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Duzen und Siezen

Du kannst mich ruhig Hannah nennen.

Nein, mit meinem Namen hört sich das irgendwie komisch an. Ich biete nämlich nie jemandem das Du an. Es wird mir angeboten. Das liegt mitunter daran, dass ich im Zweifelsfall lieber einmal zu viel sieze, als jemandem unangemessen nahe zu treten. So wurde ich erzogen und es fiele mir schwer, mich umzugewöhnen. Darum sieze ich die Eltern von Freunden, Nachbarn und Handwerker und so ziemlich jeden, der mindestens ein Jahrzehnt älter als ich oder mir in irgendeiner Weise übergeordnet zu sein scheint. Gelegentlich heißt es dann irgendwann:

Du kannst mich ruhig Heike nennen.

Heikes fragen mich gar nicht erst. Sie gehen davon aus, dass ich mich freue und einverstanden bin. Und so ist es ja auch. Aber warum? Und habe ich überhaupt eine Wahl?

Ich möchte in diesem Beitrag der Frage nachgehen, warum wir zwischen den beiden Anreden Du und Sie unterscheiden. Dafür lohnt es sich, einen kurzen Blick in die Vergangenheit zu werfen:

Das hier ist einer der ältesten erhaltenen Texte der deutschen Sprache. Es handelt sich dabei um das Hildebrandslied, ein germanisches Heldenlied aus dem 9. Jahrhundert. Worum es inhaltlich geht, ist an dieser Stelle gar nicht mal so wichtig. Interessant ist jedoch, dass die Figuren in dem Lied sich fremd sind und trotzdem die Anrede Du verwenden.

Die höfliche Anrede Sie kannte man damals nämlich noch gar nicht. Kurz nach der Entstehung des Hildebrandsliedes tauchte erstmalig eine andere förmliche Anrede auf: Ab Ende des 9. Jahrhunderts wurde zwischen Du und Ihr unterschieden. Deutlich später kamen dann sogar noch die ebenfalls distanzierten Höflichkeitsformen Er und Sie hinzu, die sich aus der 3. Person Singular ableiteten. Als dann auch noch das Plural-Sie als Anrede hinzukam, verfügte das Sprachsystem eine Zeit lang tatsächlich über vier Optionen der Anrede. Deutlich wird an Er/Sie (3. Pers. Singular) und Sie (3. Pers. Plural), dass zwei unterschiedliche Ansätze dafür verwendet werden, Distanz und Höflichkeit auszudrücken. Einerseits ist die Idee, sein Gegenüber nicht direkt anzusprechen. Die Form, die heute noch üblich ist, leitet sich aus dem Plural ab und die Vorstellung des Plurals geht mit Macht und etwas Übergeordnetem einher.

Jetzt springen wir aber mal in die Gegenwart: Wenn wir jemanden das erste Mal sehen, haben wir nicht besonders viel Zeit, uns zu überlegen, ob wir sie oder ihn nun duzen oder doch lieber siezen sollten. Ohne dass es uns bewusst ist, wägen wir blitzschnell ab und beziehen mehrere Faktoren in unsere Entscheidung mit ein. Einer davon ist das Alter: Ältere Gesprächspartner werden eher gesiezt, während man jüngere häufig mit Du anspricht. Die besondere Schwierigkeit ist, dass es keine feste Regel gibt, ab welchem Alter oder welchem Altersunterschied gesiezt werden sollte. Das Gefühl für Angemessenheit ist letztendlich ausschlaggebend und individuell unterschiedlich. Ein anderes Kriterium bezieht sich auf die Wahrnehmung von Positions- und Rangunterschieden. Je formeller und gesetzter das soziale Umfeld, desto wahrscheinlicher ist die Anrede mit Sie. Dabei ist zu erwähnen, dass man sich nicht unbedingt gegenseitig mit dem gleichen Pronomen ansprechen muss. Stattdessen kann es auch vorkommen, dass man jemanden höflich siezt, selbst aber mit Du angesprochen wird oder andersherum.

Der Wechsel vom Sie zum Du findet ein einziges Mal statt. Man spricht davon, jemandem das Du anzubieten. An dieser Stelle ist Vorsicht geboten! Wenn Ihnen und euch ein Kaffee angeboten wird, dann gilt es, in sich hineinzuhorchen. Bei Kaffeedurst sagt man selbstverständlich „ja“ und wenn einem gerade nicht der Sinn danach steht, bedankt man sich und lehnt ab. So sollte auf keinen Fall vorgegangen werden, wenn eine Person einer anderen das Du ‚anbietet‘. Wie anfangs schon angedeutet hat man eigentlich nicht die Wahl. Vielleicht ist die Sache mit dem Duzen auch gerade deshalb so ein sensibles Thema. Man trifft quasi eine Entscheidung für sich und sein Gegenüber gleich mit. Sofern die betreffenden Personen in einem asymmetrischen Beziehungsverhältnis zueinander stehen, bietet die ältere oder ‚sozial übergeordnete‘ Person das Du an. Andernfalls haben beide gleichermaßen die Möglichkeit, der ersten Schritt zu gehen.

Im Englischen sieht das Ganze ziemlich anders aus. Dort wird das Staatsoberhaupt ebenso wie das eigene Familienmitglied mit You angesprochen. Das war nicht immer so: Im 17. Jahrhundert wurde noch zwischen You und Thou unterschieden. Thou stellt dabei die Höflichkeitsform dar. Irgendwann scheint man diese Unterscheidung aber nicht mehr für notwendig erachtet zu haben.

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Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle aber, dass auch in einem Sprachsystem mit nur einem Anredepronomen noch durch die Verwendung von Vor- oder eben Nachnamen differenziert werden kann. So wird es im Englischen auch gehandhabt. Dass der Vorname auch bei Fremden deutlich eher als der Nachname als Anrede gewählt wird, ist beispielsweise in amerikanischen Supermärkten zu beobachten, in denen Mitarbeiter*innen Namensschilder ihrer Vornamen tragen. In Deutschland wäre das (zumindest noch) sehr ungewöhnlich. Aber wer weiß, welche sprachlichen Entwicklungen noch anstehen. Sicher ist nur, dass wir es letztendlich sind, die die Sprache verändern.

Hier geht es zur kommentierten Bibliographie und hier zur wisschenschaftlichen Analyse des Themas.