied besteht nur im Anlaut, dem ersten Laut des Anfangsrandes, wie in der Schreibung nach IPA erkennbar ist.

Weiterhin auffällig ist auch, dass die Verwendung der verschiedenen Formen regional deutlich verteilt sind. Form a) und b) werden vor allem im norddeutschen Raum verwendet und die Form c) im oberdeutschen Raum sowie der Schweiz und Österreich. Es sind noch weitere Varianten bekannt, die aber im Weiteren nicht behandelt werden, da diese regional sehr begrenzt sind. (vgl. 4. Leibniz-Institut für Deutsche Sprache 2018). Die regionalen Unterschiede in der Aussprache sind auch im nativen Deutschen durch Dialekte sehr groß.  So ist das Ermitteln einer Standardaussprache neben den Dialekten und damit eine Klärung der Zweifelsfälle vor allem im lautlichen Bereich schwierig. Generell orientieren wir uns beim Spracherwerb und auch später an den Varianten, die in unserer Sprachregion geläufig sind. Zum Zweifelsfall kommt es dann, wenn zwei Sprachvarianten oft aus verschiedenen Sprachregionen aufeinandertreffen. Eine Lösung lässt sich aufgrund der verschiedene Dialekten und Soziolekten deshalb nicht immer aus der Umgebung in der gesprochen wird und einer Anpassung an diese erreichen (vgl. Becker 2012, S.32).

Für die Fremdwörter wird im Weiteren die folgende Definition genutzt. Als Fremdwort gilt eine „Entlehnung aus einer anderen Sprache die nicht oder nur gering in das (…) System der Nehmersprache integriert wurde“ (Schmoe 2016, S.211).

Um die Fremdwörter und die Schwierigkeiten bei der Aussprache der Fremdwörter zu verstehen soll zuerst der deutsche Regelfall dargestellt werden. Der Anfangsrand bezeichnet und beschreibt den Teil eines Wortes vor dem Silbenkern. Im Deutschen besteht der Anfangsrand aus einem bis drei Konsonanten, die aber nicht deutlich hörbar oder verschriftlicht sein müssen. Der erste Laut wird als Anlaut bezeichnet. Da der glottale Verschlusslaut [Ɂ] als Beispiel nicht verschriftlicht wird gibt es Wörter wie „Ast“ bei denen nur der Silbenkern und der Endrand verschriftlicht sind. Für den Aufbau des Anfangsrandes im deutschen gilt ein Silbenbaugesetz, nachdem die Reihenfolge in komplexen Anfangsrändern vorgegeben ist (vgl. Eisenberg 2013 S. 111 ff.). Das vollständige Silbenbaugesetzt nach Eisenberg ist in Tabelle 1 dargestellt. Für uns ist hierbei nur der Anfangsrand interessant. Hier ist die Reihenfolge dargestellt, dass zuerst die stimmlosen Obstruenten stehen müssen und auf diese dann die stimmhaften Obstruenten folgen können. Auf diese können nur Nasale oder Liquide folgen. Im nativen Deutschen gibt es keine Anfangsränder mit Liquiden und Nasalen. Sie besetzen bei komplexen Anfangsrändern die letzte Stelle.

Tabelle 1: Allgemeines Silbenbaugesetz (Vgl. Eisenberg 2013 S. 100)

AnfangsrandAnfangsrandAnfangsrandSilbenkernEndrandEndrandEndrand
Stimmlose ObstruentenStimmhafte Obstruenten  Nasale LiquideVokaleLiquideNasaleStimmlose Obstruenten

Es gibt aber auch Konsonanten und Konsonantenabfolgen, die nicht im nativen Deutschen im Anfangsrand auftreten obwohl es nach dem Silbengesetz möglich wäre. Als Beispiele seien genannt: [s], [ks], Plosive mit [ʃ], [vl], [bn] [tm][ɳ] [ç] [ʒ] (vgl. ebd.).   Der Zweifelsfall wie Fremdwörter ausgesprochen werden rührt auch daher, dass Regeln, die für das native Deutsche gelten,  nicht für andere Sprache und Entlehnungen aus diesen gelten. Dies beginnt bei Konsonanten, die im nativen Deutschen nicht im Anfangsrand stehen dürften, aber auch über Konsonantenkombinationen die entweder länger oder anders aufgebaut sind als die in nativen deutschen Wörtern.  In dem Beispiel „Chemie“ wäre es der Laut [ç] der nicht im Anlaut stehen dürfte, sondern im deutschen nur im Endrand stehen darf. Eisenberg stellte die These auf, dass bereits eine ungewöhnliche Lautkombination im Anfangsrand ein Wort für uns Fremd erscheinen lässt (vgl. Eisenberg 2018, S. 171f.).

 Eine Möglichkeit zur Orientierung bei fremd wirkenden Wörtern ist die Explizitlautung. Hier werden die geschriebenen Grapheme nach der Graphem/Phonem Korrespondenz vollständig ausgesprochen und die Aussprache so dem deutschen angepasst. Allerdings ist auch die Explizitlautung abhängig von regionalen Aussprachenormen wie Dialekten und somit nicht einheitlich. Hierdurch kommt es zu verschiedenen Aussprachevariationen (vgl. ebd. S.162 f.). 

Auch kann über eine lautliche Integration das Fremdwort dem deutschen in der Aussprache angepasst werden. So kann [sk] auch als [ʃk] ausgesprochen werden, die lautliche Fremdheit wird durch die Anpassung an häufige Lautfolgen geringer. Das Wort bleibt durch die Lautfolge trotzdem nach der lautlichen Integration noch als Fremdwort erkennbar (vgl. ebd. S. 170[SB1] ).   Lautliche Integration führt zu Zweifelsfällen, wie bei dem Wort „Skandal“, das [skanˈdaːl] oder [sʃanˈdaːl] ausgesprochen werden kann. Da die eine Form integriert ist, während die andere Form näher an der Ursprungsform ist, ist eine Regel, welche Aussprache korrekt ist, schwer zu definieren. Auch die Varianten von „Chemie“ lassen sich nach dem Muster der lautlichen Integration erklären. Sowohl [k] als auch [ʃ] können im nativen Deutschen im Anlaut stehen und sind daher für den Sprecher leicht auszusprechen und wirken weniger fremd. Die dritte Form ist im Deutschen bereits seit dem 19. Jahrhundert als Regelform notiert da der griechische Buchstabe χ nach Schwalbe vor einem /e/ weich ausgesprochen wird. Hieraus folgt in unserem Zweifelsfall die Form a) mit [ç] als ursprüngliche Form nahe der Ursprungssprache (vgl. Schwalbe 1885 ,S. 36).

Als nächste Orientierung zur Aussprache und als Hilfe, welche der Formen als richtig gelten sollte, helfen sogenannte Aussprachewörterbücher. Diese sind vor allem bei Herkunftssprachen wie Griechisch und Latein meist einheitlich. Eisenberg nennt aber Probleme bei Wörtern, die aus anderen Sprachen stammen (vgl. Eisenberg 2018 S.173 f.). Vremsak-Richter kritisiert außerdem, dass sogar die Darstellung der Phoneme in den einzelnen Wörterbüchern stark variiert, wodurch eine einheitliche Vermittlung weiter erschwert wird. Die einzelnen Aussprachewörterbücher verhalten sich vor allem in der Darstellung der Diphthonge, r-Laute, a- Laute unsilbische und  Vokale im unbetonten Auslaut sowie silbische Konsonanten, progressive Stimmlosigkeitsassimilation und der Bindung verschieden (vgl. Vremsak-Richter 2010). Für uns von Bedeutung und als Beispiel dient im Folgenden die Darstellung der r-Laute. Im deutschen sind die verschiedenen r-Laute nicht distinktiv und es wird vor allem das „Reibe- R“ (ebd.) verwendet, dies ist aber nicht in allen Sprachen der Fall. Das bedeutet, dass r- Laute genau ausgesprochen werden müssen, wenn es sich um ein distinktives Merkmal des Wortes handelt. Deshalb sollte klar sein, welche Darstellung für ein Reibe-R gelte und welche für eine andere Form. Dies ist in wichtig, da bei der korrekten Aussprache von Fremdwörtern auch ein R-Laute im Anlaut stehen können und dort distinktiv wirken. Lediglich im Deutschen Aussprachewörterbuch wird zwischen den verschiedenen Formen des r-lautes differenziert (vgl. ebd. S.96). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die deutschen Aussprachewörterbücher weder im nativen noch im Fremdwortbereich ausreichend genau und aufeinander abgestimmt sind und sich die Probleme, die im nativen Bereich anfangen im Fremdwörterbereich weiter verstärken.

Durch die verschiedenen Angaben über dieses Beispiel hinaus, kommt es sowohl im nativen als auch im Fremdwortschatz zu Problemen. Für das Beispiel „Chemie“ werden sowohl Variante a) als auch c) als geläufig angenommen. Wobei c) explizit als Variante und nicht als Standardlautung benannt wird. Die Variante b), welche im Norddeutschen Raum weit verbreitet ist, wird teilweise nicht erwähnt (Vgl. Duden 2020 ). Nun könnte argumentiert werden, dass diese Form dementsprechend direkt als nicht regelkonforme Form herausfällt. Allerdings ist sie lautlich näher an der offiziellen und originalen Form als die Form c).  

Während bei diesem Beispiel aber der Laut der Ursprungsform auch im deutschen Lautinventar vorhanden ist, gibt es auch den Fall, das der Anlaut im deutschen nicht vorhanden ist. Diese Laute werden Xenophone genannt. Bei Entlehnungen aus dem Englischen zum Deutschen ist dies häufig der Fall. Die Anglizismen sind, neben Latinismen und Gräzismen, eine der größten Gruppen an Fremdworten. Der Laut [ɫ] beispielsweise ist im deutschen nur regional verbreitet und wird in den meisten Regionen nach der lautlichen Integration als [l] ausgesprochen. Nach Eisenberg (2018, S.167 f.)  sich aber der fremde Laut angeeignet und verwendet, wenn die weiteren lautlichen Merkmale ebenfalls fremd für das Deutsche sind. Hier wird also ein fremder Laut in das Lautsystem der Sprecher aufgenommen und erlernt (vgl. ebd.). Außerdem lässt sich daraus schließen, dass die Aussprache des Anlauts auch von weiteren Merkmalen des Wortes abhängt.  Als Merkmale für lautliche Fremdheit lassen sich die bereits erwähnte Verwendung von ungewöhnlichen Lauten oder Lautkombinationen aber auch ein fremder Wortakzent benennen.  Weitere Besonderheiten bei Anglizismen sind, dass die r-Laute anders ausgesprochen werden und dementsprechend in Aussprachewörterbüchern auch anders gekennzeichnet werden müssten, was meist nicht passiert. Und auch, dass einige Laute wie [s] als Anlaut wirken können, welche es im deutschen nicht können. Bei Anglizismen wird im Regelfall versucht diese so nah wie möglich nach den Regeln der englischen Aussprache auszusprechen. Dies ist bei Gallizismen anders, vermutlich weil die Sprache und die einzelnen Laute größere Differenzen zum Deutschen haben als die Anglizismen und das Englische. Lediglich das [ʒ] wird bei Vollsilben oft übernommen. Im Gegensatz wird der glottale Verschlusslaut ergänzt, da dieser im französischen nicht geläufig ist (vgl. ebd.  .188 ff.)

 Abschließend lässt sich also sagen, dass die Aussprache des Anlautes in einem Fremdwort nicht nur von dem jeweiligen Sprecher und der Sprachregion abhängt, sondern auch von der Herkunft eines und den restlichen Bestandteilen des Wortes. Als Tendenz gilt: Je fremder ein Wort durch seine Merkmale erscheint und je bekannter die lautlichen Regeln der Ursprungssache dem Sprecher sind, desto näher wird es an der Ursprungssprache ausgesprochen. Für das Beispiel „Chemie“ erklärt es auch, wieso alle drei Formen geläufig sind. Die Form a), die nah an der Originalform ist, ist seit Beginn der Nutzung des Wortes im Deutschen geläufig. Form b) und c) können als lautliche Integration je nach der jeweiligen Sprachregion gesehen werden. Hierdurch haben alle Formen eine Daseinsberechtigung und können austauschbar genutzt werden. Der Zweifelsfall bleibt hierdurch so lange ein Zweifelsfall, bis durch den Sprachwandel eine der Formen nicht mehr genutzt wird. Auch wenn in einigen Aussprachewörterbüchern nicht alle Formen aufgeführt werden, so sind dennoch alle im Sprachgebrauch begründet und verbreitet.