Martha Nussbaum

Martha Nussbaum

(Autorin: Merle Gerdes)

Biographie:

Martha Craven Nussbaum strebte in den USA der 1960er und 1970er Jahre eine akademische Karriere in der klassischen Philologie an, zu einer Zeit also, als Frauen noch stärker als heute Minderheiten in den intellektuellen Kreisen der Universitäten waren. Die heute 73-Jährige ist mittlerweile eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart, lehrt als Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der Privatuniversität Chicago, erhielt 63 Ehrendoktorwürden weltweit und wurde unteranderem mit den renommiertesten Würdigungen für Philosoph_innen*, dem Kyoto-Preis in Kunst und Philosophie (2016) und dem Berggruen-Preis für Philosophie und Kultur (2018), für ihr Lebenswerk ausgezeichnet (vgl. The University of Chicago, 2020).

Martha Nussbaum (2008)

In einem männlich dominierten Arbeitsumfeld war Nussbaum die erste Frau, die Junior Fellow in Harvard wurde, die zweite Frau, die mit dem Kyoto-Preis in Kunst und Philosophie ausgezeichnet wurde und lehrte bereits an der Harvard, Brown, Oxford und United Nations Universität (vgl. Nussbaum, 1997, S. 5 ff.; vgl. The University of Chicago, 2020). Nussbaum beweist, dass keine elitär-abgrenzende Sprache notwendig ist, um philosophisch wertvolle Ideen formulieren und mit diesen ernst genommen werden zu können. In ihren Werken beschäftigt sich die Neoaristotelikerin unter anderem mit der pädagogischen und therapeutischen Wirkung von Literatur und Philosophie sowie dem Einfluss von Emotionen in der Politik und entwirft Gedanken zu einer globalen Gerechtigkeit und dem guten Leben.


Keinem empfindenden Lebewesen soll die Chance auf ein gedeihliches Leben versagt werden, auf ein Leben also, das der seiner Spezies entsprechenden Würde gemäß ist. Zudem sollen alle empfindenden Lebewesen positive Gelegenheiten dazu haben, ein gedeihliches Leben zu führen. Auf der Grundlage der Achtung für eine Welt, in der es verschiedenste Lebensformen gibt, schenken wir jeder charakteristischen Art des Wohlergehens ethische Aufmerksamkeit und bemühen uns darum, dass es weder unterbunden wird, noch unerfüllt bleibt.”

Martha Nussbaum

Vorstellung des Werks Die Grenzen der Gerechtigkeit

„Jenseits von „Mitleid und Menschlichkeit“: Gerechtigkeit für nichtmenschliche Tiere

Der Sprecher des Deutschen Ethikrates, Steffen Augsberg, stellte fest, er „kenne kein einziges Rechtsgebiet, in dem so heuchlerisch vorgegangen wird wie im Tierschutzrecht“ (Zeit Online, 2020). Bewegungsunfähigmachende Abferkelställe und Kastenstände, unbetäubte Lebend-Schlachtungen, das Schreddern männlicher Küken, qualvolle Tierversuche, deren Ergebnisse kaum auf den Menschen übertragbar sind und die Zucht von Versuchstieren, die ohne Verwendung millionenfach getötet werden: Das sind nur einige wenige Ausdrucksformen des unterwerfenden Umgangs der Menschen mit den Tieren. Während wir Schlachtungen hinter Türen verschließen, um sie nicht anzusehen, kaufen wir massenhaft Wurst und Fleisch, das kaum mehr an das Tier erinnert, aus dem das Fleisch stammt (vgl. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, 2015).

Die Grenzen der Gerechtigkeit

Jüngste Skandale zum Tierumgang in Schlachtbetrieben, die keine wirklichen Veränderungen in den Abläufen nach sich ziehen, beweisen immer wieder aufs Neue, dass wir ein Tierschutzproblem haben. Martha Nussbaum geht einen Schritt weiter und definiert dieses Tierschutzproblem als ein Gerechtigkeitsproblem. Durch die Missachtung der Bedürfnisse der Tiere sprächen wir den Tieren ihre inhärente Würde ab.

In ihrem Werk Die Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit befasst sich Nussbaum mit drei zentralen Gerechtigkeitsproblemen, die sie mit dem Fähigkeiten-Ansatz lösen möchte. Dabei zeigt sie zunächst die Relevanz ihres Ansatzes auf, indem sie nachweist, dass kontraktualistische Theorien, auch die weitläufig beliebte von John Rawls, diese Probleme nicht lösen können. Besonders führe bei Rawls der kantianische Personenbegriff in Kombination mit der Idee eines von Vertragspartnern geschlossenen Gesellschaftsvertrages zur Unlösbarkeit der aufgeführten Probleme (vgl. Nussbaum, 2018b, S. 445; 451-459). Der angewendete Personenbegriff erschwere einen Gerechtigkeitsstatus für schwer behinderte Menschen. Ebenso schwierig sei es bei der Betrachtung globaler Gerechtigkeit über nationale Grenzen hinaus (vgl. Nussbaum, 2018a, S. 179 ff.; Nussbaum, 2018b, S. 372 ff.). Ihre zentralen Ausführungen zur Gerechtigkeit für nicht-menschliche Tiere sollen im Folgenden wiedergegeben werden.

Wieso wir mit Tieren (moralisch) umgehen sollten

Nussbaum klärt zunächst, wieso wir Menschen überhaupt mit nicht-menschlichen Tieren umgehen müssen. Dies begründet sie zuerst damit, dass wir Menschen uns mit anderen intelligenten Lebewesen einen begrenzten Lebensraum mit knappen Ressourcen teilen, weshalb ein voneinander losgelöstes Existieren schlicht unmöglich ist. Eine rein negative Pflicht gegenüber Tieren führe zu einer übermäßigen Romantisierung der Natur (vgl. Nussbaum, 2018b, S. 497).

„Manche Umweltschützer stellen die Natur als harmonisch und weise dar, und die Menschen als übereifrige Verschwender, deren Leben deutlich besser wäre, wenn sie sich mehr im Einklang mit dieser schönen Harmonie befänden. […] [D]ie Natur [ist] keineswegs im moralischen Sinne normativ, sondern in Wirklichkeit durchzogen von Gewalt, Konflikt, Verschwendung und völliger Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Normen“ (ebd., S. 497).

Der Mensch kann sich also keinesfalls fragen, wie er die Tiere in Ruhe lassen kann, da das schlichtweg unmöglich ist. Vielmehr sollte er sich fragen, wie er mit den Tieren umgehen kann, sodass sie in ihrer natürlichen Lebensweise nicht behindert und sogar darin befördert werden. So sollte der Mensch einen natürlich ausbrechenden Wald- oder Buschbrand eindämmen, um die Lebensräume der ansässigen Tiere zu schützen und das Überleben eines Ökosystems zu sichern. Dabei muss die Natur stets in all ihren Faktoren unter Berücksichtigung möglicher Veränderungen beobachtet und bewertet werden. Ein wie in ihrem Zitat angeprangerter naturalistischer Fehlschluss kann durch eine begründete ethische Bewertung der Beobachtungen und zu fördernden Fähigkeiten vermieden werden. So sind beispielsweise Brutalität und Gier ebenfalls natürlich vorliegende Aktivitäten des menschlichen Vermögens, aber nach einer ethischen Evaluation kann darauf geschlossen werden, dass sie nicht gefördert werden sollten (vgl. ebd., S. 496).

Zudem können Menschen Beziehungen inklusive vielseitiger Emotionen zu Tieren aufbauen. So wie Menschen können wir Tieren gleichgültig, grausam, freundschaftlich und fürsorglich gegenüberstehen. Dass solche Beziehungen ebenfalls ethisch geregelt werden sollten, scheint in der Analogie schlüssig (vgl. ebd., S. 443). Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Tatsache, dass wir Mitleid beziehungsweise Mitgefühl für Tiere empfinden können. Werden Hunde, Katzen oder Schweine gefoltert oder nicht artgerecht gehalten, erkennen wir an, dass sie empfindende Lebewesen sind, denen Unrecht angetan wird (vgl. ebd., S.443). Diese höchst moralische Emotion, auf der ganze Ethiken basieren**, wird nicht für unbelebte Gegenstände, wie Steine und Tische, oder Lebewesen ohne zentrales Nervensystem, wie Pflanzen und Bakterien, empfunden. So scheint die Empfindungsfähigkeit der Tiere einen bedeutenden Grund darzustellen, wieso wir sie anders behandeln als die zuvor Beschriebenen. Demnach brauchen wir eine Ethik, die unseren Umgang mit Tieren regelt, jedoch keine, die einen idealen Umgang mit Steinen oder Bakterien beschreibt.

Wieso der Fähigkeitenansatz Tiere als Subjekte der Gerechtigkeit betrachtet

Zwar stimme es, dass wir Mitleid für Tiere empfinden und dies allein schon für grundlegende Pflichten ihnen gegenüber ausreicht, doch Nussbaums Konzept der Gerechtigkeit reicht darüber hinaus. Mitleid impliziert den Gedanken, dass ein Wesen Leid empfindet, wobei es selbst nicht Schuld an diesem Leid hat (vgl. ebd., S. 456). Dadurch wird die Frage nach dem Schuldtragenden jedoch nicht weiter thematisiert. „Mitleid als solches läßt also etwas ganz Wesentliches außen vor, nämlich daß wir angesichts von moralisch falschem Handeln Vorwürfe erheben, und das ist das erste Problem“ (vgl. ebd., S. 457). Wird das Mitleid mit einem Tier, das an einer Krankheit leidet, und einem Tier, das in einem Schlachthaus gequält wird, verwischt, zieht dies keinen Handlungsbedarf für den Menschen nach sich, der sich so in eine bequeme Untätigkeit begibt. Nussbaum ist mit dieser Rawlsschen Mitleidsposition unzufrieden und definiert Tiere als Subjekte der Gerechtigkeit.

„Wenn ich behaupte, daß die Mißhandlung von Tieren ungerecht ist, will ich damit nicht nur sagen, daß es falsch von uns ist, sie so zu behandeln, sondern auch, daß sie ein Recht oder einen moralischen Anspruch darauf haben, nicht so behandelt zu werden. Es ist ihnen gegenüber unfair“ (ebd., S. 458).

Wenn es stimmt, dass Tiere aktive Wesen sind, die nach etwas streben, dann hätten sie auch einen Anspruch darauf, nach diesem Gut zu streben und sowohl als Subjekte, als auch als Akteure betrachtet und behandelt zu werden. Tiere sind „in dem Maße Subjekte der Gerechtigkeit […], in dem sie als Individuen Leid und Mangel erfahren“ (ebd., S. 485). Unsere Verpflichtungen sollten sich, wie beim Menschen, am Wohlergehen und an der Würde des lebenden Individuums ausrichten (vgl. ebd., S. 484).  

Nun stellt sich die Frage, inwiefern, wenn nicht durch Spezieszugehörigkeit, sondern durch Fähigkeiten, Unterschiede für die elementare Gerechtigkeit unternommen werden können. Dazu gehört nach Nussbaum unter Verweis auf Singer und Bentham die Empfindungsfähigkeit. Eine körperliche Schädigung eines Lebewesens, das diese Schmerzen empfinden kann, ist demnach stets eine Ungerechtigkeit. Dahingegen ist die Tötung eines Schwammes oder Bakteriums ein Schaden, der vernachlässigbar ist. Wenn diese Lebewesen keinen Schmerz empfinden können, haben sie auch nicht das Interesse, Schmerz zu vermeiden, weshalb wir nicht entgegen ihrer Interessen handeln (vgl. ebd., S. 486 f.). Darüber hinaus haben einige Tiere ein erweitertes Bewusstsein über ihr Leben, wodurch sie den eigenen Tod vorausahnen und sich deshalb sorgen können und demnach ein bewusstes Interesse am Weiterleben besitzen. Tiere, die dieses Bewusstsein nicht besitzen, schmerzlos zu töten, wäre damit rechtfertigbar (vgl. ebd., S. 487). Komplexität und Entwicklungsgrad des Individuums entscheiden dementsprechend über die Komplexität der Interessen und unseren Pflichten ihm gegenüber. Dies führt jedoch nicht zu einer Wertehierachie, sondern lediglich zu einer divergierenden Einschätzung dessen, was für ein Lebewesen als Gut oder Schaden eingeschätzt wird. Das Tier wird nicht schlechter behandelt, wenn es kein Bedürfnis nach dem hat, das ihm versagt wird. So wird ein Hase, der nicht Bürgermeister werden darf, oder ein Reh, das kein Recht zur freien Religionsausübung hat, nicht benachteiligt (vgl. ebd., S. 489).

„Ein Lebewesen hat dann einen moralischen Status, wenn es entweder zu Lust und Schmerzen oder zu Emotionen und Zugehörigkeit oder zur Fortbewegung [im aristotelischen Sinne, betrifft keine Einzeller] oder zur Rationalität oder zu … fähig ist (wir könnten hier spielerisches Verhalten, den Gebrauch von Werkzeugen oder anderes einsetzen)“ (ebd., S. 491).

Die Disjunktion wird hier verwendet, da es durchaus denkbar ist, dass es Lebewesen gibt, die zwar intelligent sind, aber keinerlei Lust oder Schmerzen empfinden können. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass der Spezieszugehörigkeit doch eine gewisse Relevanz zukommt. So kann ein Schimpanse besser zu Empathie in der Lage sein als ein Kleinkind oder ein älteres autistisches Kind. Dennoch müssen diesen Kindern die Fähigkeiten des Menschen eingeräumt werden, die durch die Speziesnorm aus charakteristischen Tätigkeiten und Interaktionen bestimmt sind. Sie leben als Teil der menschlichen Gesellschaft und werden entweder in dieser Gemeinschaft gedeihen oder überhaupt nicht, da sie nicht die Wahl besitzen, stattdessen glücklich in der Gemeinschaft der Schimpansen zu gedeihen (vgl. ebd., S. 493 f.). Es müssen also für jede Tierart artspezifische Beschreibungen der zentralen Fähigkeiten erstellt werden, um daran dann die Fähigkeiten des Individuums zu messen und sie entsprechend der Norm zu fördern.

Im Gegensatz zu Utilitaristen, welche Werte bestimmen und diese dann gegeneinander abwägen wollen, stellt sich der Fähigkeitenansatz nicht die Frage der Gleichheit, sondern der Angemessenheit der Ansprüche. Die Gleichheit der Ansprüche auf dieselbe Ressource kann nur durch die Gleichheit der Würde begründet werden (vgl. ebd., S. 515). Allerdings gibt es, wie bereits erläutert, nur Fähigkeiten, die dem Menschen wichtig sind, sodass es zwar eine gleiche Würde unter Menschen gibt (z.B. Religionsfreiheit, freie Meinungsäußerung), aber keine gleiche Würde unter Menschen und Tieren oder unter Tieren verschiedener Spezies. Daraus resultiert jedoch kein Negieren der Ansprüche der Tiere, sondern der konsensfähige Ansatz, dass alle Lebewesen einen Anspruch auf eine angemessene Chance auf ein gedeihliches Leben besitzen (vgl. ebd., S. 518).

Wieso Haustiere, Zoos und Tötungen im Fähigkeitenansatz einen Platz haben

In der Diskussion um Tierrechte wird immer wieder die Frage der Legitimation von Haustierhaltung aufgeworfen. Auch wird häufig die romantisierte Idee von Tieren, die nur glücklich leben würden, wenn sie in Freiheit vom Menschen leben würden, aufgeworfen. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass einige Tierarten seit Jahrtausenden Symbiosen mit dem Menschen eingegangen sind, die dazu geführt haben, dass sie ohne dessen Fürsorge in der freien Wildbahn kein (gedeihliches) Leben führen könnten (vgl. ebd., S. 508). Nussbaum sieht als moralisch vernünftige Alternative die Betrachtung des Haustiers als Freund, welcher die Hilfe eines klugen Vormundes benötigt.

„Wir könnten diese Tiere also so behandeln, wie wir heute Kinder und viele Menschen mit geistigen Behinderungen behandeln, die ja auch über zahlreiche Rechte verfügen und insofern keinesfalls als »bloßer Besitz« zu betrachten sind, obwohl diese Rechte nur durch einen menschlichen Vormund ausgeübt werden können“ (ebd., S. 509).

Diese Idee schließt auch eine gewisse Erziehung des Tieres ein. So wie es als Vernachlässigung angesehen wird, sein Kind nicht zu erziehen und ihm beispielsweise diszipliniert den Toilettengang beizubringen, so verhält es sich auch mit den Tieren, um ihnen ein gedeihliches Leben zu ermöglichen, in dem sie Entscheidungen treffen und Leistungen erbringen können. Dabei sollten die Methoden angemessen und stets frei von Demütigung und Grausamkeit sein. Dementsprechend finden artungerechte Haltung und Leistungen wie die Orca-Shows in SeaWorld keine Rechtfertigung im Fähigkeitenansatz, ein Agility Training eines bewegungsfreudigen Hundes jedoch schon.

Überraschend scheint zunächst, dass für Nussbaum eine Zoohaltung mit dem Fähigkeitenansatz vereinbar sein kann. Bedingung dafür muss sich die Gestaltung des Zoos an den Bedürfnissen der Tiere orientieren. Entspricht die Haltung den durch den Fähigkeitenansatz bestimmten Mindeststandards, könne es einigen Tierarten in Zoos sogar besser gehen als in freier Wildbahn (vgl. ebd., S. 508). Eine gesicherte Trinkwasser- und Nahrungsversorgung, unbeschadeter Lebensraum und stabile Wetterbedingungen sind, unter anderem bedingt durch die voranschreitende menschengemachte Klimakatastrophe, für viele Wildtiere keine Selbstverständlichkeiten mehr (vgl. Jacob, 2014). Zoos seien in der Lage junge Menschen für einen respektvollen Umgang mit Tieren zu sensibilisieren und das Überleben von Arten in auswärtigen Staaten zu sichern, wenn ihre beheimateten Staaten keine entsprechenden Schutzmaßnahmen vornehmen. „Das langfristige Ziel sollte aber immer die Bewahrung zumindest eines Teils des ursprünglichen Lebensraums der Tiere sein, und das ist ohne menschliche Eingriffe nicht möglich“ (Nussbaum, 2018b, S. 508).

Schließlich muss die schwierige Frage der Tötung von Tieren genauer betrachtet werden. Eine Tötung von Tieren, die Schmerzen empfinden können, muss schmerzlos ablaufen. Eine schmerzlose Tötung muss nicht zwingend ein Schaden am Individuum sein, wenn es ansonsten ein Leben in Schmerz und Altersschwäche führen würde. Das Einschläfern eines krebskranken Hundes oder eines Pferdes, das sich aufgrund starker Arthrose nicht mehr schmerzfrei bewegen kann, wäre somit weiterhin kein Unrecht. Das Jagen von Wildtieren ist nur aus Gründen der Populationskontrolle oder Krankheitseindämmung legitimierbar. Spannender wird es jedoch, wenn Tiere betrachtet werden, die selbst Tiere direkt oder indirekt töten. Grundsätzlich ist das Töten keine wertvolle oder förderungswürdige Fähigkeit, jedoch gibt es Raubtiere, die anders ihren Jagdtrieb nicht ausleben können und ansonsten kein gedeihliches Leben führen würden (vgl. ebd., 501 f.).

„Von Menschen können wir erwarten, dass sie lernen, ein gedeihliches Leben zu führen, ohne andere Menschen – und vielleicht auch: ohne allzu viele Tiere – zu töten. Aber ein Löwe wird sehr darunter leiden, wenn er seine Raubtierfähigkeiten nicht ausüben kann, und dieses Leid kann nicht durch Bildung oder kulturelle Anpassung behoben werden“ (ebd., S. 501).

Der Jagdtrieb von Raubtieren in Gefangenschaft wie Hauskatzen oder Tiger in Zoos kann auch durch Spielzeuge oder Bälle befriedigt werden. Eine solche Umsetzung bei Wildtieren wird jedoch eine Wunschvorstellung bleiben. Tiere, die unbewusst, beispielsweise durch Krankheitsübertragungen, andere Tiere töten, stellen einen schwierigeren Fall dar. Liegen sie wie Moskitos unterhalb der Schwelle der Empfindungsfähigkeit, so ist eine Tötung dieser Tiere vertretbar, um andere Lebewesen zu schützen. Bei Tieren oberhalb dieser Schwelle wie Ratten, sollten nichtgewaltsame Methoden, wie das Sterilisieren zum Verhindern einer weiteren Ausbreitung, bevorzugt werden (vgl. ebd., S. 502 f.). Aufgrund der Konsensfähigkeit räumt Nussbaum die Möglichkeit der (schmerzlosen) Tötung von empfindenden Tieren zum Verzehr ein. Jedoch betont sie, dass die in diesem Werk entworfenen Richtlinien lediglich erste veränder- und erweiterbare Grundlagen für eine globale Gerechtigkeit für nicht-menschliche Tiere sind.

Wieso die Fähigkeitenliste nicht vollständig ist

Eine paternalistische Einstellung des Menschen kann kohärent mit der Autonomie einer Spezies im Streben nach einem gedeihlichen Leben vereinbart werden, wenn im Paternalismus die „vielfältigen Weisen, auf die verschiedene Spezies nach einem gedeihlichen Leben streben“ (ebd., S. 507) berücksichtigt werden. Dabei muss stets die bestmögliche Hilfsleistung zur Förderung der Autonomie, ohne die Abhängigkeit vom Menschen zu verstärken angestrebt werden, ansonsten könne man auch alle Tiere in Zoos einsperren. Orientiert an den Fähigkeiten, die sie für den Menschen bereits aufstellte, entwickelt Nussbaum zehn grundlegende Fähigkeiten, zu deren Ausführung nicht-menschliche Tiere befähigt sein sollten. Sie räumt jedoch stets ein, dass die Liste als unvollständig wahrgenommen werden soll, sodass sinnvolle Ergänzungen möglich und erwünscht sind.

Leben: Tiere haben einen Anspruch darauf weiterzuleben, wobei dieser Anspruch unabhängig vom Vorhandensein des Empfindungsvermögens oder eines bewussten Interesses an Todesvermeidung ist. Eine unnötige Tötung von nichtempfindenden Tieren wie das Töten von Schmetterlingen für Schulforschungsprojekte ist illegitim. Liegen jedoch ausreichende Gründe wie der Schutz von Ernten, Menschen oder empfindenden Tieren vor, können die Tiere getötet werden. Eine Tötung von empfindenden Tieren zu Sportzwecken, für Luxusgüter und unter der grausamen Praktik der Fleischindustrie sieht Nussbaum als unvertretbar an. Ein schmerzloser Tod von Tieren zum Fleischverzehr muss, zumindest vorerst, zur Konsensbildung toleriert werden. Nussbaum hofft jedoch, besonders durch Informierung der Konsumierenden, dass zumindest ein Verbot der Schlachtung von Tieren mit komplexeren Empfindungsfähigkeiten durchsetzbar wird.

 „Wenn Menschen ihren Arbeitsplatz in der Fleischindustrie verlieren, dann müssen wir das anders als der Utilitarist nicht berücksichtigen, weil die Betroffenen keinen Anspruch auf einen Job haben, der andere ausbeutet und terrorisiert. Die Tiere hingegen haben gewisse Ansprüche, auf die wir unsere politischen Anstrengungen ausrichten sollten“ (ebd., S. 530).

Körperliche Gesundheit: Tiere haben einen Anspruch darauf, ein gesundes Leben führen zu können. Das impliziert ein „Verbot der Quälerei und Vernachlässigung von Tieren, der Käfighaltung und der schlechten Behandlung in der Fleisch- und Pelzindustrie [und der Milchindustrie] sowie des rauen Umgangs mit Nutztieren (auch in Zirkussen)“ (ebd., S. 530). Dies müsse sich unter anderem in strengen Auflagen bezüglich der Ernährung und des Auflaufes für Zoos und Aquarien äußern.

Körperliche Integrität: Tiere haben einen Anspruch darauf, dass ihre Körper nicht verstümmelt werden, selbst wenn es ihnen keine Schmerzen bereitet, zum Beispiel wenn Hauskatzen die Krallen entfernt werden. Eine Sterilisation zur Populationskontrolle oder Kastration einiger männlicher Tiere wie Hengsten zur Linderung aggressiven Verhaltens seien aber mit dem Fähigkeitenansatz vereinbar (vgl. ebd., S. 531 ff.).

Sinne, Vorstellungskraft und Denken: Tiere haben einen Anspruch auf eine „Sicherung ihres Zugangs zu Quellen der Lust, wie etwa der freien Bewegung in einer Umgebung, die ihren Sinnen zusagt“ (ebd., S. 533 f.). Dazu gehört neben bereits genannten Punkten eine artspezifische Haltung ohne Einsperren, in der Geräumigkeit, Lichtverhältnis und Vielfalt der Gelegenheiten für artspezifische Tätigkeiten den artspezifischen Bedürfnissen entsprechen. Dies beinhaltet ebenfalls den Schutz und Erhalt des natürlichen Lebensraumes, um dem Anspruch auf eine Umwelt, in der die Tiere gedeihen können, gerecht zu werden (vgl. ebd., S. 533 ff.). 

Gefühle, andere Spezies und Zugehörigkeit: Tiere haben einen Anspruch auf lohnende und wechselseitige Beziehungen zu anderen Individuen ihrer eigenen Spezies, Menschen, Pflanzen und zur Welt der Natur. Sie sollten nicht in Isolation leben und benötigen die Möglichkeit des Empfindens und Auslebens aller Emotionen (vgl. ebd., S. 535, 537 f.). Versuche wie die von Seligman zur erlernten Hilfslosigkeit von Hunden seien somit nicht vertretbar. Gewalt innerhalb einer Spezies kann nur bedingt vom Menschen kontrolliert und abgewandt werden. Bei Schäden an Jüngeren, Älteren oder Kranken ist es durchaus geboten, diesen Tieren zu helfen. Gewalt in Form von Machtkämpfen oder Konkurrenzen um sexuelle Vorteile, wie die Hierachiebildung in Pferdeherden, können jedoch vom Menschen nicht beeinflusst werden und sollten entsprechend geduldet werden.

Spiel und Praktische Vernunft: Spielen ist ein wesentlicher Aspekt des Lebens aller empfindenden Lebewesen. Damit sie diesem Bedürfnis nachkommen können, müssen viele der bereits genannten Bedingungen (z.B. stimulierende Umgebung, Bewegungsfreiraum, Möglichkeit zu Beziehungen) erfüllt sein. Die Praktische Vernunft, die als Kategorie von den Menschen übernommen wurde, kann so nicht auf nicht-menschliche Tiere angewandt werden. Die Fähigkeit muss bei jedem Wesen individuell geprüft werden, um es daraufhin darin befördern zu können, sich Ziele zu setzen und sein Leben zu planen (vgl. ebd., S. 536, 538).

Kontrolle über die eigene Umwelt: Tiere sind Teil einer politischen Konzeption, die ihnen Achtung und Gerechtigkeit zusichert, auch wenn sie einen menschlichen Vormund brauchen, um das einzufordern. In Kombination mit den zuvor genannten Fähigkeiten benötigen wir also einen Staat, der in seiner Verfassung nicht-menschliche Tiere als Subjekte der Gerechtigkeit anerkennt und sich verpflichtet, sie als Wesen mit Anspruch auf ein würdevolles Leben zu behandeln, eine Rechtsprechung, die nötigenfalls eine Umsetzung dieser Gesetze einfordert und ein internationales Übereinkommen darüber, dass die Lebensräume von Tieren zu schützen und tierquälerische Praktiken abzuschaffen sind (vgl. ebd., S. 539).

Wieso Nussbaum lesenswert ist

Martha Nussbaum vermittelt in ihren Werken etwas Erfrischendes, was man in Texten vieler ihrer männlichen Kollegen, die traditionellerweise im Universitätsbetrieb rezipiert werden, vermisst: eine sanftmütige Verletzlichkeit. Sie behauptet nicht die einzig wahre Lösung gefunden zu haben und räumt wiederholt den Platz für Ergänzungen ein. Stets um Konsens bemüht, versucht sie trotzdem Idealen zu folgen und verfestigt diese immer weiter in ihrem Fähigkeitenansatz und setzt sich so auf ihrem Fachgebiet für eine bessere Welt ein. Nussbaum hinterfragt das Ideal des Kontraktualismus‘, dass sich eine Gesellschaft als „Kooperation zum gegenseitigen Vorteil“ (ebd., S. 18) zu organisieren habe. Ihre Textästhetik besticht mit Klarheit und Transparenz. FAZ-Autorin Alexandra Kemmerer fasste Nussbaums Schaffen in ihrem Artikel über Grenzen der Gerechtigkeit treffend zusammen: „[G]egen Resignation angesichts immenser Herausforderungen hilft eben nur ein Denken, das Grenzen überschreitet“ (2010). Nussbaum schreibt nicht nur über Gerechtigkeit, ihre Texte vermitteln diese ebenfalls. Das Schreiben für ein großes Publikum macht Nussbaums Texte für jedermann verständlich und büßt trotzdem keinerlei philosophischen Mehrwert ein. Nussbaum versteckt ihre Gedanken nicht hinter verkomplizierten Formulierungen, die nur ein elitäres Publikum verstehen könnte. In ihren Texten wird Philosophie wieder greifbarer, sie stellt sich nicht auf einen erhobenen Sockel, sondern möchte allen zeigen, wie wichtig Philosophie für das Individuum und die Gesellschaft ist und sein kann.

„Für mich geht es darum [bei der Philosophie], ein „geprüftes Leben“ zu führen, bescheiden angesichts der Tatsache, dass wir nur wenig wirklich verstehen, mit der Verpflichtung zu präzisen, wechselseitigen und aufrichtigen Argumenten sowie der Bereitschaft, anderen als gleichberechtigten Partnern zuzuhören und auf das, was sie vorbringen, zu reagieren. Philosophie in dieser sokratischen Form zwingt, bedroht oder verspottet niemanden. Sie kommt nicht mit nackten Behauptungen daher, sondern stellt stattdessen eine Denkstruktur auf, die den Zuhörer Schlussfolgerungen aus Prämissen, die er frei diskutieren kann, ziehen lässt“ (Nussbaum, 2019, S. 29).

* In diesem Blogpost wird sich um die Verwendung genderneutraler Sprache bemüht. In Fällen, in denen dies nicht möglich ist, wird der Gendergap (z.B. Philosoph_innen) verwendet, um auf die Lücke der Benennung hinzuweisen, welche bleibt, wenn Geschlechter/ Identitäten binär dargestellt werden (z.B. Philosophen und Philosophinnen). Auch wenn dies die bessere Lesbarkeit stören sollte, so ist es doch Anspruch dieser Arbeit eine inklusive Sprache zu verwenden.

** Siehe hierzu exemplarisch Schopenhauer, A. (2007). Über die Grundlage der Moral. Hamburg: Felix Meiner. Zu Mitleid mit Tieren äußerte er sich unter anderem wie folgt: „Mitleid mit Thieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Thiere grausam ist, könne kein guter Mensch seyn. Auch zeigt dieses Mitleid sich als aus der selben Quelle mit der gegen Menschen zu übenden Tugend entsprungen“ (§19, S. 141).

Übersicht über wichtige Werke von Matha Nussbaum:

Martha Nussbaum veröffentlichte bereits 24 Monographien und über 450 Artikel (vgl. The University of Chicago, 2020). Zwei weitere Werke über Verantwortung und Versöhnung bei sexuellem Missbrauch und über Gerechtigkeit für nicht-menschliche Tiere werden in Zukunft veröffentlicht (vgl. ebd.). Gemeinsam mit ihrem damaligen Lebenspartner, dem Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen, arbeitete sie in mehreren Werken den von ihm entwickelten Fähigkeitenansatz philosophisch weiter aus. Der Fähigkeitenansatz setzt es sich zum Ziel globale soziale Ungerechtigkeiten zu mindern. Dabei wird nicht auf eine gerechte Verteilung von Gütern geachtet, sondern ein Konzept entwickelt, nach dem Staaten ihren Bürger_innen einen Minimal-Lebensstandard garantieren müssen, um ihnen ein menschenwürdiges oder sogar gutes Leben ermöglichen zu können. Diese Standards orientieren sich an den beobachtbaren Fähigkeiten der Menschen, denen die Freiheit eröffnet werden soll, sich zu entwickeln. Somit hat der Staat die Aufgabe, seinen Bürger_innen alle Möglichkeiten der Fähigkeitenausübung zu eröffnen, allerdings können die Bürger_innen selbst entscheiden, welche Fähigkeiten sie davon ausüben wollen und was sie für sich dementsprechend als gutes Leben definieren möchten (vgl. exemplarisch Nussbaum, 2018a, S. 182-204). Die Entwicklung eines nicht-präskriptiven, universalistischen, neoaristotelischen Entwurfes einer Befähigung zum guten Leben beeinflusste nicht zuletzt die Weiterentwicklung des Human Development Index‘ der Vereinten Nationen (vgl. Berggruen Institute, 2020). In einem ihrer neusten Werke Königreich der Angst: Gedanken zur aktuellen politischen Lage setzt sich Nussbaum ausgelöst durch den Wahlsieg Trumps mit der gefährlichen Macht, die die Angst über die Demokratie besitzt, auseinander (vgl. Nussbaum, 2019). In diesem Werk vertritt sie die These, dass Angst, egal auf welcher Seite des politischen Spektrums, demokratiegefährdend ist und stellt Überlegungen auf, wie trotz divergierender Meinungen eine Gesellschaft wieder zueinanderfinden kann.

Literaturverzeichnis:

Berggruen Institute (2020). Berggruen Prize for Philosophy and Culture. Verfügbar unter https://www.berggruen.org/prize/ [10.07.2020].

Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (2015). Presseinformation.

Jacob, Klaus (2014). Die sechste Katastrophe.

Kemmerer, A. (2010). Martha Nussbaum: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Gelingen kann das Leben nur gemeinsam.

Kyoto Prize (2016). Laureates by Categories.

Nussbaum, M. C. (1997). Cultivating Humanity. A Classical Defense Of Reform In Liberal Education. Cambridge / London: Harvard University Press.

Nussbaum, M.C. (2018a). Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Gender Studies (10.Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Nussbaum, M.C. (2018b). Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit (2. Aufl.). Berlin: Suhrkamp.

Nussbaum, M.C. (2019). Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Lage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

The University of Chicago (2020). Martha C. Nussbaum. Verfügbar unter https://www.law.uchicago.edu/faculty/nussbaum [08.07.2020].

Zeit Online (2020). “Tägliches T-Bone-Steak ist kein Menschenrecht“.

Bildquellen:

By Robin Holland (website) – Photo file provided by Robin Holland, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11852982

https://www.suhrkamp.de/buecher/die_grenzen_der_gerechtigkeit-martha_c_nussbaum_58554.html

Eine Antwort auf „Martha Nussbaum“

  1. Meine Frage die sich mir aus Nussbaums interessanten Texten stellt ist, was sie zu Rache und Militanz bei Unterdrückten sagen würde? Kann sie sich umgekehrte Machtverhältnisse vorstellen und sieht diese gerechtfertigt, durch vorangegangene Leiden – wenn nein, warum sollte es nicht gerechtfertigt sein, wenn bspw. Schweine, Kühe usw. – vorausgesetzt sie erhalten die nicht genauer definierte Rachechance – dann ihre Peiniger foltern und töten?

    Beste Grüße

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