Rahel Jaeggi
(Autorin: Isabell Höpken)
Biographie:
Dr. Rahel Jaeggi ist nicht nur Professorin an der Humboldt-Universität in Berlin für praktische Philosophie, Sozialphilosophie und Humanities and Social Chance Center Berlin, sondern auch ein starkes Vorbild für jede Frau, die sich selbst schätzt und eine starke Meinung vertritt. Für unsere aktuelle Zeit – also im Jahr 2020 – ist sie eine der absoluten Spitzenreiterinnen der Philosophie und prägt mit ihren Werken die Gegenwart. Sie hat sich mit vielen philosophischen Problemen auseinandergesetzt und verschiedene Werke verfasst.
Darunter fallen Werke, wie „Kapitalismus“, „Einführung in die Sozialphilosophie“, „Die Kritik von Lebensformen“ und aktuell auch Beiträge zur Corona-Krise. Herausstellen möchte ich in diesem Blogeintrag ihr Werk zum Entfremdungsbegriff.
Mit dem Entfremdungsbegriff hat sich Rahel Jaeggi schon während ihres Studiums an der Universität in Berlin beschäftigt (vgl. Jaeggi 2005, S.18). Sie arbeitet das frühere Verständnis des Begriffes erneut auf und stellt ihn für unsere Zeit und auf unser Weltbild angepasst neu dar. So lautet eben auch zeitgemäß der Titel ihres Buches „Entfremdung – Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems“. Sie betrachtet den Begriff nicht rein philosophisch und analytisch, sondern auch im Kontext mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Ereignissen. Ihr gesetztes Ziel ist es, den Entfremdungsbegriff als sozialphilosophischen Grundbegriff zu vergegenwärtigen (vgl. ebd., S.12). Jaeggi bezieht sich auf gut verständliche und lebensnahe Beispiele aus unserer Gesellschaft und Kultur, um den Leser mitzunehmen. Auch die Gefühlswelt, welche Entfremdung mit sich bringt, wird konkretisiert und verständlich dargestellt. Um einen Überblick über den Umfang und die Komplexität des Themas zu verschaffen, werden nachfolgend mehrere Themen zum Entfremdungsbegriffs aus Jaeggis Werk angeschnitten.
Dieser Blogbeitrag ist in drei Teile gegliedert. (Zur Vereinfachung des Leseflusses werde ich auf die Darstellung präziser Geschlechterrollen verzichten und lediglich die männliche Ausdrucksform nutzen, dabei möchte ich darauf hinweisen, dass hierdurch eine Diskriminierung meinerseits nicht zum Ausdruck gebracht werden soll.) Beginnen werde ich mit dem Begriff Entfremdung und dessen Phänomenen. Daran anknüpfend erfolgt eine kurze Übersicht zur allgemeinen Entfremdungstheorie. Der zweite Teil ist eine Darstellung zu den drei großen Kernbereichen aus Jaeggis Werk, den sozialphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Aspekten sowie dem ethischen Problem. Weiterhin habe ich eine These Jaeggis dargestellt und mit meinen eigenen Gedanken frei verknüpft. Zum Schluss folgt ein abschließendes Fazit mit einem Ausblick und Kritik an Jaeggis Werk.
Sofern Freiheit […] voraussetzt, dass man sich das, was man tut, und die Bedingungen, unter denen man es tut, zu eigen machen kann, ist die Überwindung von Entfremdung Voraussetzung für die Verwirklichung von Freiheit. (Jaeggi 2005, S.21).
Vorstellung des Werks Entfremdung
In diesem ersten Teil wird der Begriff der Entfremdung grundlegend dargestellt. Sich „etwas fremd fühlen“ dürfte ein allgemein bekannter Begriff sein, z.B. ist jeder schon einmal einem Fremden begegnet oder man erscheint sich selbst fremd, wenn nach einer langen Nacht morgens in den Spiegel schaut. Fremd bedeutet hier soviel wie unbekannt oder nicht vertraut. Weiter bedeutet „sich entfremden“ für viele von uns auch, sich man von etwas entfernen. Jaeggi spricht von Phänomenen der Entfremdung (vgl. ebd., S.21) Es gibt viele Situationen, auf die der Begriff zutrifft. Wenn einem gesagt wird, man sei nicht man selbst, fällt dies ebenfalls unter die Kategorie der Entfremdung. Denn wenn ich nicht ich selbst bin, wer bin ich denn dann? Ein Fremder?
Fremd sind für einen selbst teils auch eigene Tätigkeiten. Ein Beispiel dafür wäre es, wenn man in einer Notsituation, wie einem Unfall plötzlich vollautomatisch erste Hilfe leistet, obwohl einem nicht bewusst war, dass man die benötigten Fähigkeiten besitzt, da man eigentlich keinen Bezug zur Medizin in dem Sinne hat. Es können aber auch Tätigkeiten von jemandem ausgeführt werden, die nicht den Ansprüchen ihrer Definition entsprechen. Beispielsweise ist die Aufgabe eines Mauerers, eine Wand zu Mauern oder die Fassaden zu verkleiden. Legt der Maurer stattdessen nun aber elektrische Leitungen in die Wände, so hat er seine Funktion nicht erfüllt und gilt in seiner Funktion als entfremdet. Alternativ kann man auch einen Politiker heranziehen, dem es wichtiger ist, viele Umsätze zu erzielen, als in der Politik die Interessen der Bürger zu vertreten. Der Politiker kommt seinem eigentlichen Zweck nicht mehr nach und ist somit nicht nur ein unzuträglicher Politiker, sondern möglicherweise überhaupt keiner mehr.
Weiterhin kann Entfremdung auch eine Entwurzelung oder Heimatlosigkeit sein, die auf den Verlust der Identifizierung mit seinem Ursprung zurückzuführen ist (vgl. ebd., S.23). Wenn beispielsweise meine Meinung und Lebensart extrem von der meiner Eltern abweicht, so fühle ich mich ihnen fremd, oder sie fühlen sich auch mir fremd. Wie sich daran erkennen lässt, besteht immer ein Verhältnis zwischen verschiedenen Parteien oder Dingen, die man dann als entfremdet bezeichnet. So ist Entfremdung, „eine Beziehung zur Beziehungslosigkeit“ (Jaeggi 2005, S.20).
Die Entfremdungstheorie
Wie gerade an dem allgemeinen Entfremdungsbegriff festgestellt handelt die Entfremdungstheorie maßgeblich von Beziehungen und Relationen zueinander, welche man versucht zu bestimmen. Zunächst muss man dazu die Dinge und ihren Zweck bestimmen und definieren, bevor man etwas in ein Verhältnis setzen kann. Auch in Jaeggis Theorie verhält es sich ähnlich, denn der Begriff beruht hier auf Prämissen (vgl. ebd., S.7). Laut Jaeggi muss zu Beginn festgestellt werden, wovon man sich denn eigentlich entfremdet. Das heißt im Umkehrschluss, man muss zunächst etwas genau definieren, um dem „Normalzustand“ fremd sein zu können. Damit also etwas als entfremdet gilt, muss es sich von etwas entfernt haben, demjenigen fremd sein, was als die eigentliche Natur des Menschen, als dessen Essenz gelten kann (vgl. ebd., S.7).
Die weitere Analyse setzt demnach, wie bei Rousseau und Marx, auch bei Jaeggi eine Wesensbestimmung des Menschen voraus. Der Zustand der Entfremdung ist nach Jaeggi aus sozialphilosophischer Sicht ein Produkt der Moderne, das sie in ihrem Werk beschreibt. Dazu bezieht sie sich auf den auf den traditionellen bereits existenten Entfremdungsbegriff und verknüpft diesen mit dem modernen Freiheitsbegriff. Rundum hat sie den Begriff überarbeitet und neu transformiert.
Historischer Bezug
Für die Darlegung ihres Entfremdungsbegriffs greift Jaeggi an verschiedenen Stellen ihres Werkes auf den historisch geprägten Entfremdungsbegriff zurück.
Der historische Rückblick beginnt mit dem klassischen Entfremdungsbegriff, den Marx schon in Verbindung mit seinem Freiheitsbegriff genutzt hat. Sie erklärt den Begriff ebenfalls über die Lohnarbeit. Der Mensch fungiert als Werkzeug für kleinschrittige, stupide Produktionsleistungen, die insgesamt ein Produkt aus vielen Einzelschritten beschreibt. So verfehlt hier der Mensch seine Funktion als Mensch, im Sinne des vernünftigen Lebens und ebenso in der Glückseligkeit. Trotz der ursprünglichen Übereinstimmung mit dem Marx‘schen Gedankengang grenzt sie sich mit ihrer Theorie im Anschluss an diese Einführung des Begriffs von Marx Entfremdungskritik stark ab. Ihr Einwand lautet, dass der Mensch manchmal trotz (oder sogar wegen?) dieser Entfremdung glücklich zu sein scheint. Wie lässt es sich erklären, dass jemand entfremdet ist, sich aber nicht fremd zu fühlen scheint?
Um diese Frage zu beantworten, geht Jaeggi einerseits auf das ethische Problem der Entfremdung ein, das eng mit dem sozialphilosophischen Teil zusammenhängt, in dem die Entfremdung als sozialphilosophischer „Schlüsselbegriff“ ausgewiesen wird. Andererseits betrachtet sie Entfremdung als gesellschaftstheoretischen Grundbegriff. So scheint es wichtig, die verschiedenen Dimensionen zu berücksichtigen. Die Differenzen zwischen Dingen entstehen nicht etwa durch den Gegenstand, also die Dinge an sich, sondern durch die verschiedenen Dimensionen, die ihren Ursprung in den verschiedenen Perspektiven, aus denen man die entfremdeten Dinge und Sachlagen betrachtet, haben (vgl. ebd., S.20).
Vorwiegend handelt diese Theorie von Verhältnissen zwischen unterschiedlichen Dingen zueinander. So ist die Definition, dass die Entfremdung eine Beziehung der Beziehungslosigkeit ist, so gemeint, dass man zu allen Dingen, Menschen und Situationen kontinuierlich in einer Beziehung steht und man auch in einem Verhältnis zur Orientierungslosigkeit in der Welt, die einem fremd erscheint, steht. Denn zur fremden Welt steht man wiederum in einem Verhältnis. Eine grundlegende Frage der Entfremdungsthematik ist zudem, wie wir leben wollen, nicht etwa was das Leben ausmacht (vgl. ebd., S.15).
Verschiedene Bereiche der Entfremdung
Das ethische Problem mit der Entfremdung
Kommen wir nun zu dem ethischen Problem, welches sich auf zwei Aspekte der Entfremdung beziehen lässt, dem Sozialphilosophischen und dem Gesellschaftstheoretischen, die an dieser Stelle miteinander einhergehen. Beginnen wir mit dem sozialphilosophischen Aspekt. Das ethische Problem ist hauptsächlich ein Problem der Einzelperson. (Man kann es sich vielleicht vorstellen wie eine Art Midlife-Crisis.) Viele von uns haben das Ziel und den Sinn unseres Lebens bereits gesucht und das Leben, wie es bisher verlaufen ist hinterfragt. Jaeggi beschreibt dies unter dem Begriff des verfehlten Lebens einzelner Individuen (vgl. ebd., S. 15). Viele Menschen hinterfragen oft auch, wie man an diesen Punkt seines Lebens gekommen ist und wie man an seiner Gesamtsituation, wenn man denn unzufrieden damit ist oder man sich „sich selbst fremd“ fühlt, etwas ändern kann.
Die Frage – „Wie bin ich an diesen Punkt meines Lebens gelangt?“ – beantwortet Jaeggi damit, dass man seine Handlungsfreiheit oft nicht bewusst genug nutzt (vgl. ebd., S.59-60). Als Beispiel führt sie einen fiktiven jungen Mann an, der eine Familie gründet und auf ein Leben zurückblickt, das er sich so nicht vorgestellt hatte und für ihn unerklärlich ist. Beginnend mit einer Heirat und Kindern bis hin zu spießigen Gartenpartys. Der junge Mann fühlt sich hier nicht, als hätte er selbst diese Entscheidungen getroffen (vgl. ebd., S. 81). Sie beschreibt es letztendlich als eine Reihe von verketteten Entscheidungen, die in der Situation als das „Zutuende“ von der Gesellschaft vorgelebt wurde und ebenso auch das Richtige zu sein schien. Das Leben entwickelt eine Art Eigendynamik, aufgrund von gesellschaftlichen Standards, durch die wir dauerhaft beeinflusst werden. (vgl. ebd., S.86)
Dadurch gewinnt das Gefühl der Machtlosigkeit die Oberhand. Offenbar entscheiden wir alle nie aktiv wie wir unser Leben leben, sondern durch eine Reihe von Einflüssen. Wir leben unser Leben demnach passiv, da das Leben diese Eigendynamik als aktive Leitung hat. Durch dieses Problem entsteht zum einen ein Lebensgefühl, das sich zu einer Basis von Gleichgültigkeit und Indifferenz entwickelt und zum anderen eben das Gefühl von Machtlosigkeit fördert. (vgl. ebd., S.88) Man kann also die Welt niemals „von außen“ betrachten, da man durch diese Verwicklung die praktischen Geschehnisse in der Welt auch immerzu beeinflusst wird (vgl. ebd., S. 41). Außerdem kann man dadurch nicht frei und unvoreingenommen entscheiden. Man ist also nicht mehr „Herr der Situation“. Man kann in dieser Situation nicht mehr so entscheiden, dass die Entscheidung frei von gesellschaftlichen Einflüssen ist. So kommt es außerdem zu einer Einschränkung der persönlichen Freiheit, die man jedoch teilweise selbst verschuldet (vgl. ebd., S .95). Denn mit jeder Entscheidung folgen auch Konsequenzen, für die wiederum eine neue Entscheidung getroffen werden muss (vgl. ebd., S. 95). (Ganz nach dem Motto, wer A sagt muss auch B sagen.) In dem genannten Beispiel hat der junge Mann sich entschieden seine Freundin zu heiraten und eine Familie zu gründen, „weil man das eben so macht.“ Die darauffolgenden Entscheidungen hat er dann auf der Basis dieser Folgen getroffen, was eine Folgenkette mit sich bringt und dann dazu geführt hat, dass er sich plötzlich fremd in seinem Leben fühlt. Doch er hat diese Entscheidungen frei getroffen, denn niemand hat ihn dazu gezwungen. Oder ist diese Entscheidung gar nicht so frei gewesen? Denn wenn wir davon ausgehen, dass alles mit allem in einem Verhältnis steht, und jedes Verhältnis oder jede Beziehung, Einfluss aufeinander nimmt, dann unterliegt auch der junge Mann einem Einfluss, in diesem Fall wohl dem Einfluss der Gesellschaft. Demnach geht es hier durchaus auch um die Freiheit eines Willens, und darum, dass dieser Wille nicht mehr frei sein kann. Spezifischer geht es um die Heteronomie des Willens, durch den der Wille von einem fremden Gesetz, anstelle des Eigenen gesteuert wird (vgl. ebd., S. 90). Dennoch ist es nicht die reine Fremdbestimmung, die einen dazu verleitet sich für etwas zu entscheiden, sondern auch die eigenen Bedürfnisse und Wünsche (vgl. ebd., S.102) Durch das bewusste, eigene Entscheiden über das, was man eigentlich will, würde es zu diesem Zustand der reinen Fremdbestimmung nur schwerlich kommen. Hätte der junge Mann in dem Beispiel der Liebe widerstanden, so hätte er nach dem gesellschaftlich vorgelebten Leben nicht geheiratet und kein Kind bekommen, er wäre nicht aufs Land gezogen und hätte keine spießigen Gartenpartys, die es vorzubereiten gilt. Oder er hätte möglicherweise bewusst deutlich gemacht, wie er mit seiner Freundin sein Kind bewusst an einem anderen Ort ohne Haus und Garten großziehen hätte wollen. Dennoch sind Eigendynamik und Verselbstständigungsprozesse, laut Jaeggi, nicht generell entfremdend, denn ich kann auch ohne die absolute Kontrolle, oder das volle Bewusstsein über alles, mein eigenes Leben als ebendieses erleben (vgl. Jaeggi, 2005, S.100). Die aus diesem Abschnitt gezogene Lehre sollte sein, dass wir alle unsere Entscheidungen und Handlungen bewusster treffen sollten, wenn es auch unmöglich ist, alles frei nach der Vernunft zu entscheiden und komplett unabhängig von den gesellschaftlichen Normen. Wichtig scheint hier zu sein, dass ebenfalls das Streben nach Glück berücksichtigt wird und man danach schaut, was denn für mich, unabhängig von jeglichen Rollen und Traditionen in der Gesellschaft, das Leben ausmacht! Was sind meine Individuellen Bedürfnisse und Wünsche? Wie möchte ich leben?
Selbstentfremdung
War sich nicht jeder selbst schon einmal fremd? Denn das Gefühl von Selbstentfremdung ist verbreiteter als es den meisten Menschen bewusst ist. So kommt man sich selbst durch emotionale Reaktionen wie beispielsweise Eifersucht, fremd vor, wenn man eigentlich die Ruhe in Person ist und dann plötzlich „aus der Haut fährt“. Man spricht dann schnell davon, dass man nicht „man selbst“ war. Aber um so eine Aussage zu treffen, muss man zunächst einmal wissen, was es bedeutet „man selbst“ zu sein. Daher beruht der Begriff der Entfremdung auf verschiedenen Prämissen. Aus dem Bereich der Sozialphilosophie stammend setzt der Begriff voraus, dass das Wesen beim Menschen bereits bestimmt wurde.
„Das was als entfremdet diagnostiziert wird, muss sich von etwas entfremdet haben, demjenigen fremd geworden sein, was als die eigentliche Natur des Menschen, seine wahre Essenz gelten kann.“ (Jaeggi, S. 7)
In ihrer Grundannahme geht sie von einer Welt aus, in der ein festes Konstrukt bereits besteht, in der alles seine Bestimmung hat und die Verhältnisse mit der bloßen Existenz bereits bestehen. Dabei ist die Bestimmung des Zwecks von Dingen eine Utopie, die für diese Theorie genutzt wurde (vgl. ebd., S.41). Nehmen wir an die Welt wäre nach unseren individuellen Wünschen beispielsweise nur friedlich angelegt worden. Dann können wir gleichzeitig sicher sein, dass es eine solche Welt in einem optimalen Zustand nicht geben kann. Einerseits kann es eine rein friedliche Welt nicht geben, da es ohne Krieg auch keinen Frieden geben kann und andererseits kann der optimale und perfekte Zustand niemals erreicht werden, da dies nur eine Vorstellung eines Individuums ist und für jedes Individuum der perfekte Zustand subjektiv und anders wäre. So ist die wahre Essenz des Menschen in sich, schon schwer bestimmbar. Der Mensch ist nun mal ein Individuum mit Vernunft und Trieben. So ist man auch beständig in praktische Handlungssituationen der Welt eingebunden und steht in einem kontinuierlichen Verhältnis zu dieser und allem was mit ihr existiert.
Zurück zu unserem hypothetischen Selbst: Wenn also ein Teil meines Wesens ausmacht, dass ich über ein ruhiges Gemüt verfüge, so lässt mich meine Eifersucht, die aus einem Verhältnis zu einer Situation entsteht, mich mir selbst fremd werden. Denn ich bin durch diese Beeinflussung von der Welt dazu gezwungen meine Komfortzone zu verlassen und befinde mich in einem mir befremdlichen Zustand. Gleichzeitig wirke ich auch auf Personen, die mich kennen befremdlich, während ich mich in dem Zustand, der Eifersucht befinde und dem Zustand eigen und angepasst bin, also ihm entspreche. An dieser Stelle wird nochmal deutlich, dass Entfremdung eine Frage der Perspektive ist. Dieses Konstrukt, dass es einen Normalzustand geben müsse, um sich von eben diesem zu entfremden, nutzt Jaeggi als Basis für ihre weitere Darstellung des Entfremdungsbegriffes. Die Dimensionen des Entfremdungsproblems baut sie auf ebendieser Basis auf und setzt diese miteinander in einen Zusammenhang. Spätestens jetzt wird deutlich, dass es keine einfache Definition oder allgemeine Beschreibung dieses Begriffes geben kann, weil der Begriff der Entfremdung aus vielen verschiedenen Perspektiven vielfältig zu betrachten ist, da Entfremdung zwischen zwei Individuen, zwischen Mensch und Gegenstand, Mensch und seiner Selbst entstehen kann. Daher betitelt Jaeggi ihre Arbeit auch als konzeptuelle Rekonstruktion und nicht als Definition, eben weil sie viele Arten der Entfremdung darlegt und deren Ursprung hinterfragt, was ich wiederum als sehr passend empfinde.
Der sozialphilosophische Schlüsselbegriff
Entfremdung beginnt als sozialphilosophischer Schlüsselbegriff mit der Erkenntnis, dass sich soziale Pathologien, in Form von Beeinträchtigungen der Individualität des Einzelnen erkennen lassen. Man versteht das in der Gesellschaft als Krankheit, Leid oder Fehler, da es als Abweichung von der Norm gilt. So kann sich der Einzelne mit der gesellschaftlichen Lebensform möglicherweise nicht mehr identifizieren und selbstverwirklichen (vgl. Jaeggi, 2005, S.15). Das Leiden entsteht hier aus der subjektiven Triebhaftigkeit des Einzelnen, die von anderen abweicht. Das heißt, einfach gesagt: jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen, Wünsche und Gedanken. Jeder hat eine Vorstellung davon, wie er sein Leben erleben oder leben möchte. Ist es aber abweichend der gesellschaftlichen Vorstellungen, so stellt dies ein Problem dar, denn von da an beginnend ist man anders und wird als „anormal“ begriffen. Generell geht es hier um die Annahme verschiedener Rollen innerhalb einer Gesellschaft, die man auf gewisse Weise erfüllen sollte. Gleichzeitig wird der Blick hier auf die sozialen Beziehungen zueinander gerichtet (vgl. Jaeggi, 2005, S. 16). Individuelle Lebensformen werden also oft als entfremdet beschrieben, gesellschaftliche Zustände als verfehlt oder als falsch dargestellt. Das wiederum geschieht nicht aufgrund fehlender Gerechtigkeit, sondern wegen fehlender gesellschaftlicher Normen. Prägend sind dafür Sätze wie, „so gehört sich das“ oder „das haben wir schon immer so gemacht“. So ist das klassische Bild einer Familie in unserer Gesellschaft erst einmal durch die Rollen von Vater, Mutter und Kind ausgezeichnet. Wird dieses Bild verändert, beispielsweise durch zwei Väter oder zwei Mütter, so scheint das schon dem gesellschaftlichen Begriff der Familie entfremdet zu sein, auch wenn es de facto nicht falsch ist oder nicht weniger eine Familie ausmacht. Es kommt wiederum nicht darauf an, von was wir uns entfremden, sondern wie. Sind wir es, die sich aktiv mit dem freien Willen davon entfremden oder gelten wir passiv in der Gesellschaft als entfremdet? Wie ist es möglich, dass dieser Zustand überhaupt als entfremdet von Teilen der Gesellschaft erachtet wird? Wenn es hier doch vielmehr um eine gerechte und gute Gesellschaft gehen sollte. Um Freiheit und Glück und vor allem um die Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung (vgl. Jaeggi, 2005, S. 16). Jaeggi macht im Zusammenhang ebenfalls deutlich, dass der ethische, mit dem sozialphilosophischen Aspekt eng verknüpft ist (vgl. Jaeggi, 2005, S.16). Denn der Maßstab für das erfüllte und glückliche Leben liegt nicht in der Gesellschaft, sondern vielmehr im Individuum, denn für jeden ist das erfüllte und glückliche Leben zunächst etwas anderes. Wobei man bedenken muss, dass man keinen objektiven Maßstab setzen kann, ohne das Individuum in irgendeiner Weise einzuschränken. Das wiederum lässt auf den Begriff der Freiheit in der Gesellschaft verweisen (vgl. Jaeggi, 2005, S.60).
Entfremdung als gesellschaftstheoretischer Grundbegriff
Der dritte große Bereich der Entfremdung ist als gesellschaftstheoretischer Grundbegriff zu verstehen. Entfremdung gilt hier als der „Schlüssel zum Verständnis der Funktionsweise bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften“ (Jaeggi, 2005, S.16). Denn Entfremdung erklärt die ökonomischen Entwicklungen und die damit einhergehenden Umstände, in der kapitalistischen Gesellschaft. Für eine kritische Analyse des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist der Begriff also unabdingbar. (vgl. Jaeggi, 2005, S.8) Jaeggi greift in anderem Zusammenhang an dieser Stelle erneut auf die Theorien von Marx und Rousseau zurück, bei denen die größten Probleme des Kapitalismus, die Entfremdung von Arbeit und die damit einhergehende Einschränkung der individuellen Freiheit sind. Beispielsweise funktioniert Kapitalismus darüber, dass der Mensch, als einfacher Arbeiter, wie bereits erwähnt, seiner stupiden Aufgabe nachkommt. Während er weder darüber nachdenken muss, noch ein finales Ziel mit diesem Teil der Produktion erreicht, so ist er hier bereits eingeschränkt im Denken. Weiterhin wird er als eine Art Werkzeug genutzt, um möglichst viel und effektiv zu arbeiten. Doch das Endprodukt wird hier nie mit einem einzelnen Menschen verbunden. Es ist ein Teil des Ganzen, aber sinnlos in sich. So erfüllt der Mensch nur im entferntesten Sinn seinen Zweck und ist demnach auch zweckentfremdet. Zumal der Mensch auch hier wieder in seiner Freiheit eingeschränkt wird, denn er verrichtet diese Arbeit nur aus dem Zweck des Selbsterhalts, da man die erwirtschafteten Mittel zwingend zum Leben benötigt. Ein weiterer Aspekt ist die fremdbestimmte Gier nach Konsum. Benötigen wir wirklich die Menge an Kleidung, die ein jeder in unserer Gesellschaft im Kleiderschrank hat? Oder würde es auch genügen, wenn man sich mit einem Satz Kleidung zufriedengeben würde, um einfach gekleidet zu sein? Denn zum reinen Selbsterhalt benötigt man eine solche Menge an Kleidung nicht. Was also treibt uns dazu, die Menge an Kleidung zu konsumieren? Sind wir nicht auch hier fremdbestimmt durch die Einflüsse der Welt und entfremdet von dem eigentlichen Zweck des Menschen? Und ist der eigentliche Zweck von Kleidung nicht im Gegenzug auch entfremdet, wenn man den Großteil ungenutzt im Schrank hängen hat? Zudem kann man sich an dieser Stelle wieder die Frage stellen, wie will ich leben? Und habe ich diese Entscheidung, in ein Kaufhaus zu gehen, um noch mehr zu konsumieren wirklich frei getroffen? Unschwer lässt sich aus allen drei Bereichen erkennen, dass der Aspekt der Freiheit der Entfremdung direkt gegenüber zu stehen scheint.
Entfremdung vs. Freiheit
Dieser Teilabschnitt des dritten Kernbereichs soll die Beziehung von Freiheit und Entfremdung zueinander verdeutlichen.
Die Begriffe Entfremdung und Freiheit sind eng miteinander verbunden (vgl. ebd., S. 60). Jaeggis These lautet hier: „Entfremdung lässt ich als besondere Form des Freiheitsverlusts verstehen, als Behinderung dessen nämlich, was man „positive Freiheit“ nennen kann.“(Jaeggi, 2005, S.60) So beginnt die Einschränkung des Individuums bereits mit dem statischen Verhältnis verschiedener Rollenbilder in der Gesellschaft und endet mit den Einschränkungen oder Problemen der Selbstverwirklichung, die zum individuellen Glück oder Leben beitragen. Als Beispiel kann hier die Entscheidung einer europäischen Frau einem Harem anzugehören herangezogen werden. Ebendiese Frau gibt an, dass es sie glücklich macht in einer solchen Konstellation zu leben. Demnach hat sie sich durch eine bewusste Entscheidung einem solchen untergeordnet. So ist sie frei in ihrer Entscheidung und ihrem Willen, zu tun wonach ihr der Sinn steht. Nach den Rollenbildern in unserer europäischen Gesellschaft, wäre das fatal, denn ich würde meiner Rolle als Frau nicht entsprechen und wäre dieser fremd. Denn meine Aufgabe ist es eine klassische Ehefrau mit einer Familie zu sein, da es in dem Bild unserer Gesellschaft so veranlagt ist. Meine positive Freiheit, die also die Fähigkeit zur Verwirklichung von seinem Selbst, Wünschen und wertvollen Zielen beschreibt, ist hier also eingeschränkt (vgl. ebd., S.61). Etwas fremd sein, bedeutet im Umkehrschluss also frei von etwas zu sein, demnach ist man in dem vermeintlichen Zustand, nach dem man etwas nicht fremd ist, also eingeschränkt. Um das zu vereinfachen:
Die Frau in unserem Beispiel ist glücklich in ihrem Harem. Sie entspricht aber nicht unserer europäischen gesellschaftlichen Norm. Sie ist also dieser Norm fremd, aber frei in ihrer Entscheidung. Nimmt sie stattdessen nun die klassische Rolle der europäischen Frau an, entspricht sie unserer Norm, ist aber nicht mehr frei in ihrer Entscheidung, da sie sich unseren gesellschaftlichen Einflüssen fügt. Demnach dürfte die Frau auch nicht glücklich sein. Trotzdem kann jemand der unter gesellschaftlichen Einflüssen handelt vermeintlich glücklich sein, weil er seine Umstände akzeptiert hat, ohne diese weiter zu hinterfragen. Der Person ist jedoch auch gar nicht bewusst, dass es nicht die freie Entscheidung und der eigene Wunsch gewesen ist sein Leben auf diese Weise zu führen. Daher ist diese These dennoch schwierig, denn jemand der nicht seinen Wünschen nachkommt und sich verstellt, um in die Norm zu passen, ist weder frei noch individuell glücklich. Weiterhin kann man den optimalen Zustand, den die Gesellschaft fordert, nicht erreichen, da der Mensch als Individuum stetig veränderte Ansprüche und Bedürfnisse hat. Zudem schafft auch die Gesellschaft durch ständige Weiterentwicklung dauerhaft unterschiedliche Ansprüche, sodass ein perfekter Zustand niemals erreicht werden kann. Jaeggi spricht hier im Rückblick von dem Versöhnungsideal (vgl. ebd., S. 20).
Wichtig ist Jaeggi dann weiterhin, dass es um das „wahrhafte Wollen“ geht, also vor allem darum, dass ich, in dem was ich will, frei sein kann. Ich kann demnach über meinen freien Willen verfügen, so dass dieser überhaupt als mein eigener Wille gilt. Es geht bei dieser Auffassung nicht um das Ziel des Wollens, sondern um das „Wie“. Wie kann ich etwas Wollen, frei oder nur unter Einschränkungen? Jaeggis Bezug liegt auf dem subjektiven Wollen, sowie den Vorstellungen der Individuen. Zusammengefasst bedeutet das, dass ich immer abhängig von meiner persönlichen Stellungnahme entscheiden kann und sollte, ob etwas für mich gut ist und davon, ob ich etwas will (vgl. ebd., S. 59).
Entfremdung setzt bei diesem „wahrhaften Wollen“, welches das moderne Versprechen der Selbstbestimmung beschreibt und aus der freien Entscheidungsfindung bestehen sollte, die Grenzen (vgl. Roedig 2017). Diese durch Entfremdung gesetzten Grenzen im Sinne von gesellschaftlichen Faktoren, die uns bewusst oder unbewusst beeinflussen, schränken unsere Freiheit und somit das „wahrhafte Wollen“ ein. Es werden also Grenzen durch Entfremdung gesetzt, übertritt man sie, so ist man zwar frei, aber gleichzeitig fremd und zwar metaphorisch als auch faktisch.
Selbst- und Weltentfremdung
Nachdem wir uns jetzt einen Überblick über die drei großen Themen der Entfremdung verschafft haben, möchte ich gerne zu Jaeggis These „Sich von sich selbst entfremden bedeutet auch sich von der Welt zu entfremden“ Stellung nehmen. So kann das eine nicht ohne das andere sein, da beides in dem bereits beschriebenen kontinuierlichen Verhältnis zueinandersteht. Entfremdest du dich also von dir selbst, dann bist du auch der Welt, in der du lebst, fremd und anders herum. So passt man sich der Gesellschaft an, in der man lebt, um nicht entfremdet oder anders zu sein, aber dadurch bist du nicht mehr du selbst. Und bist du du selbst, bleibst du deinem Individuum treu. Jedoch kannst du somit kein perfektes Ebenbild, geformt aus den Idealvorstellungen der Gesellschaft, darstellen. Veränderst du dich, so verändert sich auch die Welt. Daher ist sich selbst treu zu bleiben und die Welt zu hinterfragen, der Welt fremd zu sein nichts Schlechtes. Im Gegenteil, denn ich denke, wenn man sich gegen absurde Vorstellungen der gesellschaftlichen Norm wendet oder dem vorab beschriebenen Kapitalismus die Stirn bietet, so bringt diese Entfremdung auch immer Veränderungen mit sich. Fühlt sich der Mensch in der Gesellschaft nicht mehr fremd, dann hat der Mensch sich untergeordnet. Denn er hat die Strukturen akzeptiert und hinterfragt diese auch nicht mehr. Man kann dann von der Enteignung des Menschen als Individuum sprechen, da sich dieser sowohl der Gesellschaft als auch dem kapitalistischen System gebeugt hat und seine Funktion als vernunftbegabtes und individuell-freies Wesen nicht mehr erfüllt. Demnach ist Weltfremdheit nichts grundlegend schlechtes, und die damit verbundene Selbstreflexion ist als Folge für die Gesellschaft ebenfalls im besten Fall förderlich und gewinnbringend. Um es nochmal mit Jaeggis Worten zu sagen, „Entfremdung ist eine Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Mit dieser These beschreibt sie das verkümmernde Verhältnis des Individuums zur Welt, welches gleichzeitig den Bezug zu sich selbst verliert. Dieser Bezugsverlust, der, nach meinem Verständnis, eine Art Orientierungsverlust darstellt, führt dann zur Hinterfragung und Kritik an dem gesellschaftlichen System. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen scheint dadurch seinem ursprünglichen Zweck wieder näher zu sein, da er so gezwungen ist Dinge zu hinterfragen.
Fazit
Ich denke, dass Jaeggis Theorie durchaus wichtig für die Philosophie ist. Darüber hinaus ist die Aktualisierung dieses Begriffes aber noch wichtiger für die Gesellschaft, in der wir leben. Die wenigsten Menschen realisieren, wie sie leben und noch weniger leben sie ihr Leben bewusst. Dabei ist der Punkt des ständigen Hinterfragens von sämtlichen Dingen unendlich wichtig. Beispielsweise ist die Akzeptanz und Toleranz von Menschenrechtsverletzungen durch das mangelnde Interesse an anderen Menschen (exemplarisch in Bezug auf das aktuelle Thema: Camp Moria) schockierend hoch. Soziale Medien informieren über solche Situationen, aber dennoch liegt es vielen Menschen fern, etwas zu unternehmen, weil Ihnen der Bezug zu den Menschen und auch deren Situationen fehlt und dadurch fremd sind. Beachtet und kritisiert wird das Leben erst dann bewusst, wenn das Individuum sich bereits in dem ihm fremden Zustand wiederfindet. Es ist so, als würden die Menschen zwar über Vernunft verfügen, sie aber erst anwenden, wenn es zu spät ist. Befindet der Mensch sich also in einem glücklichen Lebensabschnitt, wird nur nach den Emotionen gehandelt, so dass die Wünsche und Bedürfnisse möglichst schnell und einfach gestillt werden. Die Konsequenzen ihres Handelns werden solange außen vorgelassen, bis sie sich mit ihrem Leben nicht mehr identifizieren können. Die Menschen in unserer Gesellschaft steuern somit ungewollt einem Zustand entgegen, in dem für das Individuum alles fremd ist.
Diese Entfremdung geschieht unter anderem dadurch, dass unsere Leben sich nur noch nach „sehen und gesehen werden“ ausrichten. Das Nutzen von diversen sozialen Medien ist dafür ein Beispiel. Dabei ist die Beeinflussung und der Druck von außen auf das Individuum extrem relevant. Denn die Reichweite lässt zu das extrem viele Menschen eine Person bewerten können, sodass diese sich, um nicht fremd zu wirken anpasst. Passe ich mich dem vorgelebten Stil dann an, bin ich zwar mir selbst fremd, aber ich falle nicht aus dem Bild der Gesellschaft. Genau dadurch fühlt der Mensch sich weniger fremd, denn auch wenn er der Entfremdete ist, ist alles um ihn herum ebenso fremd, so ist er mit dieser Fremdheit nicht mehr allein. Anstatt des alleinigen Fremdseins befindet sich der Mensch aufgrund des Kollektivs in einem Übergangszustand der Zufriedenheit, bis er sich mit sich selbst gar nicht mehr identifizieren kann. Diese Zufriedenheit wird dadurch gefördert, dass schnelle Entscheidungen, wie beispielsweise, das Kaufen von günstigen Konsumgütern zunächst ein Glücksgefühl auslösen. Diese Entscheidungen sind jedoch nach wie vor fremdgesteuert und durch die Gesellschaft beeinflusst. So ist das Konsumverhalten durch die Beziehung zur Gesellschaft beeinflusst und dem Individuum selbst fremd, da es nicht mehr den eigenen Bedürfnissen und Wünschen entspricht. Das führt dazu, dass der Mensch sich zweckentfremdet an Konsumgütern bereichert und weniger Teil an dem gesellschaftlichen Miteinander hat, da materielle Dinge zum Maßstab in der Gesellschaft werden. Der Mensch wird an Besitzgütern gemessen und nicht mehr an seinen Handlungen. Das führt unter anderem auch dazu, dass soziale Kontakte verebben, während das soziale Miteinander eigentlich ein Merkmal des Menschen ist, da der Mensch ein politisch-gesellschaftliches Wesen ist. Dies ist ein Grund dafür, dass der Mensch seinem eigenen Zweck ein gutes Leben zu führen und seine Vernunft zu nutzen fremd wird. Denn er wird durch die Verwicklung in die Welt permanent beeinflusst und muss seine Vernunft zum Überleben nicht mehr nutzen. Das Leben, welches er leben soll, wird ihm stattdessen durch die etablierten Normen der Gesellschaft vorgegeben. Entscheidungen werden aufgrund von Einflüssen getroffen und nicht hinterfragt. Und sollte ein Mensch dann doch seine Vernunft nutzen, und möchte frei und unabhängig seine Entscheidungen treffen, so ist er nicht nur eingeschränkt in seiner Freiheit, sondern fühlt sich der Welt fremd. Man fühlt sich entmachtet und enteignet, da die freie Wahl, wie man sein Leben leben will, nicht gegeben ist. So ist Entfremdung also nach wie vor ein Zeichen für den siegreichen Kapitalismus (vgl. ebd, S.11).
Kritik und Ausblick
Letztendlich ist dieses Werk eine Rekonstruktion und Transformation des Entfremdungsbegriffs von dem ursprünglich inflationär gebrauchten, von Marx bestimmten Begriff zu einem aktuell angepassten und unabdingbaren Begriff zur Analyse und Kritikübung der Gesellschaft. Jaeggi stellt in diesem Werk ihre Theorie ausführlich und nahezu unmissverständlich klar dar. Auch die Aktualität und Wichtigkeit des Entfremdungsbegriffes unter Kritik an der Gesellschaft wird vor allem objektiv und dennoch nah am Leser herausarbeitet. Sie spannt den Bogen über viele Ebenen und Dimensionen zu einem klaren Ziel, wenn es auch keine ausdrückliche Definition des Begriffes Entfremdung ist, wie bereits eingangs beschrieben, so sind ihre Gedankengänge spannend und regen zum Nachdenken an. Mir persönlich hat das Werk sehr gut gefallen und für jeden, der sein Leben, den Staat oder die gesellschaftlichen Sitten gern und auch gern kritisch objektiv hinterfragt, ist dieses Buch spannend und absolut lesenswert. Dargestellt wurden von mir nur einige Ausschnitte und Gedankengänge zu diesem Werk.
Quellenverzeichnis
Jaeggi, Rahel. 2005. Entfremdung – Zur Aktualität eines philosophischen Problems. Suhrkamp.
Roedig, Andrea. 2017. Der Tagesspiegel. [Online] 2017. [Zitat vom: 30.09. 2020.] https://www.tagesspiegel.de/wissen/weltaneignung-entfremdung-ist-eine-stoerung/20167284.html.
Bildquellen:
Von Anjadescartesfire – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=60620400
https://www.suhrkamp.de/buecher/entfremdung-rahel_jaeggi_29785.html