Nancy Fraser
(Autor: Julian Heckert)
Biographie:
Nancy Fraser, am 20. Mai 1947 in Baltimore geboren, ist eine amerikanische Philosophin, die sich in einem großen Teil ihrer Werke mit der kritischen Theorie, Post-strukturalismus und feministischer Philosophie auseinandersetzt. Sie ist Professorin für Philosophie an der 1919 gegründeten New School in New York und Präsidentin der American Philosophical Association Eastern Division. Neben einigen Ehrendoktortitel verschiedenster Universitäten wurde ihr 2010 der Alfred Schutz Preis in Sozialphilosophie von der American Philosophical Association verliehen. Fraser ist hauptsächlich bekannt für ihre Werke über Gerechtigkeitskonzepte und ihre Kritik an Identitätspolitik und liberalem Feminismus.
Vorstellung des Werks die halbierte Gerechtigkeit:
„Meine leitende Problemstellung für alle Kapitel ist ein Durchdenken der „postsozialistischen“ Situation, in der Hoffnung, auf der anderen Seite des Tunnels Licht zu sehen. Natürlich können wir nicht genau wissen, was uns auf der anderen Seite erwartet. Wir können aber sehr wohl einem ideologischen Druck standhalten, der die Möglichkeiten vorzeitig beschränken würde. […] Das Ziel sollte darin bestehen, einem anderen „Postsozialismus“ den Weg zu bereiten, einem Postsozialismus, der in sich vereint, was am sozialistischen Projekt unübertroffen ist und was an der Politik der Anerkennung überzeugend und verteidigenswert ist.“ – (Fraser 2001, S.19f.)
Was ist eine „Postsozialistische Situation“?
Nancy Fraser unterstellt in ihrer Monografie „Die halbierte Gerechtigkeit“ eine „postsozialistische Situation“ im politischen Denken der USA nach 1989. Sie umreißt diese Idee als Stimmungsbild linker TheoretikerInnen, dass von „authentischen Zweifeln“ an den Möglichkeiten sozialen Wandels, jedoch auch von ideologischen Elementen, durchzogen ist und versucht jene ideologischen Elemente zu entwirren, um so den identitären Freiflug linker Argumentation als Antwort auf neoliberale Ansätze wieder fruchtbar zu machen. Sie setzt postsozialistischen Strukturen drei konstitutive Grundzüge voraus.
Zuerst unterstellt sie einen Mangel an fortschrittlichen Visionen als Antwort auf konventionelle Modelle. Das Fehlen einer glaubwürdigen Alternative zu momentanen Gesellschaftsstrukturen begründet Fraser in der ideologischen Situation kapitalistischer Gesellschaften nach dem Zusammenbruch sozialistischer Regime. In diesem Kontext beobachtet sie das Wegbrechen bereits etablierter Institutionen und Ideale, die sozialistischen Strömungen förderlich waren und unterstellt eine „Erschöpfung utopischer Energien“ und das Ausklammern von ökonomischen Gesellschaftsstrukturen in modernen linken Argumentationen wie „multikulti“ oder „radikaler Demokratie“.
Zweitens führt sie eine veränderte Art der Formulierung von Forderungen linker Strömungen als Grund für diese Situation an. Während klassische linke Strömungen für soziale Gleichheit und Umverteilung argumentiert oder Klassenkampf gefordert haben, sei heute der Ruf nach Gruppendifferenz und Anerkennung lauter geworden. Ein Wandel der politischen Vorstellungen weg von der Verteidigung z.B. der Arbeiterklasse gegenüber Ausbeutung und ungerechter Verteilung und hin zur Anerkennung von Gruppen und Minderheiten und deren Erhebung oder Gleichstellung sei zu beobachten, der eine Entkopplung von Kultur- und Sozialpolitik nach sich zieht. In dieser vermeintlichen Unvereinbarkeit von Kultur- und Sozialpolitik, oder auch Klassen- und Identitätspolitik, sieht Fraser eine falsche Antithese, die aus dem Wechsel von der Umverteilung zur Anerkennung resultiere. Es entstehe der Eindruck, Kämpfe zur Umverteilung seien nicht mehr notwendig oder Ungerechtigkeiten zwischen „Rasse“ und „Geschlecht“ ausschließlich kulturell bedingt (vgl. Fraser 2001, S.11).
Drittens sieht sie linke Politik in den USA mit einem wiedererstarkenden Wirtschaftsliberalismus konfrontiert, der über die Amplifizierung materieller Ungleichheiten weitere kulturelle Ungleichheiten nach sich zieht.
Diese von ihr als „postsozialistische Situation“ bezeichneten Umstände sollen kritischer Betrachtung unterzogen werden, die losgelöst von ebenjenen Umständen ansetzen soll, um so die verhoffte Trennung „authentischer Zweifel“ und „ideologischer Elemente“ nach der Tradition der kritischen Theorie zu bewerkstelligen.
Argumentative Bedeutung des Werkes
Ausgehend von den oben bezeichneten Zuständen fordert Fraser eine neue Vision zur Überwindung von Ungerechtigkeiten ein. Hierbei sei eine Integration von Maßnahmen gegen zweiwertige Ungerechtigkeiten in einen gemeinsamen theoretischen Rahmen notwendig, Das Ziel dieser „kritischen Theorie der Anerkennung“ soll Ansprüche der Anerkennung und Differenz danach unterscheiden, ob sie soziale Gleichheit voranbringen. Dieser Ansatz muss Ansätzen einerseits der Umverteilung als Gegenmaßnahme gegen ökonomische Ungleichheit gerecht werden, wie auch andererseits Methoden der Anerkennung als Gegenmaßnahme gegen kulturelle Ungerechtigkeit integrieren. Die Forderungen dieser Maßnahmen seien oft gegensätzlich oder überschneiden sich, was in der komplexen Natur der von ihnen konfrontierten Ungerechtigkeiten begründet liegt und von Fraser als „Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma“ bezeichnet wird. In dem hier vorgestellten Teil des Werkes beschäftigt Fraser sich mit der Identifikation von Rahmenbedingungen, durch die dieses Dilemma entkräftet werden könnte.
Argumentationsverlauf Nancy Fraser Die halbierte Gerechtigkeit
Ihr angestrebtes Ziel einer Symbiose aus überzeugenden Ansichten der Anerkennungstheorien und jenen Elementen des Sozialismus, die sozialer Gerechtigkeit gegenüber förderlich wirken, will Fraser über drei Teile erreichen.
„Teil 1: Umverteilung und Anerkennung“ theoretisiert verschiedene Möglichkeiten dieser Symbiose wie auch ihre zu erwartenden Schwierigkeiten. Hier unterstellt sie der gleichzeitigen Bekämpfung von kultureller und ökonomischer Ungerechtigkeit unter bestimmten Umständen ein notwendig folgendes Dilemma, das aus der Art und Weise der Bekämpfung von Ungerechtigkeit scheinbar notwendig hervorzugehen scheint. In Kapitel 1 „Von der Umverteilung zur Anerkennung? Dilemmata der Gerechtigkeit in „postsozialistischer“ Zeit“ beschreibt sie die grundlegenden Ursachen und Umstände dieser Dilemmata, bevor sie diese in Kapitel 2 „Nach dem Familienlohn: ein postindustrielles Gedankenexperiment“ konkret in verschiedenen Gesellschaftsmodellen herausstellt. Ausgehend von dieser Konstitution des Dilemmas kritisiert sie Schwächen zweier feministischer Theorien, bevor sie die Idee zu einem Dritten konstruiert, der durch Dekonstruktion von Gender und eine „Veränderung der Männer“ die von ihr in den Fokus gerückten Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit, Umverteilung und Anerkennung, integriert.
Auf die Darstellung in diesem ersten Teil ihrer Monografie werde ich mich im Folgenden hauptsächlich berufen
„Teil 2: Öffentliche Sphären, Genealogien und symbolische Ordnungen“ liefert eine Diskursanalyse zur Integration von Umverteilung und Anerkennung, wobei Kapitel 3 und 4 sich mit der Frage beschäftigen, ob eine „Theorie der Öffentlichkeit“ die Möglichkeit bietet, als Schanier zwischen wissenschaftlichem Diskurs und institutioneller Methodik zu dienen. Sie differenziert zu Jürgen Habermas, Clarence Thomas und Anita Hill. Kapitel 5 setzt sich mithilfe von Raymond Williams mit Faucault auseinander, während in Kapitel 6 Probleme das „Lacanianismus“ beleuchtet werden sollen.
„Teil 3: Feministische Stellungnahmen“ soll Kultur- und Sozialpolitik in aktuelle feministische Debatten integrieren, wie auch den Ursprung ihrer Trennung voneinander untersuchen.
Umverteilung und Anerkennung
Arten von Ungerechtigkeit
Nancy Fraser begründet einen Großteil ihrer Argumentation auf dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Kultur und erläutert ihr Zusammenspiel in der Entstehung von Ungerechtigkeit. Hier unterstellt sie einen Dualismus von Ungerechtigkeit, einerseits sozioökonomische und andererseits kulturell-symbolische Ungerechtigkeit. Der momentane Fokus von Initiativen, die eine Aufhebung von Ungerechtigkeiten anstreben, liegt dabei laut Fraser auf einer „Anerkennung von Differenz“, also Kämpfen von Gruppen, die auf einer Erhebung ihrer Gruppe aus dem benachteiligten Status einer Minderheit heraustreten wollen, sei es „unter der Flagge der Nationalität, Ethnizität, ‚Rasse‘, Gender oder Sexualität“ (ebd., S. 23). Aus dieser Dynamik ergäbe sich ein Paradigmenwechsel, der Ausbeutung als zentrale Form von Ungerechtigkeit durch kulturelle Dominanz ersetzt, so Fraser. Diese Kämpfe um Anerkennung zur Minderung kulturell-symbolischer Ungerechtigkeit fallen laut Fraser allerdings in eine Zeit verschärfter sozio-ökonomischer Ungerechtigkeit, die sie durch Ungleichheit in Einkommens- und Besitzverhältnissen, Zugang zu bezahlter Arbeit, Bildung, Gesundheit und Freizeit zeigt. Dieser Paradigmenwechsel hebt laut Fraser den Bedarf einer differenzierten kritischen Theorie hervor, die sowohl Maßnahmen der Umverteilung von sozioökonomischen Gütern, als auch Maßnahmen der kulturellen Anerkennung vereint und so eine Symbiose aus Sozial- und Kulturpolitik schafft.
Fraser geht beim Versuch dieser Symbiose davon aus, dass sowohl Anerkennung, als auch Umverteilung notwendig seien, um moderne Ungerechtigkeit aufzulösen. Das weiterführende Ziel, Umverteilung UND Anerkennung zu integrieren, sei dabei zu umfangreich, sodass sie sich in ihren Ausführungen auf einen Aspekt des Problems fokussiert: Die Identifikation jener Umstände, unter denen eine Politik der Anerkennung einer Politik der Umverteilung gegenüber entweder begünstigend oder hinderlich wirkt. (vgl. ebd., S.25)
Bei der Identifikation dieser Umstände konzentriert sie sich auf Formen der Ungerechtigkeit, die gleichzeitig sozio-ökonomisch und kulturell-symbolisch sind. Die analytische Unterscheidung zwischen diesen Formen von Ungerechtigkeit ist dabei heuristischen Zwecken geschuldet.
Das Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma
Frasers Darstellung der angesprochenen Dynamiken beginnt mit der Formulierung eines Konfliktes zwischen Maßnahmen der Umverteilung und Anerkennung. Im weiteren Verlauf unterscheidet sie drei Großgruppen, um zu bestimmen, welche Gruppenkonstellationen besonders von diesem Konflikt betroffen sind. Im Anschluss unterscheidet sie Maßnahmen gegen Ungerechtigkeit in „affirmative“ und „transformative“ Maßnahmen, bevor sie diese Unterscheidung und ihre Wirkungen auf Großgruppen in einem Vorschlag für eine politische Strategie bündelt.
Sozioökonomische Aspekte von Ungerechtigkeit, die Maßnahmen der Umverteilung gegenüberstehen, wären dabei jene, die in politisch-wirtschaftlichen Ursachen begründet liegen und sich in Ausbeutung, wirtschaftlicher Marginalisierung und Deprivation äußern. Für Frasers weitere Ausführungen wäre dabei laut eigener Aussage ein grobes Verständnis dieser Art von Ungerechtigkeit ausreichend, welches durch eine „Verpflichtung zum Egalitarismus“ geprägt sei. (ebd., S.27)
Kulturell-symbolische Aspekte versteht sie hingegen als „in sozialen Mustern der Anerkennung, Interpretation und Kommunikation“ begründet. Diese manifestieren sich in Form von kultureller Dominanz, fehlender Anerkennung und Missachtung. Auch hier sei es nicht nötig, sich auf einen konkreten theoretischen Ansatz zu einigen. Es wäre ausreichend, ein generelles Verständnis für die Verschiedenheit von kulturellen Ungerechtigkeiten in Bezug auf sozioökonomische anzuerkennen (vgl. ebd., S.29).
Wie bereits dargelegt ist diese Unterscheidung rein analytisch, da ökonomischen Institutionen immer auch eine kulturelle Dimension und umgekehrt kulturellen Praktiken immer eine ökonomische Dimension anhaftet. Kulturelle Normen, die gegenüber einigen Gruppen unfair sind, hätten sich laut Fraser meist auch in Staat und Wirtschaft institutionalisiert, während diese ökonomische Benachteiligung wiederum eine gleiche Beteiligung an öffentlichem kulturellem Schaffen und Leben einschränkt. Es entstehe „ein Teufelskreis kultureller und wirtschaftlicher Unterordnung“ (ebd., S. 30)
Diesen Arten von Ungerechtigkeit sind Maßnahmen entgegengesetzt, die darauf abzielen, sie abzubauen. Diese Maßnahmen werden im Einklang mit der analytischen Trennung von ökonomischer und kultureller Ungerechtigkeit unter den Begriffen „Umverteilung“ und „Anerkennung“ zusammengefasst.
Umverteilung steht dabei für verschiedene Maßnahmen politisch-wirtschaftlicher Umstrukturierung, z.B. Einkommensumverteilung, Neuorganisation der Arbeitsteilung oder die Veränderung anderer ökonomischer Strukturen.
Anerkennung bestehe dabei in einer Art kulturellem oder symbolischem Wandel, z.B. durch Aufwertung missachteter Identitäten, positive Wertschätzung kultureller Vielfalt oder „Umgestaltung gesellschaftlicher Muster der Darstellung, Interpretation und Kommunikation im Ganzen“(ebd., S.32).
Die hier festgehaltenen Unterscheidungen scheinen Ursprung für Frasers Bedenken hinsichtlich eines möglichen Konfliktverhaltens zwischen Maßnahmen der Umverteilung und der Anerkennung zu sein. Sie betont, dass eine gesteigerte Differenzierung von Gruppen im Rahmen der Identitätspolitik konträr zur tendenziellen Entdifferenzierung in wirtschaftlichen Bereichen durch die Sozialpolitik wirke. Es scheint eine Unvereinbarkeit von Maßnahmen der Beseitigung von Ungerechtigkeit verschiedener Art vorzuliegen. In diesem Spannungsverhältnis sieht Fraser das „Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma“
Wem stellt sich dieses Dilemma?
Um darzulegen, welche sozialen Gruppen vom herausgestellten Dilemma betroffen sind, denkt Fraser sich diese als auf einem Spektrum angeordnet. Die äußersten Extreme dieses Spektrums wären dabei Großgruppen, die einerseits rein ökonomisch, andererseits rein kulturell differenziert sind. Die Existenz dieser theoretischen Gruppen wäre dabei fraglich, da Kultur und Ökonomie in der Realität miteinander verknüpft sind. Als Annäherung an diese Idealtypen von Großgruppen führt sie auf der ökonomischen Seite den Kampf der Arbeiterklasse nach marxistisch-orthodoxem Verständnis als Beispiel an. Das entgegengesetzte Extrem rein kulturell bedingter Differenzierung sieht sie beispielhaft in der Konzeption verachteter (Homo)Sexualität vertreten. In diesen Beispielen verdeutlicht sich die grundlegende Methodik zur Bekämpfung von Ungerechtigkeiten, die beiden Arten von Großgruppen zugrunde liegt. Auf der ökonomischen Seite des Spektrums wird eine Entdifferenzierung gefordert, da jedwede erlittene Ungerechtigkeit dieser Gruppe schlussendlich auf ökonomische Strukturen zurückzuführen sei, die nur durch eine Entdifferenzierung durch Maßnahmen der Umverteilung zu beseitigen wäre. Im Gegensatz hierzu ließen sich die erfahrenen Umstände am anderen Ende des Spektrums nicht auf ökonomische Strukturen zurückführen, da Homosexualität auf jeder Ebene der ökonomischen Verteilung vorfindbar ist. Sexualität sei ein „Modus sozialer Differenzierung“ (ebd., S.37), die damit verbundenen Ungerechtigkeiten also kultureller Natur und mit Maßnahmen der Anerkennung ebendieser Differenz zu bewältigen. Während die Aufhebung von Ungerechtigkeiten in den idealtypischen Grußgruppen des Spektrums unkompliziert scheint, erschwert sich dies bei Großgruppen, die sowohl politisch-ökonomisch, als auch kulturell-evaluativ differenziert sind und dadurch multiple Unterdrückung und Ungerechtigkeit erfahren. Als Beispiel hierfür werden Gender und „Rasse“ angeführt.
Es handelt sich bei Gender laut Fraser um ein grundlegendes Strukturprinzip der politischen Ökonomie, da Arbeit in mehreren Kategorien durch Gender bedingt ist, so z.B. in „produktive“ und „reproduktive“ Arbeit eingeteilt wird, wobei letztere traditionell in der Verantwortung der Frau liegt. Weiterhin haftet Gender auch eine kulturell-evaluative Differenzierung an, die dem Typus der „verachteten Sexualität“ am kulturellen Ende von Frasers Spektrum ähnelt. Die diesen Umständen zugrundeliegenden Normen sind dabei in der Gesellschaft verankert, ihre benachteiligenden Wirkungen verstärken sich komplementär und führen zu einem „Teufelskreis wirtschaftlicher und kultureller Unterordnung“ (ebd., S.42). Die entsprechenden Gegenmaßnahmen könnten nicht gleichzeitig verfolgt werden, da Maßnahmen der Umverteilung den Begriff „Gender“ überflüssig machen, Maßnahmen der Anerkennung spezifische Besonderheiten aufwerten wollen.
Auch der Begriff „Rasse“ differenziert in der ökonomischen Dimension Zugang zu Bildung und Arbeit, während er in kultureller Dimension zu Diskriminierung und Missachtung führt. Es handle sich hierbei ebenfalls um einen zweidimensionalen Gruppenmodus, der auf einerseits Maßnahmen der Umverteilung und andererseits Maßnahmen der Anerkennung angewiesen wäre.
„Affirmativ“ und „Transformativ“
Um dem scheinbar ausweglosen Dilemma einen Lösungsweg hinzuzufügen, widmet sich Fraser weiterhin der Frage einer möglichen Verträglichkeit von Kultur- und Sozialpolitik. In diesem Sinne differenziert sie zwischen „affirmativen“ und „transformativen“ Maßnahmen, um einen Modus komplementärer Ergänzung zu konzipieren, der trotz der gegensätzlichen Ziele in Differenzierung und Entdifferenzierung wirken kann. Relevant ist in dieser Unterscheidung das Endergebnis der Maßnahme, nicht ihr Prozess. Es handelt sich laut Fraser nicht um eine Unterscheidung zwischen einem abrupten oder schrittweisen Wandel.
Affirmative Maßnahmen seien jene Maßnahmen, „die darauf abstellen, ungerechte Folgewirkungen gesellschaftlicher Verhältnisse auszugleichen, ohne den zugrunde liegenden Rahmen anzutasten, der diese hervorbringt“ (ebd., S.47). Im Rahmen kulturell bedingter Ungerechtigkeit sieht sie die Neubewertung zu Unrecht abgewerteter Gruppenidentitäten als affirmativ, wenn den zugrundeliegenden Identitäten unberührt bleiben („Multikulturalismus“). Affirmative Maßnahmen gegen ökonomische Ungerechtigkeit versuchen, Verteilungsmissstände im Endstadium auszugleichen, ohne ökonomische Strukturen zu ändern, die diese herbeirufen („Wohlfahrtsstaat“).
Transformative Maßnahmen versteht sie als „Mittel, die beabsichtigen, ungerechte Folgewirkungen zu beheben, indem man gerade die zugrundeliegenden Voraussetzungen dieser Verhältnisse neu strukturiert“ (ebd., S.47). Transformative Maßnahmen gegen kulturell bedingte Ungerechtigkeit wären in der Dekonstruktion zusammengefasst. Transformative Maßnahmen auf ökonomisch-politischer Ebene sind historisch mit dem Sozialismus verknüpft.
Affirmativen (ökonomischen) Maßnahmen unterstellt sie eine immer wiederkehrende Notwendigkeit zur Wiederholung, da wegbereitende Strukturen unangetastet bleiben. Sie mutmaßt, dass benachteiligten Gruppen ein generelles Bedürfnis nach diesen Maßnahmen unterstellt wird und diese als Sonderbehandlung empfunden werden. Affirmative Maßnahmen würden langfristig also zu kulturell-evaluativen Ungerechtigkeiten führen (z.B. Hartz-IV, Frauenquote). Im Gegensatz dazu würden transformative (ökonomische) Maßnahmen soziale Ungleichheit abbauen, ohne stigmatisierte Gruppen zu konstruieren. Sie fasst zusammen, dass affirmative Maßnahmen der Umverteilung Gruppendifferenz tendenziell verstärken, während transformative Maßnahmen die gleichen positiven Effekte für sozioökonomische Gleichheit beinhalten, während sie gleichzeitig das Potenzial haben, Gruppendifferenz abzuschwächen und somit nicht negativ auf die Anerkennungsdimension wirken.
Ausgehend von diesem Schema aus affirmativen und transformativen Maßnahmen gegen sozio-ökonomische und kulturell-evaluative Ungerechtigkeit ergeben sich Handlungsmöglichkeiten mit unterschiedlich einzuschätzender Praktikabilität. So wären affirmative Maßnahmen der Umverteilung und transformative Maßnahmen der Anerkennung nur schwer in Einklang zu bringen, da erstere Gruppendifferenz stärken, während letztere diese aufzuheben versuchen. Auch wäre analog dazu eine Kombination aus transformativen Maßnahmen der Umverteilung mit affirmativen Maßnahmen der Anerkennung nicht umzusetzen, da auch hier Gruppendifferenz einerseits geschwächt, andererseits betont werden würde.
Vielversprechend hingegen seien einheitlich affirmative Maßnahmen, auch wenn affirmative Umverteilung des Wohlfahrtsstaates sich negativ auf die Anerkennungsdimension der benachteiligten Gruppen auswirken würde. Begründet liegt dies im Mangel gegensätzlicher Wirkung der Maßnahmen. Problematisch sei jedoch, dass grundlegende Strukturen unangetastet bleiben. Die negative Wirkung affirmativer Umverteilungsmaßnahmen auf die Anerkennung der geförderten Gruppen würde durch die affirmative Anerkennung ebendieser Gruppen wahrscheinlich noch verstärkt werden
Ebenfalls vielversprechend seien rein transformative Maßnahmen des Sozialismus und der Dekonstruktion, da beide dazu tendieren, vorhandene Gruppendifferenz zu mindern oder aufzulösen, während sie gleichzeitig grundlegende Strukturen verändern, die zu mannigfaltigen Ungerechtigkeiten führen. Fraser bevorzugt dieses Modell aus drei Gründen. Erstens sei dieses Modell nicht nur für die beispielhaft aufgeführten Idealtypen, sondern für stärker zweiwertige Großgruppen gültig. Weiterhin ist die Wirkung affirmativer Maßnahmen bei sich überschneidenden Ungerechtigkeiten im Zentrum von Frasers Spektrum additiv verstärkt, was auch ihre negativen Einflüsse exponentiell verstärkt und rein transformative Maßnahmen so noch reizvoller erscheinen lässt. Drittens wird durch die positive Wirkung auf nicht nur Zielgruppen der Maßnahmen, sondern universell auf alle Gruppenidentitäten, eine Koalitionsbildung zwischen diesen erleichtert.
Fraser kommt über diese Ausführungen zu dem Schluss, dass ihr Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma entschärft werden muss, indem Ansätze gefunden werden, in denen Umverteilung und Anerkennung gleichzeitig Wirkung tragen können, während Konflikte zwischen ihnen möglichst geringgehalten werden. Aus der analytischen Herangehensweise, mit der sie die Wirkung verschiedener Maßnahmen an unterschiedlichen Großgruppen, „Gender“ und „Rasse“, „Sexualität“ und „Klasse“, abgearbeitet hat, ergibt sich die weiterführende Aufgabe, diese nun in den komplexeren Kontext einer Gesellschaft einzuarbeiten, in der niemand nur einer dieser Gruppen angehört und demnach auch nicht ausschließlich Dominanz oder ausschließlich Ungerechtigkeit erfährt.
„Nach dem Familienlohn – Ein postindustrielles Gedankenexperiment“
Anknüpfend an ihre theoretisch analytischen Ausführungen stellt Fraser in diesem Kapitel eine begriffliche Neufassung der Geschlechtergleichheit vor, mit dessen Hilfe sie Ansätze zur Integration von Umverteilung und Anerkennung evaluativ bewerten will. Grund für diese Neufassung ist die gesellschaftliche Veränderung, die mit dem Aufbruch klassischer Familienstrukturen einherging. Fraser schlägt nun vor, Geschlechtergleichheit über sieben normative Prinzipien (vgl. ebd., S.75 ff.) zu begreifen, die der Komplexität des Begriffs unter veränderten Umständen Genüge tun und Ziele eines Staatssystems mit egalitärer Verpflichtung sein sollten.
- Bekämpfung der Armut
- Bekämpfung der Ausbeutung
- Gleiche Einkommen
- Gleiche Freizeit
- Gleiche Achtung
- Bekämpfung der Marginalisierung
- Bekämpfung des Androzentrismus
Mit diesen Prinzipien definiert Fraser Gleichheit der Geschlechter als eine komplexe Idee auf Basis verschiedener und stark verflochtener normativer Ansätze, die alle gleichwertig und notwendig seien. Dabei könnte die Verfolgung gegensätzlicher Ziele zwangsläufig werden, sodass Vorgehensweisen gefunden werden müssten, die Konflikte minimieren und die effiziente Verwirklichung möglichst vieler dieser Prinzipien maximieren.
„Modell der universellen Betreuungsarbeit“
Für Fraser liegt eine zwar utopische, aber umfassende Garantie für die oben genannten Prinzipien in einer Standardisierung der für Frauen gegenwärtigen Lebensmuster für alle Mitglieder einer Gesellschaft. Demnach müsste ein postindustrieller Wohlfahrtsstaat dafür sorgen, dass auch Männer zu gleichen Anteilen produktive wie reproduktive Arbeit, also Einkommenserwerb und Betreuungsarbeit leisten, gleichzeitig aber Strukturen schaffen, die den damit verbundenen Stress, den Frauen und dann auch Männer dabei erleiden, zu minimieren (vgl. ebd., S.101). Ein Wohlfahrtsstaat nach diesem Modell müsste den scheinbaren Gegensatz zwischen diesen Formen der Arbeit wie auch ihre geschlechtsspezifische Verteilung auflösen.
„Das Kunststück“, so Fraser, “besteht darin, die soziale Welt irgendwann einmal so einzurichten, dass Bürgerinnen und Bürger das Geldverdienen und Betreuen, den Einsatz für Gemeinschaft, politische Mitwirkung und gesellschaftliches Engagement unter einen Hut bringen können – und möglichst noch Zeit für vergnügliche Dinge haben“. Fraser gesteht ein, dass dies sicherlich nicht in unmittelbarer Zukunft passiere, betont aber, dass es sich hierbei um die „einzig vorstellbare postindustrielle Welt [handle], die echte Gleichheit der Geschlechter verspricht“ (ebd., S. 103).
Wertschätzung und Kritik
Fraser wendet sich im hier vorgestellten Werk hauptsächlich an politische TheoretikerInnen und gewisse Richtungen feministischer Bewegung. Sie unterstellt einen Mangel an emanzipatorischer Vision, sogar eine Befangenheit in eigentlich zu kritisierenden Strukturen, und verlangt eine kritische Prüfung des gegenwärtigen politischen Denkens daraufhin, ob die „post-sozialistische Situation“ mit momentanen Ansätzen überwunden werden kann oder vielmehr die Grenzen für ebenjene definiert.
Mit dem Begriff der „post-sozialistischen“ Situation fasst Fraser spezifische ideologische und historische Bedingungen zusammen und äußert Unzufriedenheit an der Verschiebung „neuerer“ Diskussionen um Identitäten und Dekonstruktion in rein diskursive Sphären. Diese verlässt sie dabei allerdings selbst nicht. Die analytische Unterscheidung, die sie dabei an Arten von Ungerechtigkeit vornimmt und anhand von „Rasse“, Gender und Sexualität verdeutlicht, bleiben nur analytisch, sodass sie selbst nicht über jenen „ideologischen Druck […], der die Möglichkeiten vorzeitig beschränken würde“ erhaben scheint (ebd., S. 19). Da aber genau dies ihr Anspruch ist, überschattet dieser Mangel an Reflexion ihren Anspruch einer „kritischen Theorie der Anerkennung“.
Auch Axel Honneth hat im Diskurs mit ihr besonders auf diese argumentative Lücke hingewiesen. Er identifiziert ihren Rückgriff auf die Arbeiterklasse als Bezugspunkt für Ziele der Umverteilung und ökonomischen Gerechtigkeitsbestrebungen als Widerspruch zur kritischen Theorie, die empirische Auskunft aus momentanen Sozialbewegungen fordert, statt ihren Fokus auf bereits im öffentlichen Diskurs angelangte Problematiken zu legen. Nancy Fraser übergeht in ihrem diagnostizierten Paradigmenwechsel von der Umverteilung zur Anerkennung zum Beispiel, so Honneth, das „Resultat einer kulturellen Abkehr von ‚materiellen‘ Werten und dementsprechend einem wachsenden Interesse an Fragen der Qualität unserer Lebensform“ (Honneth 2003, S.136), wie es sich in den Friedens- und Ökologiebewegungen der Vergangenheit und Gegenwart niedergeschlagen hat. Der Begriff einer ökologischen Ungerechtigkeit erscheint in Frasers Spektrum, vielleicht aus gutem Grund, jedoch nicht. Die Kategorisierung von Ungerechtigkeiten aus einem historischen Kontext heraus stellt dabei genau die Befangenheit dar, die Nancy Fraser mit der Postulierung ihrer „post-sozialistischen Situation“ anprangert.
Ebenfalls unklar ist die kategoriale Ordnung, in der Nancy Fraser Ungerechtigkeiten und ihre Gegenmaßnahmen verortet. Genauso denkbar wie die von Fraser dargestellte Dichotomie aus Anerkennung und Umverteilung wäre meiner Meinung nach die Bündelung dieser beiden unter einem Begriff. Die Begrifflichkeiten einer Umverteilung kultureller Wertschätzung scheinen genauso plausibel wie eine Anerkennung sozioökonomischer Bedürfnisse, wobei ersteres die Gefahr eines Fehlschlusses birgt, dessen vermeintliche Existenz eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen Honneth und Fraser um oben genannten Diskurs darstellt: Die Gesamtheit der genannten Ungerechtigkeiten, wie auch der nicht genannten, ist nicht einzig und allein ökonomischen Ursprungs. Eine Zweiwertigkeit von Ungerechtigkeit in politisch-ökonomischer und kulturell-symbolischer Ungerechtigkeit scheint aber ebenso nicht zwangsläufig gegeben, wie Honneth in seinen Erwiderungen herausstellt. Hier differenziert er ein Verständnis von Anerkennung über „Liebe“, „Recht“ und „Leistung“, dass eventuell auch den Ursprung für ökonomische Ungleichheiten zu erklären vermag.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Die halbierte Gerechtigkeit – Schlüsselbegriffe des post-industriellen Sozialstaats“ von Nancy Fraser ein schwer zu fassendes Problem modernen politischen Denkens mit progressivem Anspruch ausformuliert und verdeutlicht, auch wenn das Werk selbst nicht ganz unberührt von diesem bleibt. Frasers Darstellungen verschiedener Achsen von Ungerechtigkeit und ihre Wechselwirkungen sind einleuchtend und in der festgesetzten Kategorisierung überzeugend dargestellt. Besonders der Bezug der festgesetzten Größen auf kontroverse und prägnante Beispiele von Ungerechtigkeit in Form von „Rasse“ und Geschlecht sind mit anschaulichen und umfassenden Beispielen und Ausführungen versehen, die es ein leichtes werden lassen, ihrer Argumentation zu folgen und den Grundstein für ein weitreichendes Verständnis für die Verflechtung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten legen.
TL;DR: 7/10, würde wieder lesen.
Übersicht über wichtige Werke von Nancy Fraser:
Fraser: Unruly Practices, 1989:
Aufsatzsammlung, in der Fraser in Auseinandersetzung mit dem politischen und sozialtheoretischen Diskurs der 1980er Jahre eine sozialistisch-feministische Kritische Theorie entwirft.
Fraser: Justice Interruptus: Critical Reflections on the „Postsocialist“ Condition: Rethinking Key Concepts of a Post-socialist Age, 1997 (hier vorgestellt):
Fraser reagiert auf empfundene Schwächen moderner linker Argumentation mit einer Konstitution von Ungerechtigkeit als einerseits kulturell, andererseits materiell. Im weiteren Verlauf analysiert sie aus dem Anlass der „postsozialistischen Situation“ heraus die Maßnahmen gegen diese differenten Ungerechtigkeiten hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und potentieller Verknüpfung miteinander.
Fraser, Honneth: Redistribution or Recognition?, 2003:
Im Diskurs mit Axel Honneth grenzt Fraser ihr Prinzip von nicht reduzierbarer Dualität von Ungerechtigkeit und den damit einhergehenden Gegenmaßnahmen von Umverteilung und Anerkennung ab gegen Honneths Argumentation für die Anerkennung als Umverteilung und andere Maßnahmen einbindende Überkategorie.
Fraser, Jaeggi: Capitalism: A Conversation in Critical Theory, 2018
Fraser diskutiert mit Jaeggi allgemeine Annahmen über modernen Kapitalismus und wie dieser zu kritisieren ist. Es wird gezeigt, wie Kapitalismus im Laufe der Geschichte auf institutionelle Trennung verschiedener Bereiche, z.B. produktive und reproduktive Arbeit, angewiesen war und wie diese Trennung sich gewandelt hat. Anhand dieser Darlegung wird der Ursprung verschiedener Konflikte kapitalistischer Gesellschaften verdeutlicht
Fraser: Fortunes of Feminism: From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis, 2013
Fraser stellt die Evolution feministischer Argumentation seit den 1970ern vor und antizipiert eine neue Phase ebendieser. Sie argumentiert, dass die feministische Identitätspolitik, in die sich die Bewegung nach der Erschöpfung ihrer kapitalismuskritischen Energien gewandelt hat, in der vorausgedeuteten neuen Phase erneut eine kritische Position zu globalen ökonomischen Problemen einnehmen wird und im Zusammenspiel mit anderen egalitären Bewegungen eine demokratische Kontrolle ökonomischer Verhältnisse bewerkstelligen könnte.
Literaturverzeichnis:
Fraser, Nancy (2001): Die halbierte Gerechtigkeit, übersetzt von Karin Wördemann, Frankfurt/Main
Honneth, Axel (2003): Umverteilung als Anerkennung – Eine Erwiderung auf Nancy Fraser, in: Fraser, Nancy; Honneth, Axel (Hrsg.): Umverteilung oder Anerkennung? – Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt/Main, S. 129-224
Bildquellen:
https://www.suhrkamp.de/buecher/die_halbierte_gerechtigkeit-nancy_fraser_11743.html