Amy Allen

Amy Allen

(Autorin: Esther Hildebrand)

Biographie:

Amy Allen ist eine Professorin für Philosophie, Frauen-, Gender- und Sexualwissenschaften an der Pennsylvania State University und eine der bedeutendsten feministischen Theoretikerinnen der USA. Bevor sie an der Pennsylvania State University angefangen hat, war sie “Parents Distinguished Research Professor in the Humanities” und Professorin für Philosophie sowie Frauen- und Geschlechterstudien am Dartmouth College. Von 2006-2012 leitete sie dort die Abteilung für Philosophie. Die Northwestern University ernannte Amy Allen im Jahr 2010 zu einer der 100 bemerkenswertesten Absolventinnen der Graduate School of Arts and Sciences (vgl. DesAuteles 2013). Erwähnenswert ist, dass sie eine von nur zwei Philosoph*innen und die einzige Philosophin ist, der diese Ehre zuteilwurde. Im Jahr 1996 promovierte Allen in Philosophie unter der Leitung der bekannten Philosophin Nancy Fraser mit einer Dissertation über feministische Theorien der Macht. Die überarbeitete und erweiterte Fassung ihrer Dissertation veröffentlichte sie drei Jahre später. Dieses Buch trägt den Titel The Power of Feminist Theory: Herrschaft, Widerstand, Solidarität und ist eine kritische Auseinandersetzung mit den etablierten feministischen Machtvorstellungen (vgl. ebd.). Bei der Entwicklung einer neuen feministischen Machtvorstellung beruft sich Allen auf die Schriften von beispielsweise Michel Foucault, Judith Butler und Hannah Arendt. Das von Allen erstellte Konzept der Macht beruht auf der elementar wichtigen Unterscheidung „zwischen verschiedenen Machtmodalitäten – einschließlich Machtübergabe, Machtübernahme und Machtmitnahme – und ihrem Versuch zu verstehen, wie diese verschiedenen Modalitäten miteinander in Beziehung stehen“ (DesAutels 2013). Amy Allens zweites Buch wurde 2008 veröffentlicht und trägt den Titel The Politics of Our Selves: Power, Autonomy and Gender in Contemporary Critical Theory. Dieses Werk konzentriert sich genauer auf das Verhältnis von Macht und Autonomie in der Konstitution des Subjekts. Amy Allen wirft in diesem Buch eine Frage auf, die „feministische Theoretikerinnen und kritische Theoretikerinnen gleichermaßen verärgert hat: ob es möglich ist, geschlechtsspezifische Subjekte so zu verstehen, dass sie sowohl durch Machtverhältnisse konstituiert als auch in der Lage sind, sich autonom selbst zu konstituieren“ (ebd.). Allen behauptet, dass dies möglich ist. Die Symbiose aus der kritischen Rekonstruktion und Neuinterpretation von Foucault und Habermas Schriften sowie die Analyse der damit zusammenhängenden feministischen Debatte zwischen Butler, Fraser und Benhabib verhilft Allen dazu, eine  Darstellung zu entwerfen, welche sie „Politik unseres Selbst“ nennt (vgl. DesAutels 2013).

[Auch] wenn wir, wie Habermas und Honneth, daran festhalten, dass die Ideale von Freiheit und gleicher Achtung in »unserem« aufgeklärten Erbe eine zentrale Rolle spielen, [ist] die Lektion, die wir von Adorno und Foucault lernen können, dass wir diese Ideale bekräftigen können, indem wir sie von innen her radikal transformieren.”
Amy Allen

Vorstellung des Werkes Das Ende des Fortschritts:

In ihrem erst kürzlich auf deutsch erschienenen Buch Das Ende des Fortschritts: Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie versucht Amy Allen eine „super-kritische Theorie, also eine kritische Theorie, kritischer Theorien“ (Forst 2014, S. 427) aufzustellen. Die Unfähigkeit der Frankfurter Schule, angemessen auf die post- und neokolonialen Probleme einzugehen, beruht in den philosophischen Festlegungen, die die Basis für unsere heutigen Praktiken bilden (vgl. Allen 2019, S. 33). Amy Allens Werk versucht dieses Problem greifbar zu machen und sich ihm zu stellen. Wie sonst soll eine kritische Theorie wirklich kritisch sein, wenn sie die Geschichte von einem kolonialisierten und imperalisierten Standpunkt beschreibt?

Das Ende des Fortschritts

Allens übergeordneten Ziele, die sie mit dem Buch verfolgt, sind zweierlei. Zum einen untersucht sie kritisch die Rollenbilder von Entwicklung, soziokulturellen Lernprozessen sowie historischem Fortschritt bei der Rechtfertigung von Normativität der kritischen Theorie in der Frankfurter Schule. Zum anderen möchte Allen einen Rahmen schaffen, in dem Platz für das reflektierte Nachdenken über die Frage der Normativitätsbegründung und die Dekolonisierung der kritischen Theorie ist (vgl. Allen 2019, S.36). Laut Definition der Philosophin Nancy Fraser bedeutet kritische Theorie die Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche (vgl. ebd., S.34). Wie zuletzt die rege Anteilnahme an den „Black Lives Matter“-Demonstrationen gezeigt hat, zählen Dekolonisierung und postkoloniale Politik zu den wichtigsten Kämpfen der Gegenwart. Die Dringlichkeit der Dekolonisierung der kritischen Theorie ergibt sich also aus ihrer eigenen Definition (vgl. ebd., S. 34).

Sich mit allen wichtigen, von Allen aufgeworfenen Fragen des Buches zu beschäftigen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb ich mich auf einige in meinen Augen besonders zentrale und aktuelle Fragestellungen beziehen werde. Im zweiten Kapitel veranschaulicht Amy Allen die Problematik des Eurozentrismus vor allem auf Grundlage der Kritik an Jürgen Habermas. Um diese Problematik spezifischer darzustellen, werde ich den Fokus meiner Arbeit insbesondere auf die Verknüpfung von Aufklärung und Kolonialismus sowie Postkolonialismus legen. Darüber hinaus werde ich anhand der aktuellen „Black Lives Matter“-Debatte einen aktuellen Bezug zu den traditionellen philosophischen Ansichten aufzeigen.

Eine wichtige Rolle für den Beweis der Normativität der kritischen Theorie spielt Habermas Gedanke, dass die maßgebenden Ressourcen der europäischen Moderne sowie die Aufklärung Ergebnisse einer soziokulturellen Lernentwicklung sind (vgl. Allen 2019, S. 106). Allen (2019) behauptet an dieser Stelle, das wohl kaum ein anderer Gedanke oder Aspekt in seinem Werk für so viel Kritik gesorgt hat. Man muss Habermas zu Gute halten, dass er die Normativität der europäischen Errungenschaften der post- oder kolonialen Kritik aussetzt. Der Philosoph und Historiker Enrique Dussel sagt, dass Habermas Ausspruch, die Moderne sei ein ausschließlich europäisches Phänomen, die außereuropäische Peripherie ignoriert, in Relation, zu der sich Europa aufgebaut hat. Genau diese Ignoranz gegenüber der nichteuropäischen Peripherie führt dazu, dass die Definition von Moderne in einem eurozentrischen Missverständnis endet (vgl. Allen 2019, S. 107).

Das erklärt auch warum für Habermas, der hier Hegels Auffassung folgt, die Reformation, die Aufklärung und die Französische Revolution die zentralen Ereignisse für die Entfaltung der Moderne gewesen sind. Besonders die Ideale der Aufklärung spielen für Habermas eine zentrale Rolle. Allen erklärt, dass wenn man Habermas „mit Blick auf die Ursprünge der Normativität nicht als Konstruktivist, sondern eher entweder als Rekonstruktivist oder als Kohärentivist“ (ebd., S. 106) versteht, erklärt werden kann, warum er die Ideale der Aufklärung so beharrlich verteidigt. Habermas ist sich über die enge Verstrickung dieser Ideale, wie die Ideen von Fortschritt und Modernisierung, mit der „zivilisierenden Mission des Westens“, die wohl einflussreichste Rechtfertigungsideologie für den Kolonialismus, bewusst. Er vertritt aber die Meinung, dass diese Ideale losgelöst von ihren ideologischen Wurzeln betrachtet werden können (vgl. ebd., S. 108). Habermas behauptet darüber hinaus, dass man von den Befangenheiten absehen müsse, die dem sogenannten zeitgenössischem Hintergrund entspringen. Diese Befangenheiten schließen eine Ignoranz gegenüber kulturellen Unterschieden, der Gefahr des Nationalsozialismus sowie eine Überlegenheit der „europäischen Zivilisation und weißen Rasse“ (ebd., S. 109) mit ein. (Das Herunterspielen von diesen kritikwürdigen Konzepten durch die Verwendung des Begriffs „Befangenheiten“ ist meiner Meinung nach höchst problematisch.)

Durch das Paradigma der multiplen Modernen versucht sich Habermas von den Vorwürfen des Eurozentrismus zu befreien. Seine Definition vom Begriff „Moderne“ lautet wie folgt: „Auf Basis derselben globalisierten Infrastruktur […] ist `Moderne` heute so etwas wie der gemeinsame Kampfplatz, auf dem verschiedene Zivilisationen bei ihrer mehr oder weniger kulturspezifischen Modifikation dieser Infrastruktur aufeinandertreffen“ (Allen 2019, S. 110). Diese sehr weit auslegbare und vage Definition wirkt mehr wie ein Friedensangebot für die Kritiker als eine klare Abgrenzung vom oder Lösung des Eurozentrismusproblems. Gurminder Bhambra unterstreicht dies durch die Aussage, dass das Paradigma der multiplen Modernen nichts dafür tue die grundlegenden Probleme der Konzeption der Moderne selbst anzugehen (vgl. Allen 2019, S. 112).

Ein, wie sich aus dem Buchtitel erahnen lässt, essentielles Konzept von Allens Arbeit ist die Problematisierung des Begriffs „Fortschritt“, da dieser unterschiedlich fundiert ist und somit unbewusst eine Grundlage für eine Verstrickung zwischen kolonialer Eroberung und imperialer Unterwerfung bietet. Die Differenzierung zwischen Fortschritt als Gebot bzw. Imperativ und Fortschritt als Tatsache ist elementar wichtig. Ersterer Fortschritt meint die Entwicklung hin zu einem in der Zukunft liegenden möglichen Ziel, ein moralisch-politischer Imperativ, der für mehr Gerechtigkeit sorgt. Letzteres bezeichnet die Lesart der Geschichte als Fortschrittsgeschichte, begleitet von einem ethnozentrischen, überlegenen Unterton, der die Legimitierung der eigenen Verhaltensweisen zum Ziel hat (vgl. Dübgen 2017, S. 163). Historischer Fortschritt im Allgemeinen meint nicht die alleinige Bewegung in Richtung eines bestimmten Ziels sondern die menschliche Entwicklung und damit den menschlichen Fortschritt überhaupt (vgl. Allen 2019, S. 37). Der moderne Begriff dagegen spricht davon, dass sich „das stets zu erwartende Ende der Welt in eine offene Zukunft verwandelt[…]; der spirituelle »profectus« wurde zum weltlichen »progressus«“ (ebd., S. 38). Verfall wird nun nicht mehr konträr zum Fortschritt gesehen, sondern der Fortschritt als eine weltgeschichtliche Kategorie, die den Sinn von Rückschlägen letztendlich als Motivatoren zu immer neuen Fortschritten ansieht (vgl. ebd., S. 38). Daraus folgt, dass Fortschritt zu einem andauernden, unendlichen und dynamischen Prozess wurde.

Den Konflikt, den Allen hier herauskristallisiert, ist, dass die kritische Theorie etwas von beiden oben erwähnten Fortschrittsarten in sich trägt. Das ist sowohl auf politischer als auch auf epistemologischer Ebene problematisch, da „die Verflechtung der Idee des historischen Fortschritts mit dem Vermächtnis von Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus und ihren zeitgenössischen neokolonialen und informell imperialistischen Formen“ (ebd., S. 49) nicht tiefgründig und kritisch genug reflektiert wird. Darüber hinaus findet kein wirklicher Fortschritt statt, wenn die Zukunft auf der ethnozentrischen Vergangenheit aufbaut und die eigenen westlichen Standards auf die Weltgeschichte übertragen werden. Ein fast schon blinder Universalismus wäre die Folge dessen (vgl. Dübgen 2017, S. 164).

Forst (2014) merkt an dieser Stelle an, dass Allens Kritik selber im Namen des Fortschritts spricht, da sie Ziele wie die Dekolonisierung oder andere Formen gesellschaftlicher Befreiung verfolgt und eben solche als Fortschritt ansieht (vgl. Forst 2014, S. 428). Während Allen also explizit eine bestimmte Vorstellung des Fortschritts ablehnt, macht sie sich diese implizit selber zu Nutzen. Laut Forst schließt es sich nicht aus, dass „wir die Etablierung von demokratischen Verhältnissen und die Einhaltung der Menschenrechte sehr wohl als Fortschritte begreifen können, ohne dabei die Fortexistenz alter oder das Heraufziehen neuer Machtverhältnisse beschönigen zu müssen“ (ebd., S. 428). Es muss also kein Entweder-oder geben, sondern es ist auch eine Koexistenz möglich. Diese entspricht im Kern auch eher einer hinreichend dialektischen Betrachtung, als das komplette Negieren von positiven Fortschritten als Fortschritt. Wie Forst treffend zusammenfasst, treten Fortschritt und Regression bei komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen oft zusammen auf (vgl. ebd., S. 428). Nur weil in manchen Denkmustern der aufgeklärten Menschheit Ethnozentrismen oder Rassismen zu erahnen sind, sei dies noch kein Grund den ganzen Begriff der Menschenrechte aufzugeben, da dies bedeuten würde sich dem Rassismus allzu sehr hinzugeben (vgl. ebd., S. 428).

Samir Amin, Polit-Ökonom und Kritiker des Neokolonialismus, ist in Bezug auf die Differenzierung zwischen funktionalen und kulturellen Dimensionen der Modernisierung sowie die Möglichkeit der Realisierung von kapitalistischen Wirtschaftssystemen in unterschiedlichen kulturellen Graduierungen Habermas Meinung. Ein großer Kritikpunkt Amins, den ich an dieser Stelle besonders hervorheben möchte ist, dass die Ausbreitung jener kapitalistischen Wirtschaftssysteme die Ausbreitung einer stetigen und unvermeidlichen Divergenz zwischen einem demokratischen Zentrum und einer untergeordneten Peripherie erfordert, die antidemokratischen Bewegungen am Rand einen Nährboden bietet. Um es auf den Punkt zu bringen: „Der Widerspruch zwischen den Zentren und den Peripherien [bildet] den grundlegenden Widerspruch der modernen Welt“ (Allen 2019, S. 111).

Sobald man die zentrale Bedeutung der Theorien der sozialen Evolution und der Moderne für Habermas Bestreben um die Fundierung der normativen Grundsätze begriffen hat, lässt sich verstehen, warum er sich so schwer tut, seine Überzeugung auf Thesen, die die Dominanz einiger Facetten der europäischen Moderne betreffen, abzulegen (vgl. ebd., S. 119-120).

Die Begründung, warum das klassische Gedankengut der Aufklärung nicht das Fundament für die Moderne bilden sollte, lautet, dass viele Aufklärer, sei es bewusst oder unbewusst, rassistisches Gedankengut besaßen (vgl. Beckmann 2019). Gerade der Gründervater der Aufklärung Immanuel Kant gerät immer wieder in die Kritik, zugleich Gründervater des „wissenschaftlichen Rassismus“ zu sein. So spricht er beispielsweise von „der weißen Rasse als der überlegensten Rasse“ (Dhawan 2020) und dass sie die „intellektuell und moralisch höchstwertigste sei“ (ebd.). Durch die Stereotypisierung von indigenen Völkern bereitet Kant einen Nährboden für die philosophische Rechtfertigung von rassistischen Denkansätzen. Es ist keine leichte Aufgabe die rassistischen sowie imperialistischen Ansätze Kants mit den modernen, kosmopolitischen Rechten zu vereinen (vgl. Dhawan 2016, S. 254). Die westliche Welt muss anerkennen, dass hier ein Konflikt vorliegt, der nicht einfach ignoriert werden kann. Zwar hat sich Kants Position über Rassismus während seiner Schaffenszeit verändert und definitiv angepasst, ganz aufgegeben hat er beispielsweise seine Idee des biologischen Rassenkonzepts aber nicht. Als Folge dessen ist eine Überlegenheit europäischer Prinzipien entstanden, die sich als fortschrittlicher und moderner sieht und den Maßstab setzt für die Bewertung von außereuropäischen Kulturen (vgl. ebd., S. 254).

Dieser oben erwähnte Glaube an eine weiße Überlegenheit auch „white supremacy“ genannt, hat auch in der aktuellen „Black Lives Matter“-Debatte eine große Relevanz. Solange unsere gesamte Epistemologie auf dieser Vorstellung von „white supremacy“ beruht, ist der Wunsch nach umfassendem Wissen, wie er von der Aufklärung verfolgt wird, immer von rassistischen und eurozentrischen Stereotypen überschattet (vgl. Beckmann 2019). Es ist höchst problematisch, dass die Aufklärer es geschafft haben ihre westliche Weltanschauung bis heute als eine universal gültige zu postulieren. Meinungen aus dem globalen Süden sind zwar zunehmend willkommener, werden dennoch oft nur als Zusatz, selten jedoch als Grundlage akzeptiert. Eine Gleichstellung der Denkmuster des Westens und des globalen Südens ist für den südafrikanischen Professor Achille Mbembe fast undenkbar. Da die Fundamente des westlichen Denkens so selbstverständlich und grundlegend akzeptiert werden, fällt ganz besonders im Westen selbst kaum auf, dass das Übermitteln dieser überlegenen, „zivilisierten“ Weltvorstellung im Süden höchst ignorant ist (vgl. ebd.).

Das Konzept „White Saviorism“ beschreibt ein Phänomen, bei dem weiße Menschen sich als „weiße Retter“ darstellen, indem sie beispielsweise in Afrika durch den Bau einer Schule die westliche Weltvorstellung vermitteln. Meistens ist die Intention dieser Menschen wirklich gut, doch da sie sich unter anderem durch die Inszenierung in den sozialen Medien selbst in den Vordergrund stellen, geht die gut gemeinte Hilfe teilweise an den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen in Afrika vorbei. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Begriffe „Weiß“ und „Schwarz“ hier nicht auf die Hautfarbe sondern viel eher Kontextbezogen verwendet werden. Genauso wichtig ist es, dass die Ablehnung von „weißen Rettern“ nicht mit der Ablehnung der allgemeinen Hilfe von weißen Menschen gleichzusetzen ist (vgl. Zane 2016). Das eigentliche Problem ist, dass „White Saviorism“ das toxische Bild verstärkt, dass People of Color auf die Hilfe von weißen Menschen angewiesen sind. Die Forderung von „Black Lives Matter“ ist, dass die weiße Gesellschaft einen Schritt zurücktritt und diejenigen zu Wort kommen lässt, die jahrelang nicht am Diskurs teilnehmen durften. Aktuell ist es nämlich so, dass „die Sprache von Fortschritt und Entwicklung die der Unterdrückung und Beherrschung von zwei Dritteln der Weltbevölkerung“ (Allen 2019, S. 34) ist. Allen betont, dass ein offener, gleichberechtigter Dialog nicht funktionieren kann, wenn die eine Partei nicht von ihrem eigenen angeblich evolutionär fortgeschrittenerem und somit überlegenerem Standpunkt abweichen möchte. „Für einen echten grenzüberschreitenden Dialog fehlt es an Demut und radikaler Offenheit gegenüber nicht-westlichen Akteuren“ (Dübgen 2017, S. 166).

Edward Said kritisiert darüber hinaus, dass „die kritische Theorie der Frankfurter Schule […] verblüffend stumm in bezug auf rassistische Theorie, antiimperialistischen Widerstand und oppositionelle Praxis im Imperium“ (Allen 2019 S. 31) ist.

Dieses Schweigen ist ein Teil von dem sogenannten „white privilege“. Es sich erlauben zu können zu schweigen, gewisse Thematiken und Probleme, die ihren Ursprung im Rassismus haben zu ignorieren, all das sind weiße Privilegien, die sich einige Philosophen der Frankfurter Schule zu Nutze gemacht haben. Allen (2019) vertieft diesen Vorwurf, indem sie sagt, dass Habermas und Honneth sich nicht ernsthaft mit dem substanziell wichtigen Thema des Postkolonialismus auseinandergesetzt haben und das obwohl Habermas ausführlich Fragen der Globalisierung und des Kosmopolitismus behandelt hat (vgl. Allen 2019, S. 32).

Das Wort „Post“ im Begriff „postkoloniale Studien“ steht dabei nicht für das Ende des Kolonialismus, sondern vielmehr für die Folgen des Kolonialismus und die Konsequenzen, die uns bis in die heutige Zeit begleiten. Die zweite Bedeutung des Wortes „Post“ hat die Dekonstruktion und Überwindung zentraler Annahmen des kolonialen Diskurses zum Ziel (vgl. Conrad 2012). Hier passt Allens Kritik, dass Habermas und Honneth die postkolonialen Studien außer Acht lassen, da sie die Dekonstruktion zentraler Annahemen im kolonialen Diskurs ebenfalls außen vorlassen. Postkoloniale Studien beschäftigen sich mit der Frage welche Art von ökonomischen, kulturellen, politischen sowie sozialen Strukturen wir sowohl in den ehemaligen Kolonialländern aber auch in Europa und den USA unbewusst übernommen haben (vgl. Conrad 2012). Zwar habe sich beispielsweise der Begriff „unzivilisiert“ zu „unentwickelt“ geändert, die tieferliegende Abwertung ist dadurch jedoch nicht aufgehoben worden (vgl. Dhawan 2020).

Die postkolonialen Studien stützten sich auf drei Grundpfeiler. Als erstes ist zu nennen, dass der Postkolonialismus auf der Annahme fußt, dass der Kolonialismus keineswegs nach der Unabhängigkeit endete. Dafür waren vor allem die wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse zu sehr manifestiert (vgl. Conrad 2012). Die zweite Annahme der postkolonialen Studien lautet, dass die zentralen Faktoren der Kolonisierung weder in den technischen noch in der wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens gefunden werden können. „Noch fundamentaler seien kulturelle Dispositionen, die koloniale Expansion und Herrschaft überhaupt attraktiv und akzeptabel – und noch grundlegender: denkbar – machten“ (ebd.). Der dritte Punkt beschreibt die Forderung, Kolonien und Metropolen in dem gleichen analytischen Feld zu untersuchen und spricht sich somit gegen die alt eingesessene Ansicht über den Gegensatz zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten aus, die behauptet, dass die Veränderung der afrikanischen bzw. der indigenen Bevölkerung, positiv oder negativ ausgelegt werden kann. Diese Forderung hat zum Ziel, dass die europäische und die Kolonialgeschichte nicht als zwei voneinander losgelöste Entitäten wahrgenommen werden, sondern dass der grundlegenden Rolle der vielschichten Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten mehr Bedeutung zukommt (vgl. Conrad 2012).

Da Allens Buch wie bereits am Anfang eine super-kritische Theorie darstellen soll, befasst sie sich im letzten Kapitel mit deren Kritik an den postkolonialen Studien. Der verbreitetste Vorwurf gegen die postkoloniale Theorie ist, dass sie tief im Irrationalismus gefangen ist und aus diesem Grund nicht imstande ist ihre kritische Perspektive zu begründen. Allen (2019) zeigt in dem Kapitel Wege auf, wie diesen Vorwürfen begegnet werden kann, um darzulegen, wie die postkolonialen Theoretiker*innen durch die Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule bereichert werden können. Ihre zentrale These ist hier, dass

„auch dann, wenn wir, wie Habermas und Honneth, daran festhalten, dass die Ideale von Freiheit und gleicher Achtung in »unserem« aufgeklärten Erbe eine zentrale Rolle spielen, die Lektion, die wir von Adorno und Foucault lernen können, darin besteht, dass wir diese Ideale bekräftigen können, indem wir sie von innen her radikal transformieren. Das Projekt der Aufklärung zu erben heißt zwar, sich auf dessen Kritiktradition zu berufen, aber die Kritik dennoch in den Dienst des Kritisierens und Aushebelns des der Aufklärung eigenen Eurozentrismus und damit ihrer fortwährenden Verstrickung in die Kolonialität der Macht zu stellen.“ (Allen 2019, S. 265).

Die Position, die sie damit zu begründen sucht, nennt sie „metanormativen Kontextualismus“. Dieser soll einen Weg aufzeigen,

 „wie die postkoloniale Theorie in einer durch und durch immanenten Normativität gegründet werden kann, die sein kritisches Vermögen aktiviert und es ihm somit ermöglicht, dem Relativismus aus dem Weg zu gehen, ohne sich dabei auf developmentale Lesarten der Geschichte berufen zu müssen, die dem Eurozentrismus oder starken fundamentalistischen Normativitätskonzeptionen das Wort reden und in einem Autoritarismus oder einem informellen Imperialismus enden würden“ (Allen 2019, S. 295).

Darüber hinaus greift Allen an dieser Stelle erneut den Bezug zum Fortschrittsgedanken auf. Die postkoloniale Theorie bietet durch das lokale und kontextgebundene Fortschrittsmodell eine „Art von normativem Maßstab“ (Allen 2019, S. 296) was Fortschritt in der Zukunft bedeuten könnte, ohne dabei auf das kritisierte Narrativ der Historie aufzubauen, gegen welches diese Theorie ankämpft (vgl. ebd., S. 296).

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Allen mit ihrem Buch Das Ende des Fortschritts: Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie einen spannenden Diskurs anstößt, der momentan so aktuell ist wie kaum ein anderer. Obwohl Allen versucht extrem kritisch zu sein, läuft sie in ihrem Werk wie beim Begriff des Fortschritts beispielsweise immer wieder Gefahr sich auf Aspekte zu berufen, die sie eigentlich zu kritisieren vermag. Das verdeutlicht nur noch einmal wie tiefgreifend einige Konzepte in unserer Gesellschaft verankert sind. Nichtsdestotrotz hat Allens Buch für den Diskurs um die Rassismus- und Eurozentrismusproblematik sowie den Postkolonialismus eine hohe Relevanz. Dadurch, dass sie nicht nur Kritik übt, sondern diese tiefgreifend begründet und Handlungsalternativen anbietet, ist ihr Werk sehr bereichernd.

Laut Cornel West, einem der führenden Theoretiker bei Rassismusfragen, fundieren alle mächtigen Demokratien in der Menschheitsgeschichte auf einer xenophoben und imperialen Grundlage (vgl. Honecker und Manemann 2016, S. 3). Basierend auf dieser Annahme wird verständlich warum Allens Werk so eine hohe Relevanz hat. Darüber hinaus können auch die andauernden „Black Lives Matter“-Demonstrationen und die daraus resultierenden Rufe nach einer dringlichen und radikalen Änderung nachvollzogen werden. Aus Allens Analyse wird deutlich, dass “Black Lives Matter”, obwohl (oder gerade indem) es gegen die eurozentrische Weltsicht und die unbewusst übernommenen rassistischen Denkmuster der Aufklärung rebelliert, dennoch als ein aufklärerisches Projekt angesehen werden könnte. Denn gerade in der radikalen Transformation von innen heraus ist der eigentliche Kern der Aufklärung zu finden.

Amy Allen kritisiert in ihrem Werk die Aufklärung, aber tut ebendieses im Namen der Aufklärung. Diese widersprüchlich scheinende Figur Ausdruck verliehen zu haben, ist für sie das Vermächtnis der (frühen) kritischen Theorie. In diesem Sinne zielt die „Black Lives Matter“-Bewegung darauf, die partikularistische Vereinnahmung der Aufklärungsidee durch eine weiße, eurozentristische und vorwiegend männliche Tradition zu überwinden. „Black Lives Matter“ und der Postkolonialismus haben gemeinsam das Potential die Aufklärung über ihre eigenen Fehler aufzuklären. Sie tun dies aber wie bereits herausgearbeitet im Rahmen der Aufklärung und sind somit trotz der Kritik ein Teil der Aufklärung. Abschließend lässt sich sagen, dass dieses Buch neben den oben genannten Aspekten für einen Fortschritt in meiner persönlichen Weiterentwicklung gesorgt hat, weshalb ich es durchaus lesenswert finde.

Literaturverzeichnis:

Allen, Amy (2020): Das Ende des Fortschritts: Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie, Frankfurt/ New York.

Dhawan, Nikita (2016): „Die Aufklärung retten: Postkoloniale Interventionen“, in: Zeitschrift für Politische Theorie, H. 2, S. 249-255.

Dübgen, Franziska (2017): „Fortschritt im Widerstreit. Dekolonisierung als Kritik? Amy Allen: The End of Progress (2016) and Thomas McCarty: Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung (2015)“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 65, H. 1, S. 163-173.

Forst, Rainer (2014): „Eine fortschrittliche Kritik des Fortschritts?“, in: Quante, Michael (Hrsg.): Geschichte, Gesellschaft, Geltung, Münster, S. 427 – 432.

Honnacker, Ana und Manemann, Jürgen (2016): „Rassismus – Rassismus breitet sich in unserer Gesellschaft aus.Was macht ihn aus, wie lässt er sich beschreiben und greifen? Wie lässt sich ihm entgegenwirken?“ in: fiph-Journal, Nr. 28, S. 3.

Internetressourcen:

Beckmann, Andreas (2019): „Chancen und Grenzen eines postkolonialen Denkens“ https://www.deutschlandfunk.de/kolonialismus-chancen-und-grenzen-eines-postkolonialen.1148.de.html?dram:article_id=457326 abgefragt am 03.08.2020.

Conrad, Sebastian (2012): “Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte“ https://www.bpb.de/apuz/146971/kolonialismus-und-postkolonialismus?p=1 abgefragt am 03.08.2020.

DesAuteles, Peggy (2013): „Amy Allen: November 2013“ http://www.apaonlinecsw.org/home/woman_philosopher/amyallennovember2013 abgefragt am 05.08.2020.

Riedel, Annette und Dhawan, Nikita (2020): „Ignoranz gegenüber der eigenen Ignoranz“ https://www.deutschlandfunkkultur.de/nikita-dhawan-zu-kolonialismus-und-rassismus-ignoranz.990.de.html?dram:article_id=478995 abgefragt am 03.08.2020.

Zane, Damien (2016): „Barbie challenges the ‘white saviour complex’“ https://www.bbc.com/news/world-africa-36132482 abgefragt am 05.08.2020.

Bildquellen:

https://www.campus.de/e-books/wissenschaft/philosophie/das_ende_des_fortschritts-15952.html

4 Antworten auf „Amy Allen“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert