Iris Marion Young

Iris Marion Young

(Autorin: Elif Efe)

Biographie:

Iris Marion Young (1949-2006) war Professorin für Politikwissenschaft an der University of Chicago ab dem Jahr 2000. Sie war bekannt für ihre Arbeiten, die unter anderem Themen wie Gerechtigkeitstheorien, Theorien zur Demokratie und Theorien zum Feminismus beinhalteten. Nach ihrer Geburt in New York City studierte sie Philosophie am Queens College und promovierte 1974 an der Pennsylvania State University. Young reiste viel und lehrte auf allen Kontinenten außer der Antarktis. Schon sehr früh verschaffte sie sich einen gewissen Ruf bezüglich ihrer Schriften über globale Gerechtigkeit, Demokratie und Unterschiede, kontinentale politische Theorien, Ethik und internationale Angelegenheiten und Gender, race und öffentliche Ordnung.

Iris Marion Young

Internationale Anerkennung erlangte sie durch ihr Buch Justice and the Politics of Difference (1990), in dem sie kritisch die Basiskonzepte, die den meisten Gerechtigkeitstheorien unterliegen, analysierte und für eine neue Konzeption von Gerechtigkeit argumentierte, wobei sie die Bestätigung statt der Verdrängung von sozialen Gruppenunterschieden in den Fokus rückte. Zudem beschäftigte sie sich mit politischer Verantwortung und insbesondere den großflächigen strukturellen Ungerechtigkeiten, die nicht auf die Handlungen einer einzelnen Person oder Gruppe zurückzuführen sind (vgl. Schonwald 2006). Im Verlauf der Vorstellung des zentralen Werks dieses Blogbeitrags (“Responsibility for Justice“) wird die strukturelle Ungerechtigkeit in Verbindung zu der Black Lives Matter Bewegung, welche dieses Jahr besonders aktuell ist, gesetzt.

“Structural injustice occurs as a consequence of many individuals and institutions acting to pursue their particular goals and interests, for the most part within the limits of accepted rules and norms”
Iris Marion Young

Vorstellung des Werks Responsibility for Justice:

In dem posthum veröffentlichten Buch „Responsibility for Justice“ geht es um die Art und Weise, wie wir derzeit über Verantwortung denken (vgl. Wilson 2013, S. 324). Young beginnt mit einer Analyse des amerikanischen Armutsverständnis in der „era of the War on Poverty“ (Young 2011, S. 3): In der amerikanischen Gesellschaft und ihren öffentlichen Institutionen herrsche die Meinung vor, dass einige Menschen durch ihre Handlungen selbst zu ihrer Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit oder Armut beitrugen, jedoch Andere wiederum aufgrund nicht selbst verschuldeter, institutioneller Gründe Armut ausgesetzt wurden (ebd., S.3). Young führt fort, dass in den frühen 1980 iger Jahren sowohl Konservative als auch Liberale die Meinung vertraten, dass die Gründe für Armut größtenteils auf die Eigenschaften und Handlungen der armen Leute zurückführbar seien (vgl. ebd., S.3). Hieraus sei abzuleiten, dass die armen Menschen weniger Verantwortung für ihre Leben zeigen als andere Gruppen und zu oft selbstzerstörerisches Verhalten aufweisen. Die Sozialhilfe würde ein solches Verhalten sogar unterstützen, da sie jenen Menschen Hilfestellungen gewährleiste. Ein neuer Sozialhilfestaat solle diese Anspruchseinstellung unterbrechen und spezifische Anforderungen an hilfsbedürftige und arme Menschen stellen, die beinhalten, dass jene persönliche Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen. (vgl. ebd., S.3)

Besonders interessant wird es im Weiteren, denn Young bezieht sich auf drei Annahmen von den Sozialtheoretikern Charles Murray und Lawrence Mead (1984 & 2006) und zeigt auf, dass diese zweifelhaft sind.  Der ersten Annahme von Murray und Mead zufolge könne man Armut als durch persönliche Verantwortung oder strukturelle Verursachung entstandenen Zustand beschreiben; hierbei könne jedoch nur einer der beiden Gründe ausschlaggebend für die Armut sein und niemals beide in Kombination (vgl. Young 2011, S. 4). Young argumentiert, dass dies eine falsche Zweiteilung sei (vgl. ebd.). An zweiter Stelle würden Murray und Mead darauf beharren, dass sich hilfsbedürftige Menschen wirtschaftlich hocharbeiten können, wenn sie es versuchen und würden annehmen, dass der Hintergrund und die Lebensbedingungen der armen Menschen nicht ungerecht seien. Drittens würde der Diskurs der persönlichen Verantwortung nur die Verantwortung der armen Menschen fokussieren. Young fügt hinzu, dass dies implizit zu der Annahme führe, dass alle übrigen Menschen ihre Verantwortung korrekt ausüben und nur die armen Menschen im Besonderen in abweichender Art und Weise verhalten und somit unfairer Weise anderen Menschen Kosten aufladen (vgl. ebd.). Young kritisiert, dass der Diskurs um die persönliche Verantwortung nicht in Betracht zieht, dass auch Menschen, die der ökonomisch mittleren Schicht angehören oder gar reich sind, sich unverantwortlich benehmen können. Es werde ein irreführendes Ideal errichtet, nachdem jede Person unabhängig von Anderen sein könne und selber die Kosten der eigenen Entscheidungen und Handlungen übernehmen könne (vgl. Young 2011, S. 4). Die institutionellen Zusammenhänge, in denen wir handeln und die uns voneinander abhängig machen würden ignoriert werden, so Young (vgl. ebd.). Zudem vertritt Young die Ansicht, dass der Diskurs nicht in Betracht zieht welche persönliche Verantwortung Individuen sowohl für die Lebensverhältnisse anderer Menschen in diesen voneinander abhängigen Beziehungen haben als auch bezüglich ihres eigenen Lebens (vgl. ebd., S. 4f.).

Young betrachtet die Theorie von Ronald Dworkin sehr kritisch und merkt an, dass die Annahme, dass eine Hilfebedürftigkeit auf schlechtes Glück zurückführbar sei, nicht in Betracht ziehe, dass Young zufolge ein Akt der Gerechtigkeit in Bezug auf die strukturellen Hintergrundkonditionen in Bezug auf individuelle Handlung nötig seien (vgl. Young 2011, S. 5). Darüber hinaus kritisiert Young Dworkins Fokus auf die persönliche Verantwortung von relativ benachteiligten Personen, denn diese persönliche Verantwortung solle ausgeweitet werden auf jene, die Individuen für ihre Lebensbedingungen und die Anderer haben (vgl. ebd.). Im Weiteren wird die Welfare Reform in den 90iger Jahren in den Vereinigten Staaten thematisiert, indem Young aufweist inwiefern der „Personal Responsibility Work Opportunity and Reconcilitaion Act“ (Young 2011, S. 5) die persönliche Verantwortung der Individuen beeinflusst (vgl. Young 2011, S. 5f.). Ein Beispiel hierfür ist die uneheliche Schwangerschaft. Einige Staaten verlangen von Empfängern staatlicher Hilfe bzw. Sozialhilfe den Besuch von Kursen zur Enthaltsamkeit oder sogar Kursen, die ehefördernd sind. Zudem fällt Young auf, dass insbesondere hilfebedürftige Frauen noch mehr Schwierigkeiten ausgesetzt sind: Wenn eine Frau verweigert den Namen des Kindes mitzuteilen (beispielsweise aus Angst, dass dem Kind dann etwas zustoßen könnte), so erhielt sie keine staatliche Förderung mehr. Der Grund hierfür ist, dass die Väter für die finanziellen Probleme aufkommen sollen und auch wenn sie selber arm sind die Mutter des Kindes finanziell unterstützen sollen. Young beschreibt, dass Staatsbeamte ihre eigenen Familienwerte auf die Gesellschaft übertragen und davon ausgehen, dass diese für alle gültig sind und bestrafen damit arme Menschen, die von solchen Werten abweichen (vgl. ebd., S. 6).

Youngs Werk ist besonders lesenswert, da es den Leser miteinbezieht und ihn dazu auffordert über die Verantwortung der Gesellschaft und ihrer Verpflichtung bezüglich des Erschaffens oder Wiederherstellens von Gerechtigkeit nachzudenken. In besonderem Fokus steht für Young die strukturelle Ungerechtigkeit und betont, dass wir als Gesellschaft in Bezug auf strukturelle Ungerechtigkeiten Verantwortung übernehmen und somit sehen auf welche Art und Weise jene strukturelle Ungerechtigkeit die Lebensentscheidungen von Armen Menschen einschränken (vgl. Young 2011, S. 55). Sie betrachtet bestehende gesellschaftliche Strukturen und Beziehungen und stellt fest, dass vergangene Annahmen, Voraussetzungen, Entscheidungen und Interessen in die vorherrschenden Strukturen integriert sind und diese vergangenen Einflüsse die vorherrschenden Möglichkeiten des Handelns bestimmen (vgl. Young 2011, S. 54f.). Selbst beim Versuch der Umgestaltung dieser alten Einflüsse würden jene immer noch die gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten mitbestimmen (vgl. ebd.). Um dies konkret darzustellen, geht Young auf die zur Zeit der Entstehung ihres Werkes vorherrschenden Lebensbedingungen ein. In den meisten amerikanischen Großstädten herrsche eine Struktur vor, die aus der Kombination folgender Einflüsse hervorgehe: Sozialpolitik, Investitionsentscheidungen, kulturelle Präferenzen und ethnische Hegemonie der 1950iger (vgl. ebd., S. 54). Jene materialisierten Effekte vergangener Handlungen und Entscheidungen schränken Wohnmöglichkeiten vieler Menschen in verschiedenen Regionen der Vereinigten Staaten ein, so Young (vgl. ebd.). Auch wenn die vergangenen Wertvorstellungen nun kritisch betrachtet werden, so bestehen trotz dessen die „rassisch“ unterteilten innerstädtischen Nachbarschaften und Vororte (vgl. ebd., S. 54).

Diese ethnisch unterteilten innerstädtischen Nachbarschaften bestehen auch heute, neun Jahre nach der Veröffentlichung des Werkes von Young weiter. Im Zuge der Black Lives Matter Bewegung und zahlreicher Demonstrationen und Proteste für Schwarzes Leben und gegen rassistische Polizeigewalt (vgl. Schulz 2020) wurde auch das Bewusstsein für bestehende ungerechte soziale Strukturen für die schwarze Bevölkerung der Vereinigten Staaten verstärkt (vgl. Rothstein 2020). Rothstein geht in einem in der New York Times erschienenen Artikel darauf ein, dass diese neue Generation von Aktivisten auch die rassisch unterteilten Wohnlandschaften verändern wollen (vgl. ebd.). Somit wendet sich die „Black Lives Matter“-Bewegung nicht nur gegen Rassismus und Polizeigewalt, sondern auch gegen die Diskriminierung von Afroamerikanern und People of Color in den USA. Inzwischen handelt es sich bei der anfangs US-amerikanischen Bewegung um eine weltweite Bewegung, die sich nicht nur auf die Vereinigten Staaten beschränkt, sondern Tausende Menschen mithilfe der Sozialen Medien zusammenführt und erreicht und zu weltweiten Demonstrationen gegen Gewalt an und Diskriminierung von Afroamerikanern und People of Color geführt hat (vgl. Klump 2020). Die bereits 2013 durch die Aktivisten Alicia Garza, Patrisse Cullors, Opal Tometi mitbegründete Bewegung bekam dieses Jahr mehr Aufmerksamkeit als je zuvor (vgl. ebd.). Nach dem durch Polizeigewalt verursachten Tod von George Floyd vereinten sich Millionen von Menschen bei Demonstrationen um ihre Solidarität zu zeigen (vgl. ebd.). Die Bewegung nutzt das Internet und vor Allem die sozialen Medien, um gesellschaftliche Missstände öffentlich zu machen (vgl. Klump 2020). Young versucht in ihrem 2011 erschienenen Werk „Responsibility for Justice“ an mehreren Stellen dem Leser diese gesellschaftlichen Missstände und strukturellen Ungerechtigkeiten näherzubringen. Thematisiert werden die strukturellen Ungerechtigkeiten, die Afroamerikaner erfahren. Young ist davon überzeugt, dass Afroamerikaner strukturelle Ungerechtigkeiten erleben und ihre Entscheidungen und Handlungen begrenzt werden durch eingeschränkte Möglichkeiten und Optionen, die aus ihrem sozialen Lebensumfeld resultieren (vgl. Young 2011 S.184). Hierzu gehören überfüllte Schulen, voreingenommene Polizisten und auch getrennte Nachbarschaften (vgl. ebd.). Durch das folgende Zitat soll das hier beschriebene Argument nochmals verdeutlicht werden:

“The argument that African Americans suffer structural injustice notices that the actions and choices of many persons of African descent are circumscribed by the limited opportunities and options that their social environments offer to them: overcrowded schools, biased police practices, segregated neighborhoods, few job opportunities for less skilled people, rising costs of higher education, and so on. Understanding these as manifestations of structural injustice means telling a social-scientific story of how a multiplicity of institutional rules, social policies, market forces, and expressed cultural meanings conspire to produce these limited options for many African Americans in ways that are difficult to change or overcome.” (Young 2011, S. 184)

Young geht darauf ein, dass jene unterschiedlichen Einflüsse wie institutionelle Regeln, sozialpolitische Entscheidungen und kulturelle Einflüsse zusammenwirkend zu beschränkten Handlungsmöglichkeiten für Afroamerikaner führen, die schwierig zu verändern und überkommen sind (vgl. ebd. S.184).

Außerdem versteht Young die strukturelle Ungerechtigkeit als sozial-strukturelle Prozesse, die Unterschiede in der Art und Vielzahl der Wahlmöglichkeiten von Individuen hervorrufen (vgl. Young 2011, S. 55). An dieser Stelle wird dem Leser versucht nahe zu bringen, dass arme Menschen unter anderen Bedingungen handeln und Außenstehende sie nicht direkt als unverantwortlich verurteilen sollen. Die vorherrschenden Strukturen sorgen für andere Voraussetzungen und die Schwierigkeit im Erkennen von Strukturen liege darin, dass

“we do not experience particular institutions, particular material facts, or particular rules as themselves the source of constraint; the constraint occurs through the joint action of individuals within institutions and given physical conditions as they affect our possibilities” (Young 2011, S. 55).

Ein verbildlichendes Beispiel von einem Vogelkäfig (mit Verweis auf Marilyn Frye) wird als Analogie verwendet; die einzelnen Gitterstäbe können den Vogel jeweils nicht am Fliegen behindern, doch sobald sie zusammenkommen und eine Einheit bilden, so ist dem Vogel das Fliegen nicht mehr möglich (vgl. ebd.). Young unterstreicht jedoch, dass es sich hier bei den constraining structures (einschränkenden Strukturen) nicht um den Entzug von Freiheit handelt, sondern dass diese social-structural processes Unterschiede in den Arten und der Anzahl der Optionen, die Individuen für ihre Entscheidungen haben, produzieren (vgl. ebd., S. 55). Individuen erfahren jene sozialen Strukturen und Prozesse Young zufolge als einschränkend, wobei selbst relativ privilegierte Individuen oft davon sprechen würden, dass sie „Keine Wahl“ bezüglich einer Handlung hätten (vgl. ebd.).

Young zeigt dem Leser mithilfe eines fiktiven Beispiels, warum wir uns mit struktureller Ungerechtigkeit auseinandersetzen sollten – und führt den Lesenden vor Augen, dass es sich um tatsächliche alltägliche Lebenssituationen handeln kann, in denen sie sich oder Bekannte wiedererkennen können. Als Gedankenexperiment wird die alleinerziehende Mutter namens Sandy herangezogen, der es nicht möglich ist, eine sichere und bezahlbare Wohnunterkunft in einer wünschenswerten Schulumgebung zu finden (vgl. Young 2011 S. 44ff.). Sandys eigene Entscheidungen wie die Trennung von dem Vater ihres Kindes und ihre Handlungen (das bewusste Beenden einer Weiterbildung) werden zusammen mit struktureller Ungerechtigkeit (dem Fehlen von bezahlbaren Wohnungen in den beliebteren Teilen der Stadt und geringe Möglichkeiten bei der Berufswahl) zu einer nicht tragbaren Situation (vgl. ebd.). Diese Situation ist entstanden, obwohl kein einzelnes Individuum sich Sandy gegenüber direkt ungerecht verhalten hat (vgl. ebd.). Young erklärt dies damit, dass strukturelle Ungerechtigkeit sich von Fehlern, die spezifischen individuellen Handlungen oder Strategien zugeordnet werden können, unterscheidet (vgl. ebd., S.44). Sandy sei ein Opfer von Umständen und Lebenslagen, die außerhalb ihrer Macht liegen (vgl. ebd., S.45). Bei diesem Gedankenexperiment beschreibt Young die alleinerziehende Mutter Sandy als ein Individuum, das aufgrund ihrer Position sozialer Ungerechtigkeit ausgesetzt ist: Sie ist dazu gefährdet obdachlos zu werden oder muss weiterhin in der überteuerten und heruntergekommenen Wohnung im sozialen Brennpunkt weit von ihrer Arbeit und wünschenswerten Schuloptionen für ihre Kinder wohnen bleiben, weil sie aufgrund der äußeren Umstände keine Wohnung bekommt (vgl. ebd. S.44ff.). Mit dieser Geschichte möchte Young dazu auffordern, dass die Gesellschaft sich Gedanken dazu macht, ob es in Bezug auf soziale Gerechtigkeit richtig ist, dass irgendjemand in der Position sein sollte Unsicherheiten bezüglich der Unterkunft zu erleben (vgl. Young, S.45).

Young argumentiert, dass die Aktionen einiger Menschen, die die Handlungen anderer Individuen einschränken, zumeist nicht auf direkter Art und Weise, sondern eher indirekt in Verbindung stehen (vgl. Young 2011, S.96). Diese Art der indirekten Beeinflussung geschehe durch die Erzeugung von strukturellen Beschränkungen bezüglich der Aktionen und Handlungen der Individuen und andererseits durch die Erzeugung von privilegierten Handlungsmöglichkeiten für Andere (vgl. ebd.).Young zufolge existiert strukturelle Ungerechtigkeit, wenn:

“[…] social processes put large groups of persons under systematic threat of domination or deprivation of the means to develop and exercise their capacities, at the same time that these processes enable others to dominate or to have a wide range of opportunities for developing and exercising capacities available to them. […] Structural injustice occurs as a consequence of many individuals and institutions acting to pursue their particular goals and interests, for the most part within the limits of accepted rules and norms.” (Young 2011, S. 52)

Es bestehe jedoch ein Problem bezüglich der strukturellen Ungerechtigkeit: Es sei nicht möglich, die Handlungen eines Individuums linear von der Handlung bis zu dem Schaden, die jene anrichtet, nachzuverfolgen. Es sei einfach nachzuverfolgen wer was getan habe, jedoch nicht ob und wenn ja, welche Handlungen besonders Schäden für bestimmte Individuen hervorgerufen haben. Young möchte mit ihrem Werk “Responsibility for Justice“ die Leser über folgende Frage reflektieren lassen: “[…] how should we as individuals think about our own responsibility in relation to social injustice?” (Young 2011, S. 15)

Diese Leitfrage beantwortet Young erst im vierten Kapitel ihres Werkes mit ihrem “social connection model for responsibility” (Young 2011, S. 96), demzufolge all diejenigen, die durch ihre Handlungen zu strukturellen Prozessen beitragen, welche ungerechte Resultate zur Folge haben, für die entstandene Ungerechtigkeit verantwortlich sind (vgl. ebd.). Diejenigen, die für die strukturelle Ungerechtigkeit verantwortlich sind, teilen Young zufolge die Verpflichtung sich mit all denen, die diese Verantwortung teilen, zusammenzutun, um die strukturellen Prozesse umzugestalten, damit deren Auswirkungen und Resultate weniger ungerecht sind (vgl. Young 2011 S.96f.).

Hierfür ist es von Bedeutung, unser Verständnis von „Verantwortung“ im Alltagsgebrauch im Sinne einer Verpflichtung zu einem alternativen Modell zu verändern, nachdem man Verantwortung als Tugend dafür übernimmt, dass man bestimmte soziale Rollen übernimmt wie beispielsweise die der Erziehung oder Lehre (vgl. Young 2011, S. 104ff.). Jedes Individuum soll Young zufolge über seine oder ihre eigenen spezifischen Verantwortlichkeiten als ein Teil der Gesellschaft nachdenken (vgl. ebd.).  Mit diesem zweiten Verständnis von Verantwortung erläutert Young, dass: “finding responsible does not imply finding at fault or liable for a past wrong; rather, it refers to agents’ carrying out activities in a morally appropriate way and seeing to it that certain outcomes obtain” (Young 2011, S. 104). Nichtsdestotrotz besage das “social connection model of responsibility”, dass Individuen Verantwortung für strukturelle Ungerechtigkeit tragen, weil sie mit ihren Handlungen zu den Prozessen beitragen, die ungerechte Auswirkungen und Ergebnisse produzieren (vgl. Young 2011, S.105). Ihr Modell verfolgt zwei Ziele: Zum einen sorgt es dafür, dass die genaue Prüfung von Verantwortung nur bei armen Individuen ausgeweitet wird auf alle Individuen, die in der Gesellschaft agieren und Entscheidungen treffen und zum anderen bietet es eine Alternative zu einem Modell der Verpflichtung (welches Ziel es ist Schuld zuzuweisen) (vgl. ebd. S.104ff.).

Young vergleicht ihr “social connection model” mit dem “liability model of responsibility“ (Modell der Verpflichtung) und beschreibt ihres aus drei Gründen als besser. Als erster Grund wird angeführt, dass das Verpflichtungsmodell aus pragmatschen Gründen scheitert. Der Versuch Menschen für ihr Fehlverhalten zu beschuldigen kann dazu führen, dass jene Individuen defensives Verhalten aufzeigen und weniger zu angemessenen politischen Veränderungen tendieren (vgl. Young 2011, S.100ff.). Im Gegensatz dazu fokussiert das social connection model nicht die Schuld, sondern richtet sich eher auf ein in die Zukunft gerichtetes Verständnis von Verantwortung, dessen Ziel es ist, strukturelle Ungerechtigkeit zukunftsgerichtet zu korrigieren (vgl. ebd., S.109f.).

An zweiter Stelle argumentiert Young, dass das liability model unvollständig ist. Obwohl sie anerkennt, dass die Schuldzuweisung in einigen Fällen angemessen sein mag, so sieht Young es nach ihrem social connection model als erforderlich, dass ein Fehlverhalten vorliegt, aber nicht als ausreichende Bedingung, um einer Person Schuld zuzuweisen (vgl. Young 2011, S.103f.). Schließlich scheitere das liability model daran, dass es einen falschen Fokus lege. In einem solchen Modell sei zumeist der angerichtete Schaden, der Wiedergutmachung benötigt, ein Prozess, der den Schaden als “[…] a discrete, bounded event that breaks away from the ongoing normal flow” (Young 2011, S.107) beschrieben werden kann. Die entstehenden Probleme und strukturelle Ungerechtigkeit resultieren daraus, dass wir innerhalb der akzeptierten und erwarteten Regeln, Bräuche und Normen der Gesellschaft und Institutionen, in denen wir agieren, handeln (vgl. ebd.). Nicht unser normales Verhalten innerhalb dieser Regeln ist grenzüberschreitend, sondern eben der Fall, dass wir innerhalb dieser Vorgaben „normal“ agieren ist das Problem. Young versteht strukturelle Ungerechtigkeit nicht nur als nationales Problem, sondern als eines, dass nationenübergreifend präsent ist (vgl. Young 2011, S.142). Auch die Black Lives Matter Bewegung sieht ihren Kampf für Gerechtigkeit und gegen Rassismus und Diskriminierung (gegen Afroamerikaner und People of Color) als eine weltweite gesellschaftliche Bewegung. Unsere Verantwortung vermehrt gerechte Strukturen zu schaffen geht über nationale Grenzen hinaus (vgl. Young 2011, S.142). Iris Marion Youngs Werk “Responsibility for Justice” sorgt für eine Verschiebung des Verständnisses der Schuldzuweisung bei Verantwortungsfragen von armen Individuen auf alle Individuen, die in der Gesellschaft agieren. Young fordert ihre Leser dazu heraus, darüber nachzudenken, auf welche Art und Weise unsere sozialen Positionen in der Gesellschaft einige Entscheidungen und gegenwärtige Optionen von vielen ärmeren Individuen beschränken. Schließlich ist es von besonderer Bedeutung, dass alle Individuen über die Rolle reflektieren, die Individuen in der Aufrechterhaltung von struktureller Ungerechtigkeit zum Vorteil vieler Individuen spielen.

Übersicht über wichtige Werke von Iris Marion Young:

Zu Young’s wichtigsten Werken gehören Intersecting Voices: Dilemmas of Gender, Political Philosophy and Policy (1997); Inclusion and Democracy (2000); Throwing Like a Girl: And Other Essays in Feminist Philosophy and Social Theory (1990), Justice and the Politics of Difference (2011) und Responsibility for Justice (2011).

In Youngs Intersecting Voices: Dilemmas of Gender, Political Philosophy and Policy werden mithilfe von sieben Essays feministische kritische Theorien gebündelt und sollen Feminismus als Art und Weise des Hinterfragens und als eine Orientierung darstellen, die die Aufmerksamkeit auf die Effekte der Theorien und Handlungen von Institutionen und Politik auf das Wohlergehen und die Chancen von Frauen – unter besonderer Berücksichtigung eines möglichen negativen Einflusses dieser auf einige, wenn auch nicht aller Frauen – richtet (vgl. Young 1997, S. 3). Außerdem werden Erfahrungen und Perspektiven von Frauen und Reflektionen sozialer und philosophischer Aspekte als Grundlage für die Entwicklung von sozialen Beschreibungen und normativen Argumenten genutzt (vgl. ebd.). Die Bedeutung des moralischen Respekts, die Verbindung von Individuen zu sozialen Kollektiven werden zusammen mit zeitgenössischen Themen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe und Drogenbehandlung für schwangere Frauen behandelt (vgl. Young 1997). Ein Ziel von Intersecting Voices ist das Anregen des Denkens in den Bereichen, in denen Frauen und Männer immer noch bezüglich sozialer Gerechtigkeit benachteiligt sind (vgl. ebd.). In dem Buch Inclusion and Democracy stellt Young die Inklusion bei der Entscheidung demokratischer Aspekte in den Vordergrund. Hierbei wird aus der Perspektive der Normen der demokratischen Kommunikation, des Prozesses der Repräsentation und politischer Juristifikation das Ziel verfolgt das Verständnis von demokratischer Kommunikation unter der Reflektion positiver politischer Funktionen des Narrativen und öffentlichen Protests verfolgt (vgl. Young 2000).

In dem früheren Werk Throwing Like a Girl: And Other Essays in Feminist Philosophy and Social Theory (1990) geht Young auf feministische Sozialtheorien und die weibliche Körpererfahrung ein, wobei die Essays Themen wie Frauenbewegungen, Schwangerschaft, Kleidung und den weiblichen Körper beinhalten (vgl. Young 1990). Die Essays rufen Fragen über Frauen und Bürgerschaft, die Verbindungen von Kapitalismus und Frauenunterdrückung und die Unterschiede zwischen einer feministischen Theorie, die Unterschiede zwischen Frauen hervorhebt und einer, die von einer gender-neutralen Menschlichkeit ausgeht hervor (vgl. ebd.).

Darüber hinaus werden von Young in Justice and the Politics of Difference (1990) Aspekte wie Gerechtigkeitstheorien wie auch Unvoreingenommenheit und formelle Gleichheit behandelt (vgl. Young 1990). Sie argumentiert zudem für ein Prinzip der Gruppenrepräsentation in der Demokratie und eine gruppendifferenzierte Politik und Strategie, die inklusiv ist und nicht nur von einem homogenen Volk ausgeht (vgl. ebd.).

Literaturverzeichnis:

Klump, Maren (2020): „Black Lives Matter: Geschichte der wachsenden Bewegung in den USA“, in: Merkur, aufgerufen über: https://www.merkur.de/politik/black-lives-matter-bewegung-hashtag-rassismus-afroamerikaner-polizeigewalt-13786901.html

Richard Rothstein, Richard (2020): “The Black Lives Next Door”, in: The New York Times, aufgerufen über: https://www.nytimes.com/2020/08/14/opinion/sunday/blm-residential-segregation.html

Schonwald, Josh (2006): „Iris Marion Young, 19490-2006”, in: The University of Chicago News Office, 2.08.2006, aufgerufen über: http://www-news.uchicago.edu/releases/06/060802.young.shtml

Schulz, Lotti (2020): „#BlackLivesMatter: Globale Proteste machen Hoffnung auf Veränderung“, in: Heinrich Böll Stiftung – Heimatkunde – Migrationspolitisches Portal, aufgerufen über: https://heimatkunde.boell.de/de/2020/06/08/blacklivesmatter-globale-proteste-machen-hoffnung-auf-veraenderung

Young, Iris Marion (1990): Throwing Like a Girl: And Other Essays in Feminist Philosophy and Social Theory, Indiana University Press.

Young, Iris Marion (1990, Auflage von 2011): Justice and the Politics of Difference, Princeton University Press.

Young, Iris Marion (1997) Intersecting Voices: Dilemmas of Gender, Political Philosophy, and Policy, Princeton, New Jersey.

Young, Iris Marion (2000, Auflage von 2002): Inclusion and Democracy, Oxford.

Young, Iris Marion (2011): Responsibility for Justice, New York.

Bildquellen:

https://en.wikipedia.org/wiki/Iris_Marion_Young

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