Agnes Heller
(Autor: Lennart Kuhns)
Biographie:
Agnes Heller war eine ungarische Philosophin des 20. Jahrhunderts. Sie wurde 1929 in Budapest geboren. Nach der Besetzung Ungarns durch Nazi-Deutschland entkam sie nur knapp der Deportation und überlebte dadurch den Holocaust. Nach dem zweiten Weltkrieg studierte sie 1947 zunächst Chemie und Physik in Budapest, bevor sie sich nach einer Vorlesung von George Lukács dazu entschloss, bei ihm Philosophie zu studieren. 1955 promovierte sie bei Lukács und wurde seine Assistentin. Durch ein Zerwürfnis und eine damit verbundene Kritik der Kommunistischen Partei emigrierte Heller 1977 von Budapest nach Australien, um einer weiteren Zensur und Unterdrückung zu entgehen.
1986 wurde sie auf den Lehrstuhl für politische Philosophie in New York berufen, den auch schon Hannah Ahrendt innehatte. Am 19. Juli 2019 starb Agnes Heller im Alter von 90 Jahren in Balatonalmádi, einer kleinen Stadt in Ungarn. Auch noch im hohen Alter war sie politisch aktiv, gab Interviews, in denen sie sich gegen die rechtspopulistische Regierung von Victor Orbán aussprach, betreute Promotionen, trat mit ihrer Meinung in die Öffentlichkeit und erstaunte immer wieder mit ihrer klaren, konsequenten Art. So ist es nicht verwunderlich, dass ihre Werke noch heute von internationalem Publikum gelesen und diskutiert werden. Ihr Wirken erstreckt sich in einer bunten Bandbreite von Bereichen der Anthropologie über Systemkritik hin zu einer fundierten politischen Philosophie, die Hellers Hauptgebiet war. Auch zu tagespolitischem Geschehen in Europa äußerte sich Heller oft kritisch. So wurde sie bis zu ihrem Tod als schärfste Kritikerin von Victor Orbán bezeichnet. In einem Interview der Süddeutschen Zeitung (Münch 2018) sagte sie zu den Wahlen und der demokratischen Situation in Ungarn:
„[…] Wir leben nicht mehr in einer Klassengesellschaft, in der man ein Einparteiensystem errichten muss, um eine Diktatur zu haben. Heute leben wir in einer Massengesellschaft, da hat man freie Wahlen und es wird immer derselbe Mann gewählt. Auch Putin und Erdoğan lassen wählen. Der einzige Unterschied in Ungarn ist, dass die Bevölkerung jetzt die Möglichkeit hat – vielleicht die letzte Möglichkeit – sich gegen die Diktatur zu entscheiden“. (Münch, Interview mit Agnes Heller 2018)
Die Macht des Menschen über sein eigenes Sein und Wirken entscheiden zu können, ist eine der Kernbotschaften, welche Agnes Heller immer wieder aufgreift und zu den zentralen Thesen ihrer Werke gehören. In einem weiteren Interview, ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung erschienen, äußerte sie folgenden Satz, der für Hellers Charakter meines Erachtens bezeichnend ist:
„Sie fragen, als ob das Leben ein Rätsel wäre, das man lösen könnte. Der Sinn des Lebens ist zu leben. Wir sind in die Welt geworfen, es gibt keine alternative Geschichte.“ (Haberl, Interview mit Agnes Heller 2014)
Müsste man Agnes Heller also in zwei Worten beschreiben, so würde man wahrscheinlich, ohne sie persönlich zu kennen, „intellektuell“ und „selbstbewusst“ nennen. Der Charakter von Agnes Heller ist nicht nur ebenso vielseitig wie ihre Philosophie und ihr Leben, sondern gleichermaßen interessant, weshalb es kaum möglich ist, eine abschließende Darstellung ihres Lebens und ihrer Philosophie zu leisten. Im Folgenden sollen nun die Philosophie und das Denken von Agnes Heller anhand ihres Erstlingswerkes „Der Mensch der Renaissance“ kurz dargestellt werden. Dieses bietet sich als Einstieg in die Auseinandersetzung mit der Philosophie von Agnes Heller an, da Heller hier nicht nur auf exemplarische Weise ihr Weltbild darlegt, sondern zudem einen Einblick in die Art und Weise gibt, wie sie in ihren Analysen vorgeht.
„Nein. Der Feminismus ist ein Ismus, und Sie können sich vorstellen, warum ich nie wieder Teil eines Ismus sein möchte. Solange ich lebe, habe ich gegen Unterdrückung protestiert, egal ob sie von einem Mann, einer Frau oder einer Partei ausging. Meine erste Ehe ist an dieser Haltung gescheitert.“
Agnes Heller
Vorstellung des Werk der Mensch in der Renaissance
In „Der Mensch der Renaissance“ widmet sich Heller einem Begriff des Menschen, der anders als oft praktiziert ein dynamischer ist und sucht nach einer Art „Motiv“ dieser stetigen Dynamik und dem, was sie auslöste. Sie begründet diese „Dynamik“ mit einer Veränderung des Verhältnisses von Individuum (bzw. Mensch[heit]) und Gesellschaft.
Der Titel des Werks greift außerdem den Gedanken einer „Renaissance des Marxismus“ auf, den Heller zusammen mit Georg Lukács verfolgte und entwickelte (Heller 1982, S. 513). Dabei geht es weniger um eine Rückkehr zum marxistischen Denken, sondern eher um eine Befreiung vom institutionalisierten Marxismus, von allen dogmatischen Voraussetzungen (Heller 1982, S. 513). Grundgedanke ist hier die (bewusste) Gestaltung der Geschichte des Menschen. Der Mensch (oder das Individuum) kann durch seine Bestrebungen, sein Sein, sein Wirken eine eigene Geschichte wählen und beeinflussen, so Hellers Grundgedanke (Heller 1982, S. 511). Damit nimmt Heller eine Gegenposition zu der Vorstellung eines universalistischen Geschichtsbegriffs ein, dem zufolge Geschichte als ein fortlaufender, bereits „geschehender“, nicht bewusst beinflussbarer Prozess verstanden wird. Um diese Gegenposition zu entwickeln und zu untermauern, beginnt Heller in „Der Mensch der Renaissance“ das Verhältnis von Menschen und Gesellschaft als ein dynamisches zu beschreiben und zu begründen. Die Renaissance als Epoche stellt die Ausgangssituation ihrer Betrachtungen dar. In der Renaissance, so Heller, gelangte „die Menschheit als Menschheit zum ersten Mal […] [zu ihrem] Selbstbewusstsein“ (Heller 1982, S. 511 Z. 24-25) und damit zu einem dynamischen Menschheitsbegriff. Die Entwicklungsgeschichten von Individuum und Gesellschaft können nun als getrennt voneinander geschehende Prozesse betrachtet werden und sind damit dynamisch, „Vergangenheit, und Zukunft erscheinen [nun] als Schöpfung der Menschheit“ (Heller 1982, S. 7). Als Ursache dieser Veränderung nennt Heller den Wandel der ökonomischen Verhältnisse in der Renaissance, der sich dann auf die ganze Welt ausbreitete. Mit diesem Bild steigt sie in ihr Werk ein und erläutert die Hintergründe sowie die Fragen und Konsequenzen, die daraus für den Menschen als Mensch resultieren.
Der Umbruch von Feudalismus zum Kapitalismus (Heller 1982, S. 8) ist es, der als langwieriger Prozess die Renaissance als gesamtgesellschaftlichen Prozess tangiert und damit auch die Veränderungen im Selbstbewusstsein der Menschheit hervorruft (Heller 1982, S. 8-9). Die Renaissance als „Morgendämmerung“ (Heller 1982, S. 10) des Kapitalismus ist es demnach, die die als natürlich betrachteten Verhältnisse zersetzt und damit eine Klassengesellschaft, also ein Verhältnis von Klassen und Gesellschaft und ein Verhältnis von Individuum und Klassen, erzeugte. Doch inwiefern hängt dies mit einem dynamischen Menschheitsbegriff zusammen?
Nun, durch die von Heller beschriebenen Veränderung der bestehenden feudalen Strukturen hin zu einer kapitalistischen Klassengesellschaft ist das Dasein des Individuums Produkt seiner selbst (Heller 1982, S. 11) und damit dynamisch. Das Auflösen der Ständegesellschaft hätte dazu geführt, dass der Mensch in die Situation geraten wäre, über sich selbst und die Welt anders denken zu müssen (Heller 1982, S. 12). Sämtliche Vorstellungen über den Menschen würden dadurch dynamisch; die feste Struktur des Feudalismus würde durch den prozesshaften, sich stetig „erneuernden“ Kapitalismus ersetzt, der mit einem dynamisierten normativen Menschheitsbegriff einhergehe. Mit dieser historisch-marxistischen Betrachtung wird im weiteren Verlauf des Werks nun die ungleiche Entwicklung zwischen der Gesellschaft auf der einen Seite und den Individuen auf der anderen Seite betrachtet.
Heller legt hier die Ursache in die ungleiche Entwicklung der Produktivkräfte. Durch die national und international unterschiedliche Beschleunigung dieser Produktivkräfte kommt es zu „[…] grundverschiedenen Wege[n] und Formen in der Entstehung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse […]“ (Heller 1982, S. 32). Die daraus resultierende Charakteristik beeinflusst nicht nur den Nationalcharakter einer Nation, sondern eben auch die kulturellen Eigenheiten, also Vorstellungen, Lebensweisen, Glaubensformen etc. und dadurch die gesamte Gesellschaft sowie die Individuen, die sich in ihr organisieren und mit ihr identifizieren.
An dieser Stelle ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, was Heller mit ihrem Werk zeigen möchte. Sie sucht einen allgemeinen Begriff des Menschen, der zugleich seiner historischen Situation entspricht. Dieses Allgemeine ist keineswegs als normatives Element zu verstehen, sondern als eine ursächliche Beschreibung der Dynamik des Menschen. Dafür zeigt sie, wie sich eine Dynamik innerhalb des Menschheitsbegriffs äußert. Um diese Dynamik zu erklären, betrachtet sie zunächst das, was sie erzeugt, die Veränderung/Beschleunigung der Produktion. Der nächste Schritt Hellers ist es, die gesellschaftlichen Prozesse zu betrachten, die sich eben auch von Nation zu Nation unterscheiden. Dieser Schritt mag – daher die Erklärung – zunächst einmal willkürlich erscheinen, dennoch stellt er einen wichtigen dar, zumal dieses Vorgehen erklärt, wie es zu historisch unterschiedlichen Vorstellungen von Individuen und Gesellschaft und einer daraus resultierenden Kultur kommt und warum der Prozess nicht überall gleichermaßen schnell verläuft.
Diese Entwicklungen untermauert Heller zudem immer wieder mit historischen Beispielen, die nicht nur die Veränderung der Produktionsverhältnisse in der jeweiligen Zeit in den Blick nehmen, sondern auch das Denken, die Ideale und Vorstellungen der Menschen, die sich ebenfalls verändern.
Dies führt Heller zu einem weiteren Problem, welches das weitere inhaltliche Vorgehen stark beeinflusst. Sie beginnt in kleinschrittiger Weise, die Fragestellungen, die aus einer historischen Betrachtung einer solchen Dynamik hervorgehen, zu beantworten. Die grundsätzliche Frage, die hier eine übergeordnete Rolle spielt, ist die nach einem allgemeinen Menschheitsbegriff, der die Ungleichzeitigkeit, die Dynamik der Menschen berücksichtigt. Wie kann es einen allgemeinen Menschheitsbegriff geben, ein Ideal, das jedem Individuum freie Entfaltung ermöglicht und dennoch allgemein ist, wenn die Voraussetzungen, die Situationen, das Denken der Menschen so unterschiedlich sind? Um diese Frage zu untersuchen, wirft Heller zunächst einen Blick in die Antike, zum Stoizismus und Epikureismus (Heller 1982, S. 113).
Bezugnehmend auf diese beiden antiken philosophischen Richtungen beschreibt Heller bei diesen noch eine Einheit von Weltbild und praktischer Konsequenz. Der Stoizismus und Epikureismus nehmen hier eine Sonderrolle ein, da sie sich als zwei der wenigen philosophischen Richtungen auf „jedermann in gleicher Weise“ beziehen und es keine „prinzipiellen Unterschiede zwischen Philosophen und Nichtphilosophen gibt“ (Heller 1982, S. 113). Man könnte also sagen, eine klassenlose „allgemeine“ Philosophie ist hier vorzufinden. Diese Besonderheit zeigt sich insbesondere in den Weltbildern des Stoizismus und Epikureismus. Beide verweisen auf eine individuelle Antwort zu der Frage nach dem Sinn des Lebens bzw. zu der Frage: Wie soll man leben? (Heller 1982, S. 115). Diese Frage würde sich nach dem Scheitern der aristotelischen und platonischen Staatenlehre (Heller 1982, S. 115) nur noch auf zweit Arten lösen lassen. Beide dieser Lösungen wenden sich von der Gemeinschaft ab und beziehen sich auf das Individuum. Eine, so Heller, ist eine ontologisch-systematische, die die Frage nach dem Sinn des Lebens ideologisch klärt. Als Beispiel führt Heller hier das frühe Christentum und die (Neo-)Platoniker an. Die andere Lösung hingegen bezieht sich auf die Autonomie des Individuums, auf seine Freiheit und die bewusste Wahl von Alternativen, eine Forderung nach Selbstbefreiung also. Die Frage des Stoizismus und Epikureismus ist demnach die folgende:
„Wie soll das Individuum als freier (autonomer) Mensch in einer von ihm unabhängigen, eigengesetzlichen Welt (in der Natur und in der Gesellschaft leben), zu deren Gesetzt der Tod […] notwendigerweise dazu gehört“ (Heller 1982, S. 117)
Doch was ist von diesem Anspruch, dieser „Attitüde“ (Heller 1982, S. 114), geblieben, wo sie doch eine Antwort auf Hellers Fragestellung zu geben scheint. Wenn man der Darstellung von Heller folgt, nicht viel. Sie schreibt dazu:
„Die verschiedenen Verhaltensreaktionen der verschiedenen Stoiker sind bekannt. Es mag genügen, wenn wir hier auf Seneca bzw. auf Mark Aurel verweisen: Seneca wird […] zum Selbstmord gezwungen, Mark Aurel […] [wird] Kaiser.“ (Heller 1982, S. 117)
Die Griechen gaben Heller also keine Antwort auf ihre Frage, dennoch blieb eine Botschaft, so Heller, die zur Grundprämisse vieler späterer philosophischen Vorstellungen wurde: Der Mensch habe die Verantwortung für sein eigenes Handeln zu tragen (Heller 1982, S. 118).
Zieht man an dieser Stelle ein kleines Resümee zu Hellers Werk „Der Mensch der Renaissance“, kann man zu dem Schluss kommen, dass sie eine Art marxistischen Individualismus hergeleitet hat. Diese Schlussfolgerung würde auch zunächst einmal zur Person Agnes Hellers passen. Wirft man hier wieder einen Blick in einige Interviews, gewinnt man eben den Eindruck, dass Heller die Maxime eines freien, autonomen Individuums vollends auslebt. Sie besitzt, so scheint es, eine „stoische“ Konsequenz. Auch das eingangs bereits dargestellte Zitat über den Sinn des Lebens würde in diese „stoische“ Haltung passen.
Doch ist das schon das Ziel, ein Individualismus? Wie passt dieser mit einer begrenzten und bestimmten Welt zusammen?
Diesem Konflikt tritt Heller im dritten Kapitel ihres Werkes „Der Mensch der Renaissance“ entgegen. In diesem Kapitel mit dem treffenden Titel „Individualität, Menschenkenntnis, Selbsterkenntnis, Autobiographie“ (Heller 1982, S. 220) greift sie den Begriff der Individualität bzw. des Individualismus auf. Dieser ist, so Heller, ebenfalls ein Produkt einer historischen Entwicklung (Heller 1982, S. 221). Die Art und Entfaltung der Individualität ist damit immer im Kontext der Zeit und damit als eine besondere Art der Individualität (Heller 1982, S. 221) zu sehen. Individualität und die Möglichkeit ihrer Entfaltung würden daher nur in der Auseinandersetzung mit den Aufgaben, die die Gesellschaft erteilt und in ihr mündend (Heller 1982, S. 222) geschehen, also immer im Verhältnis zu einer Gesellschaft. Im Zentrum der Bewältigung dieser Aufgaben stehe das Individuum mit seinen Fähigkeiten und seiner Energie. Durch die Trennung von Weltbild und praktischer Konsequenz sowie infolge der historisch daraus gewachsenen Autonomie des Individuums entstehe eine „nichtgemeinschaftliche Gemeinschaftsstruktur“ (Heller 1982, S. 222), die dazu führe, dass das Individuum in seiner Entfaltung in stetiger Konkurrenz zu anderen stehe. Die Folge dieser Struktur ist ein Egoismus, welcher nicht per se mit einem egozentrischen, moralisch negativen Egoismus gleichzusetzen ist. Vielmehr stelle der gemeinte Egoismus eher einen schöpferischen Egoismus dar, der ein „Werk“ zum Ziel habe (Heller 1982, S. 223).
Damit verweist Heller auf das Gestalterische, das aktiv Beeinflussende des Menschen. Diese Gestaltung ist aber immer in Verbindung mit der Verwirklichung des Individuums zu sehen, da das Werk das Werk des Individuums und seine Realisierung damit untrennbar von ihm zu betrachten ist. Das Werk des Individuums wird hier zum Zweck des Individuums selbst (Heller 1982, S. 223) und stellt dennoch immer eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft dar. Dieser Schritt ist bei Heller entscheidend, da sie nun die Idee einer „nichtgemeinschaftlichen Gemeinschaftsstruktur“ mit dem eigentlich schöpferischen Antrieb des Individuums verbindet. Um diesen Schritt nachzuvollziehen, blicke ich nochmal zu dem, was ich am Anfang dieses Beitrages festgestellt habe. Dort beschreibt Heller eine Veränderung der Gesellschaft vom feudalen hin zu einem kapitalistischen „System“, was auch eine Veränderung der Werte, Ideale und Möglichkeiten bedeutet. Jedem Individuum war es nun theoretisch möglich, sich vollends zu entfalten. Dies habe nicht nur die Konkurrenz erhöht, sondern auch eine Varianz in den Zielen erzeugt. Die neuen Formen des Erfolgs würden sich nun von Geld über Ruhm hin zum bloßen „Werk“ erstrecken (Heller 1982, S. 224) und nicht mehr gesellschaftlich orientiert sein (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). So wurde bspw. „die Verwirklichung und Selbstgenuss der Persönlichkeit“ (Heller 1982, S. 224) in der Renaissance zum Ziel eines gelungenen Lebens. Wichtig wäre es also, eine Hierarchie innerhalb dieser Zielsetzung zu finden. Das Werk, also die Sache, das Selbst, sollte vor Geld und Ruhm stehen.
Diesen schon fast „esoterisch“ angehauchten Aufruf zur Selbstfindung behandelt Heller nun unter den uns durch die Kapitelüberschrift bereits bekannten Stichpunkten der Menschenkenntnis und der Selbsterkenntnis. Dieser sehr entscheidende Teil ihres Werks, der den Umgang des Individuums mit dem historisch entstandenen Egoismus behandelt, stellt zugleich den langatmigsten Part des „Menschen der Renaissance“ dar. Die historischen Beispiele, so treffend und notwendig sie für die Stichhaltigkeit ihrer Argumentation auch sind, führen zu einer Überlagerung dessen, was Gegenstand ihrer Erläuterung ist. Dabei formuliert sie diesen zu Beginn des Kapitels in der Überschrift sehr genau: die Bedeutung von Menschenkenntnis und Selbsterkenntnis, ist es die entscheidend für den Umgang mit dem entstehenden Egoismus ist. Durch eine Loslösung des Menschen bzw. des Individuums von seinen feudalen Fesseln müsse ein neues Instrument geschaffen werden, um es dem Individuum zu ermöglichen, sich in den neuen gesellschaftlichen Rollen zu verorten. Zum Entstehen dieser Rollen gehört nicht nur die Auflösung des feudalen Aufbaus einer Gesellschaft von „er war der, der er durch Geburt war“ (Heller 1982, S. 232), sondern auch ein damit einhergehendes neues Rollenverhalten. Zu diesem gehöre notwendigerweise das Zersetzen der Gemeinschaft durch den Kapitalismus, da dieser eine Trennung von Individuum, dessen Rolle und Gesellschaft erzeugt. Die Gemeinschaft und damit auch die Gesellschaft würden dadurch zerstört, weil die Rolle des Individuums nicht durch dessen Verhältnis zur Gesellschaft erzeugt werde, sondern durch den Platz innerhalb der Arbeitsteilung, also ökonomisch bedingt wird (Heller 1982, S. 232). Damit wird die Entfaltung des Individuums von dieser Rolle getrennt und eine Trennung der Entfaltung des Individuums über die Gesellschaft realisiert. Kurz gesagt, das Individuum entfaltet sich unabhängig von einer Gemeinschaft und spielt nur noch eine ihm durch die Produktionsverhältnisse zugewiesene Rolle (Heller 1982, S. 233).
Die Bedeutung der Menschenkenntnis als Kenntnis von unterschiedlichem Rollenverhalten und der Betrachtung des gesamten Charakters (Rolle ([Äußeres] und Individuum [Inneres, Privates]) ist demnach zur Einordnung des eigenen Charakters in Verbindung mit der Selbsterkenntnis der neue Weg, sich selbst in der Gesellschaft zu verorten. Da die Welt immer individueller und damit relativer wird (Heller 1982, S. 231), ist es zunehmend diffizil, einen allgemeinen Menschheitsbegriff zu formulieren. Das frühe Renaissance-Ideal eines autonomen und freien Individuums verkümmert zu einem sich zwischen einem Individuum und Rolle (Heller 1982, S.232) befindenden Wesen. Es entsteht ein neuer Konflikt zwischen individueller Entfaltung und Gesellschaft. Diese weitere Auseinandersetzung und die Auflösung des Konfliktes sollen aber einer vollständigen Lektüre von Agnes Hellers Werk „Der Mensch der Renaissance“ nicht vorweggenommen werden. Fassen wir daher an dieser Stelle nur einmal kurz zusammen, was die hier betrachteten Kernthesen von Hellers Werk waren:
Durch die Auflösung der Ständegesellschaft in der Epoche der Renaissance entstand ein neues Menschenideal, das durch Freiheit und Autonomie des Individuums geprägt war.
Dieses positive Ideal wurde durch die Dynamik der kapitalistischen Produktion beschleunigt und separierte die Entfaltung des Individuums von der Gesellschaft.
Die Loslösung von individueller Entfaltung und gesellschaftlicher Rolle führte zu einer Zersetzung des Gedankens der Gemeinschaft.
Betrachtet man diese drei Punkte, so scheint Heller hier einen Aspekt aufzugreifen, der heute so aktuell ist wie nie zuvor. Das hier Erläuterte bietet meines Erachtens eine Erklärung für die Entstehung eines „Individualismus“, der insbesondere auf die Gestaltung einer Gesellschaft Auswirkungen hat. Dabei geht es weniger um die Frage nach politischer Partizipation als solcher, sondern vielmehr darum, wie Gesellschaft bzw. Gemeinschaft gestaltet werden sollen. Ideen, Werte und deren Konsequenzen sind es, die auschlaggebend für eine Gesellschaft sind. Wahlen sind der letzte, keinesfalls unbedeutende Akt dieser Gestaltung. Der Prozess des Auseinandersetzens mit Werten und das Verstehen dieser Werte sind es aber, die für eine Gesellschaft entscheidend sind. Diese Art der Gestaltung ermöglicht eine Auflösung des Verhältnisses von Individuum und Rolle sowie eine Entwicklung zum eigentlichen freien und autonomen Individuum, welches für sich bestimmen kann, was es ist, ohne eine Rolle einnehmen zu müssen, die durch eine Gesellschaft bestimmt bzw. vorbestimmt wurde. Heller hat mit der Erläuterung des Renaissance-Ideals und dessen „Verkümmerung“ einen Wandel der Werte des gesellschaftlichen Bewusstseins beschrieben. Diese Impulse, die Beschreibung und die Analyse des Wandels sind es, die die politische Philosophie von Agnes Heller bis heute interessant und lesenswert halten.
„Ich ziehe Energie und Glück daraus. Es ist mein Charakter, meine Natur. Und solange ich im Einklang mit meinem Charakter handle, fühlt es sich richtig an. Wer anfängt, sich selbst zu belügen, wird notwendigerweise unglücklich […].“ (Haberl, Interview mit Agnes Heller 2014)
Heller greift daher in „Menschen der Renaissance“ Aspekte auf, die heute noch die philosophischen Debatten um den Begriff der Identität und das Individuum bestimmen. Insbesondere das, was Heller unter dem Motiv der Dynamik fasst, ist hier entscheidend. All diese Diskussionen und Theorien haben heute trotz ihrer Differenzen noch eines gemeinsam: Sie sind noch nicht abgeschlossen und vollständig geklärt.
Ihr Ergebnis fast Heller im letzten Absatz ihres Werkes zusammen:
„Die Revolution der Renaissance erweist sich als eine Revolution des Menschenbegriffs. Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit werden gemeinsam zu einer anthropologischen Kategorie […].Diese Philosophie forscht in einer neuen Richtung: Sie sucht das Motiv, das den Menschen zum Schöpferischen veranlasst. Dieses Motiv, das nun weder erhaben, noch moralisch, noch großzügig ist findet sie in der tatsächlichen Motivation des bürgerlichen Individuums: im Egoismus.“ (Heller 1982, S. 511-512)
Die vorausgegangenen Erläuterungen haben hoffentlich dazu beigetragen, die Grundzüge ihres Hauptwerks zu verstehen und einen kleinen Einblick in die Philosophie und die Persönlichkeit von Agnes Heller zu erlangen.
Ausblick
So mancher Leser mag sich nun die Frage stellen, warum man gerade Agnes Heller lesen sollte und vor allem „Der Mensch der Renaissance“. Nun, zum einen bietet Heller ein breites Spektrum an Antworten auf heute noch aktuelle Fragen, wie etwa nach der Identität des Individuums oder dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Auch, wenn sie im „Menschen der Renaissance“ eher zu einem pessimistischen Ergebnis kam, kann man gerade aus ihren Analysen viele Antworten und Impulse ableiten, um sich mit diesen aktuellen Fragen auseinanderzusetzen. Ihr Erklärstil ist trotz der inhaltlichen Dichte sehr klar und verständlich, bis auf einige wenige Passagen. Zum anderen findet man in diesem Werk meines Erachtens viel von der Persönlichkeit Agnes Heller wieder, welche ebenso lehrreich wie interessant ist. Gerade im „Menschen der Renaissance“ arbeitet sie mit vielen historischen Exkursen, die dem Leser ein stetiges praktisches Verständnis ermöglichen und dadurch eine Reflexion mit realen Strukturen erzeugen. Dieses Vorgehen führt zwar manchmal zu dem Gefühl eines zu großen inhaltlichen Exkurses, zeigt aber eben auch, welche Dynamik hinter dem Denken und Handeln der Menschen steht. Diese Dynamik und das Prozesshafte im Leben des Menschen sind es auch, die sich immer wieder in den Vordergrund ihres Werkes drängen und einen stillen Appell an den Leser erzeugen, der zum Nachdenken und bewussten Wahrnehmen dieses Prozesses angehalten wird.
Im Nachwort ihres Erstlingswerks weist sie abschließend darauf hin, dass auch sie sich entwickelt habe und einige der Schlussfolgerungen heute unter neuen Gesichtspunkten anders gewichten würde (Heller 1982, S. 513). Dennoch stehe sie heute noch vollends hinter der Botschaft ihres Erstlingswerks „Der Mensch der Renaissance“ (Heller 1982, S. 514). Abschließend dazu lässt sich also an dieser Stelle sagen, dass sich eine Auseinandersetzung mit Agnes Heller auch heute noch lohnt und ihr Beitrag zur politischen Philosophie in keiner Weise an Bedeutung verloren hat.
Literaturverzeichnis:
Haberl, Tobias: „Der Sinn des Lebens ist zu leben: Interview mit Agnes Heller“ Süddeutsche Zeitung, 29. Januar 2014: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/literatur/der-sinn-des-lebens-ist-zu-leben-80204. [letzter Zugriff 29.07.2020]
Heller, Agnes: „Der Mensch der Renaissance“. Hohenheim Verlag, Köln-Lövenicht 1982.
Münch, Peter: „Orbáns ganze Politik ist auf Lügen aufgebaut: Interview mit Agnes Heller“ Süddeutsche Zeitung, 6. April 2018: https://www.sueddeutsche.de/politik/ungarns-premier-orban-seine-ganze-politik-ist-auf-luegen-aufgebaut-1.3933083. [letzter Zugriff 29.07.2020]
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