Virginia Held

Virginia Held

(Autorin: Birte Schleebaum)

Biographie:

Virginia Held wurde im Jahre 1929 geboren hat sie sich in ihrem Studium der Philosophie, der Psychologie sowie der englischen und französischen Literatur gewidmet. Bis zur Emeritierung im Jahre 2001 lehrte Held als mehrfach ausgezeichnete Professorin für Philosophie an der City University in New York. Neben der Moralphilosophie beschäftigt sie sich in ihren Arbeiten und Werken ebenfalls mit der Sozialphilosophie, der politischen Philosophie, aber auch der feministischen Philosophie.

Virginia Held (2013)

Gerade zum Ende des 20. Jahrhunderts prägt sie die Debatte der Ethics of care-Bewegung in den USA und entwickelt ihre eigene Care-Ethik. Sie knüpft unter anderem an die bereits bestehenden moraltheoretischen Ansichten der Psychologin Carol Gilligan und der Erziehungswissenschaftlerin und Philosophin Nel Noddings an. Virginia Held will sich jedoch von den veralteten Stereotypen der Geschlechter und insbesondere der von Frauen lösen und die Ideale einer liberalen Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen.
Virginia Held knüpft mit ihrer Care-Ethik auch an die traditionellen ethischen Positionen von Aristoteles, John Stuart Mill und Jeremy Bentham sowie Immanuel Kant an. In der aristotelischen Tugendethik geht es insbesondere um die individuellen Charaktereigenschaften eines Menschen. Der Utilitarismus nach Mill und Bentham beruft sich auf die Konsequenzen menschlicher Handlungen und die Deontologie nach Kant setzt sich mit der menschlichen Vernunft und allgemeingültigen Handlungsanweisungen auseinander. All diese Strömungen beschäftigen sich mit dem einzelnen Menschen und seinen Eigenschaften. Held möchte darüber hinaus jedoch über die zwischenmenschlichen Beziehungen diskutieren und darauf eingehen was es bedeutet fürsorglich zu sein (vgl. Held 2006, 19).
Hat der Care-Begriff nach Virginia Held demnach eine Chance sich in der bisherigen Moralphilosophie durchzusetzen? Dazu ist es wichtig zu wissen, welche Themen Virginia Held interessieren und was es konkret mit der Care-Ethik auf sich hat.

„Care seems to me to be the most basic of moral values. Without care as an empirically describable practice, we cannot have life at all since human beings cannot survive without it. Without some level of caring concern for other human beings, we cannot have any morality. These requirements are not just empirical givens. In every context of care, moral evaluations are needed. Then, without some level of caring moral concern for all other human beings, we cannot have a satisfactory moral theory“
Virginia Held

Vorstellung des Werks The Ethics of Care: Personal, Political, Global

Am Anfang aber steht die Auseinandersetzung mit der Frage, warum es die Care-Ethik neben den bereits bestehenden moraltheoretischen Ansichten überhaupt braucht. Dazu hilft der Blick auf das anfängliche Zitat, um zu verstehen, warum Virginia Held für eine Care-Ethik plädiert. Die Fürsorge für andere Menschen ist der Grundpfeiler des menschlichen Lebens, denn ohne Zuwendung und Pflege kann ein Neugeborenes nicht überleben und genau diese Erfahrung haben wir alle selbst zu Beginn unseres Lebens gemacht. Jeder Mensch hat Fürsorge erfahren und kennt den moralischen Wert der fürsorglichen Beziehungen (vgl. Held 2006, 21). Wir brauchen die menschliche Fürsorge und das Gefühl, dass sich jemand um uns sorgt und kümmert. Diese Tatsache und diese Grundidee bestimmen das Denken von Virginia Held dahingehend, dass die Care-Ethik und die Fürsorge die grundlegendsten moralischen Werte sind (vgl. Held 2006, 73, Übersetzung B.S.).


Wir sprechen in diesem Zusammenhang häufig von Care-Arbeit und der Ethics of care-Bewegung, aber wie kann der vielseitige Care-Begriff überhaupt ins Deutsche übersetzt werden? Der Blick ins englische Wörterbuch zeigt, dass es nicht die eine und richtige Übersetzung gibt, sondern dass hinter jedem Begriff eine bestimmte Idee mitschwingt: Achtsamkeit, Betreuung, Fürsorge, Mühe, Obhut, Pflege, Sorge, Sorgfalt, Versorgung, Vorsicht, Zuwendung – alle Begriffe stehen mit Care in Verbindung, aber keiner beschreibt es einzig und allein. Allerdings verwende ich in diesem Beitrag hauptsächlich den Begriff der Fürsorge, weil ich die Meinung vertrete, dass diese Übersetzung von Care ins Deutsche das moralische Verhalten der Zwischenmenschlichkeit am besten beschreibt. Die Summe aus allen Begriffen prägt die Vorstellung von Care. Worin liegen denn jetzt die Grundsätze der Care-Ethik im Allgemeinen nach Virginia Held?


Care-Ethik statt oder neben Tugendethik, Utilitarismus und Deontologie?

Die Ethik der Fürsorge ist eine moralphilosophische Strömung des 20. Jahrhunderts: Der Moralphilosophie soll mit der Care-Ethik ein neuer und sich entwickelnder Zugang geboten werden (vgl. Held 2006, 5). Die moralphilosophischen Ursprünge, auf die die Care-Ethik aufbaut, liegen unter anderem bei der aristotelischen Güterethik. Nach Held ist das Interesse für die virtue theory, die Tugendethik in den letzten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts stark angestiegen; einige sehen darin eine Alternative für den Utilitarismus und die Deontologie nach Kant, wozu gleich noch mehr gesagt werden soll. Wichtig ist, dass sich diese Theorie auf den tugendhaften Charakter eines jeden Menschen konzentriert: Wenn ein jeder Mensch Gutes tut, braucht es keine weitere Theorie, um moralisches Verhalten zu erklären (vgl. Held 2006, 59). Soweit die Theorie. In der Praxis fragt man sich, wer genau festlegt, was tugendhafte Charaktereigenschaften eines Menschen sind: Welche Antworten kann die Tugendethik auf aktuelle politische und praktische Fragen geben? Wenn es beispielsweise um gesellschaftlich relevante Themen wie die Abtreibung und die Todesstrafe geht, könnte man ja die These aufstellen, dass nach der Tugendethik jeder Mensch tugendhaft sei. Wieso bedarf es dann aber noch der gesetzlichen Regelung in diesen Fällen? Man merkt an dieser Argumentation und auch an den Ausführungen von Virginia Held, dass die Tugendethik sich ausschließlich auf individuelle Dispositionen fokussiert und nicht auf soziale Beziehungen, soziale Praktiken und Werte, die sie unterstützen (vgl. Held 2006, 19–20, Übersetzung B.S.).

Eine weitere moralphilosophische Strömung ist die des Utilitarismus: Diese Ethik ist rationalistisch ausgelegt und auf die Konsequenzen von menschlichen Handlungen ausgerichtet. Es geht im Prinzip – und das bringt auch Virginia Held ganz klar zum Ausdruck – darum, das Wohlergehen aller zu maximieren und ist damit hedonistisch ausgelegt. Held plädiert aber auch dafür, das Nützlichkeitsprinzip weniger als eine Moral der Gerechtigkeit zu verstehen (vgl. Held 2006, 63). Utilitaristische Denkweisen können politische Entscheidungen der Regierungen oft am besten leiten, jedoch nicht so gut um Rechte zu wahren und Fairness zu gewährleisten und sie ist auch nicht für Kontexte von Familienangehörigen und Freunden geeignet; die Besonderheit der Personen (nicht ihre universellen Merkmale) stehen im Vordergrund (vgl. Held 2006, 73).
Die Deontologie ist auch eher rationalistischer Art und beinhaltet unter anderem den kategorischen Imperativ nach Kant. Im Vordergrund der Pflichtenethik steht der Wille, der sich ganz klar von Gefühlen und Emotionen abgrenzt. Das Handeln aus Vernunft steht auf der Tagesordnung, was schon eher einer Moral der Gerechtigkeit nahekommt, wie es Virginia Held auch zum Ausdruck bringt (vgl. Held 2006, 63). Der kantische Ansatz ist für verschiedene rechtliche Kontexte relevant, jedoch nicht für viele andere soziale Bindungen wie Freundschaft und Familie, die in der Care-Ethik eine Rolle spielen (vgl. ebd., 73). Beide Theorien, Utilitarismus und Deontologie, können sich besser mit Fragen des „öffentlichen“ Lebens beschäftigen als mit Fragen des Familienlebens, Freundschaft oder der Gruppensolidarität. Dahingehend sind beide Konzepte eher auf der Seite der Gerechtigkeits-Ethik anzusiedeln als auf der Seite der Fürsorge-Ethik – die Deontologie bezieht diesbezüglich noch ein wenig stärker die Gerechtigkeitsthemen in seine Ethik ein, wenn es um das vernunftgeleitete Handeln geht (vgl. Held 2006, 73).
“We need an ethics of care, not just care itself.”

Die Care-Ethik distanziert sich dahingehend von diesen beiden Konzepten und konzentriert sich auf das Familienleben und Freundschaft, als starke Formen von zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie braucht und respektiert die zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie beispielweise zwischen Eltern und Kindern vorzufinden sind (vgl. Held 2006, 11). Gerade Kinder sind in den ersten Jahren abhängig von den Personen, die sich um sie kümmern und werden daher auch als ihre Bezugspersonen angesehen, sofern sich diese denn um sie kümmern (vgl. Held 2006, 10). Die Care-Ethik sieht den Menschen als relational und interdependent an, d.h. eben von anderen und den Beziehungen zu ihnen abhängig (vgl. Held 2006, 13). Man kann sagen, dass dies unsere Identität und unser soziales Netzwerk bestimmt. Wir können uns aber auch trotzdem noch aus diesen Zwängen befreien und unabhängig werden (vgl. Held 2006, 14); man kann die Entscheidung selbstständig und frei treffen, ob man sich in einem sozialen Netzwerk aufhalten will oder nicht, bleibt einem jeden Menschen selbst überlassen. Die Care-Ethik braucht neben Familie und Freundschaft allerdings noch mehr; sie braucht Emotionen und Gefühle als dass sie diese zurückweist, wie es eher bei der kantischen Pflichtenethik und dem Utilitarismus der Fall ist (vgl. Held 2006, 10). Die Care-Ethik braucht Sympathie und Empathie, genauso wie Empfindsamkeit und Empfänglichkeit für Emotionen, damit sich eine Basis zwischen Menschen schaffen lässt, auf der man aufbauen kann (vgl. ebd.). Virginia Held schreibt zusätzlich zur Care-Ethik: „Wir brauchen eine Fürsorge-Ethik und nicht einfach nur die Fürsorge selbst“ (Held 2006, 11, Übersetzung B.S.). Held bringt damit zum Ausdruck, dass Richtlinien für das fürsorgliche Verhalten geschaffen werden müssen. Dies ist angesichts der Tatsache, dass es schwierig ist komplett im Voraus zu ahnen, wie die Menschen aus ihren Emotionen heraus handeln, ein schwieriges Vorhaben. Man kann keine Handlungsanweisungen dafür schreiben, sondern muss sich auf die eigene Intuition und selbst erfahrene Sozialisation stützen können. Menschen, die sich um andere Menschen kümmern, handeln weder nur aus Eigeninteresse noch aus vollem Interesse für die Anderen, sondern bewegen sich im Mittelfeld und müssen dahingehend eine Balance finden (vgl. Held 2006, 12, Übersetzung B.S.). Interessant ist, wie Held dies zusammenfasst:


„The ethics of care recognizes the moral value and importance of relations of family and friendship and the need for moral guidance in these domains to understand how existing relations should often be changed and new ones developed“ (Held 2006, 12).

Die Moralphilosophin vertritt die Ansicht, dass es moralische Orientierungshilfen geben soll, um zu verstehen, wie bestehende Beziehungen vielleicht angepasst und erneuert werden müssen, wenn es nicht mehr funktioniert.
Die Frage, die sich nun stellt ist, will die Care-Ethik die anderen moralphilosophischen Strömungen in ihren Ansichten verdrängen und erneuern oder auf diesen aufbauen? Meiner Meinung nach gibt es schon die deutliche Gemeinsamkeit, dass im Vordergrund immer die moralischen Handlungen von Menschen gegenüber anderen Menschen stehen. Allerdings setzt die Care-Ethik immer den Fokus mehr auf die individuellen zwischenmenschlichen Beziehungen und Emotionen, als dass sie sich auf universelle Regeln stützt. Die fürsorglichen Beziehungen haben primären Wert in der Care-Ethik und stehen damit immer an erster Stelle (vgl. Held 2006, 19).


Gerechtigkeit und Care: Wie passt das zusammen?

Interessant ist dann aber der Zusammenhang zwischen der emotionalen Fürsorge und der Gerechtigkeit: Müssen Gerechtigkeitsthemen und Care-Ethik als unterschiedliche Konzepte angesehen werden und muss man sich dahingehend zwingend für eine Seite entscheiden? Die Psychologin Carol Gilligan vertritt die Ansicht, dass beide Konzepte ihre Berechtigung haben, aber argumentiert auch, dass man bei einem moralischen Konflikt, den man aus der Sicht der Care-Seite untersucht nicht gleichzeitig aus der Sicht der Gerechtigkeitskonzeption betrachten kann (vgl. Held 2006, 62). Wie sollen wir jedoch demnach handeln, wenn wir beide Konzepte mitberücksichtigen sollen? Virginia Held versucht dahingehend Ansätze zu liefern, was im Folgenden untersucht wird. Diesbezüglich empfiehlt es sich im Vorfeld diese beiden Konzepte einander gegenüberzustellen, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen: Die Gerechtigkeitsethik beschäftigt sich mit Fragen der Fairness, der Gleichheit vor dem Gesetz und den individuellen Rechten eines jeden Menschen (vgl. Held 2006, 15). Es handelt sich also mitunter um abstrakte Prinzipien und deren konsequente Anwendung. Die Care-Ethik beschäftigt sich dagegen mit Fragen der Aufmerksamkeit, mit Vertrauen und damit wie man auf die Bedürfnisse von hilfsbedürftigen Menschen wie Kindern, Kranken und älteren Menschen adäquat reagieren kann. Es geht also wie bereits festgestellt, um die Pflege fürsorglicher Beziehungen. Die Gerechtigkeitsethik sucht nach einer fairen Lösung unterschiedlicher Interessen und Rechte, während die Fürsorge-Ethik die Interessen von Betreuer*innen und Betreuten als wichtige Komponente ansieht, die zueinander eher in Beziehung stehen, als dass sie sich als konkurrierend ansehen würden. Die Gerechtigkeitsethik schützt insgesamt die Gleichberechtigung und die Freiheit und die Care-Ethik fördert die sozialen Bindungen und die Zusammenarbeit von Menschen (vgl. ebd.). Man sieht also, dass die Gerechtigkeitsethik ganz andere Schwerpunkte setzt, auch wenn sie sich mit individuellen Fragen im Ansatz beschäftigt. Die Care-Ethik wird allerdings in manchen Gerechtigkeitsthemen benötigt, wie beispielsweise bei der gerechten Behandlung von Menschen vor dem Gericht und dem Wohlergehen aller Menschen in der Gesellschaft sowie in öffentlichen Bildungsfragen. Die soziale Verantwortung darf auch in der Gerechtigkeit nicht außer Acht gelassen werden (vgl. ebd.).


Andersrum benötigt die Care-Ethik in manchen Fragen auch die Gerechtigkeitsethik, wenn es beispielsweise um Gewalt gegenüber Kindern, Männern und Frauen geht, aber auch bei unfairen Arbeitsbedingungen oder der gerechten Behandlung von Kindern (vgl. ebd.).
Wichtig sind dabei die Prioritäten in beiden Ethiken: In der Gerechtigkeitsethik wird Wert daraufgelegt, dass individuelle Rechte gewahrt werden. Außerdem muss es das Ziel sein, dass unparteiische Urteile gefällt und Strafen ausgesprochen werden, sofern sie es denn müssen. Schließlich muss insgesamt die Gleichbehandlung aller Menschen angestrebt werden (vgl. Held 2006, 16). In der Care-Ethik ist es wichtig, dass zwischenmenschliche Beziehungen gepflegt werden und den Bedürfnissen der hilfsbedürftigen Menschen und der betreuenden Personen gleichermaßen gerecht wird (vgl. ebd.).


Sollen wir trotzdem beide Konzepte getrennt voneinander betrachten?

Virginia Held vertritt dahingehend die Ansicht, dass die grundlegenden Prinzipien beider Ethiken beibehalten werden sollten und beide als gleichwertig betrachtet werden, ohne dass eine Konzeption in die andere vollständig mit aufgenommen wird (vgl. ebd.). Beide Theorien haben ihre Berechtigung und auch berechtigte Unterschiede in ihren Inhalten, deshalb muss immer deutlich werden, von welcher Ethik und von welcher Seite aus gerade gesprochen wird. Die herausfordernde Aufgabe besteht dabei, nicht die Prioritäten der Ethiken zu vermischen (vgl. Held 2006, 17). Virginia Held beschreibt es sehr gut mit folgenden Worten:

„Eine gerechte Fürsorge ist nicht unbedingt eine bessere Fürsorge, sondern eine gerechtere Fürsorge. Und humane Gerechtigkeit ist nicht unbedingt eine bessere Gerechtigkeit, sondern eine fürsorglichere Gerechtigkeit (Held 2006, 16, Übersetzung B.S.).“

Damit bringt sie zum Ausdruck, dass man beide Konzepte eben nicht getrennt voneinander ansehen soll und daher gleichwertig betrachten muss (vgl. auch Held 2006, 62).
Held bringt aber auch eine weitere interessante gerechtigkeitstheoretische Implikation zum Ausdruck, die sich mit der privaten und öffentlichen Sphäre des menschlichen Lebens beschäftigt: „Care could be seen as a public and not only a private value, if one uses those unsatisfactory concepts.“ (Held 2006, 64) Es handelt sich nämlich um eine falsche Annahme, dass die Gerechtigkeit nur zum öffentlichen Bereich der Gesellschaft gehört und die Fürsorge ausschließlich in den privaten vier Wänden ausgehandelt wird. Die Gerechtigkeitsethik und das Gesetz können uns nämlich im Privaten auch dann schützen, wenn paternalistische und maternale Herrschaft durch den richtigen Umgang in der Familie vorgebeugt werden (vgl. Held 2006, 69). Dagegen kann uns Fürsorge auch im Bereich des öffentlichen Lebens schützen, indem Rahmen geschaffen werden, wenn beispielsweise in den USA eine Gesundheitsvorsorge mit den Werten der Pflege geschaffen wird. Zudem kann ein öffentlicher Belang für die Kinderbetreuung entstehen, sodass Eltern sich mit der gerechten Arbeitsteilung auseinandersetzen können.


Die Fürsorge ist die Basis für den Start eines jeden menschlichen Lebens; mit dem auf die Welt kommen benötigen wir Pflege und gesundheitliche Vorsorge. Die Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit kommen erst viel später, so wie es Held auch zum Ausdruck bringt, wenn sie schreibt, dass wir Fürsorge ohne Gerechtigkeit haben können, aber nicht umgekehrt (vgl. Held 2006, 70). Virginia Held plädiert dahingehend für objektive Standards in der Betreuung von Kindern, Kranken und älteren Menschen, die die Sicherheit und die Gesundheit aller Bürgerinnen weitestgehend sicherstellen können (vgl. Held 2006, 74). Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern: Die feministische Moraltheorie Neben der Gerechtigkeit und dem Wohlergehen aller Menschen geht es Virginia Held ebenso um die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, denn sie vertritt die Ansicht, dass die feministische Ethik den Wandel der Gesellschaft vorantreibt (vgl. Held 2006, 12). Es geht um mehr als „nur“ die Gleichberechtigung; es geht auch darum die Werte, die Relevanz und die moralische Bedeutung der Fürsorge herauszustellen (vgl. ebd.). Der Grund für die feministische Philosophie liegt laut Held deshalb darin für die Gleichberechtigung zu kämpfen, aber auch die Relevanz der Care-Arbeit und den zwischenmenschlichen Beziehungen in den Vordergrund zu rücken (vgl. Held 2006, 60–61). Die feministische Moraltheorie hat sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entwickelt und stellt einen wichtigen Beitrag zur normativen Ethik und Metaethik dar. Sie bietet einen anderen Zugang zur Moralphilosophie. Der Feminismus führte unter anderem zu einer fundamentalen Kritik an bestehenden moralphilosophischen Theorien wie der Pflichtenethik Kants und dem Utilitarismus, weil es diesen Theorien an den zwischenmenschlichen Beziehungen fehlt: Der Beziehung in der Familie, zwischen Freunden und der Gruppenidentität (vgl. Held 2006, 24). Es geht der feministischen Ethik darum die bisherigen Rollenbilder zu hinterfragen und auch Virginia Held vertritt die Ansicht, dass die „Herrschaft der Männer über die Frauen beendet werden sollte. Alle Frauen haben Anspruch auf Gleichberechtigung und die moralische Erfahrung von Frauen ist ebenso wichtig wie die von Männern“ (Held 2006, 61, Übersetzung B.S.). Veraltete Ansichten wie die von Aristoteles beispielsweise, dass den Frauen die Fähigkeit zur Vernunft fehle, führen zu der immer noch vorherrschenden männlichen Dominanz in unserer westlichen Gesellschaft (vgl. ebd., 60). Die feministische Care-Ethik soll für Alle gelten und nicht nur im Privaten ausgehandelt werden, wenn es beispielsweise um die Arbeit im Haushalt geht und sich die Frage gestellt wird, wer sich um diesen kümmert und warum. Liegt es womöglich daran, dass den Frauen diese Aufgabe zuteil kommt, weil sie weniger verdienen als der Ehepartner, wenn wir von einer klassischen heterosexuellen und monogamen Ehe ausgehen? Dass der Haushalt sowieso eine ausschließlich private Sphäre darstellt ist eine sehr in die Jahre gekommene Ansicht. Daher rührt auch aus feministischer Sicht die ungleiche Verteilung wirtschaftlicher Güter zwischen den Geschlechtern, weil die Frauen häufig finanziell von den Männern abhängig sind (vgl. Held 2006, 12). In einigen Fällen reicht es jedoch nicht aus, das Zusammenleben der Ehepartnerinnen nur im Privaten aushandeln zu lassen. Die Rechte der Menschen, die in einer Ehe leben, sind gesetzlich verankert, was sich bei der Eheschließung oder auch Scheidung zeigt. Man kann sich allerdings wundern, warum in Deutschland das Gesetz zur Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 in Kraft getreten ist – als hätte es davor keine Übergriffe dieser Art in ehelichen Verhältnissen gegeben.


Die feministische Care-Ethik beschäftigt sich außerdem mit der Bildung und Erziehung von Kindern und auch damit, wie die Medien zukünftig Einfluss auf die Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen nehmen. All das sind Themen, die nicht nur innerhalb der Familie und den Freunden eine Rolle spielen sollen, sondern auch das öffentliche Leben insgesamt betreffen (vgl. Held 2006, 65).


Feministische Moraltheoretikerinnen und ihre Ansichten

Neben Virginia Held als Moralphilosophin gibt es auch andere feministische (Rechts-)Theoretikerinnen, die sich ebenfalls mit der Moraltheorie auseinandersetzen und von denen es wichtig ist, ihre Ansichten kurz zu erläutern. Daran kann man erkennen, worauf Held ihre Überlegungen zur feministischen Care-Ethik stützt:
Catherine MacKinnon stellt fest, dass in einem liberalen Staat die Macht der Männer über die Macht von Frauen gesetzt und in männlicher Form institutionalisiert wird (vgl. Held 2006, 66). MacKinnon macht dies an dem Beispiel der sexuellen Belästigung fest und sagt: „Opfer sexueller Belästigung haben ein Forum erhalten, die Berechtigung zu sprechen und die Befugnis Ansprüche geltend zu machen“ (Held 2006, 67, Übersetzung B.S.).
Die feministische Rechtstheoretikerin Carol Smart beobachtet, dass das Gesetz die Erfahrungen und das Wissen von Frauen disqualifiziere und knüpft damit an die Ansicht von MacKinnon an, die der Meinung ist, dass das Gesetz und die Gerechtigkeit eher „männlicher Natur“ seien (vgl. Held 2006, 66).


Patricia Williams treibt in ihren Überlegungen den Diskurs für die Persons of Color (PoC) voran, aber setzt sich ebenso mit der Kontrolle der Frauen über die eigene Fortpflanzung auseinander (vgl. Held 2006, 67). Laut Williams ist es unvorstellbar, dass Männer so in ihrer individuellen Freiheit beeinträchtigt werden, wie es bei Frauen der Fall ist, wenn es um die Kontrolle über die eigene Sexualität und die Reproduktion geht (vgl. ebd.).
Frances Olson nimmt in ihren Überlegungen Bezug auf die gesetzliche Vergewaltigung und ist der Meinung, dass Rechtsanalysen zu Reformen führen können und das Leben der Menschen so verändert wird, dass Frauen in ihrer Macht gestärkt werden (vgl. Held 2006, 67).


Insgesamt integriert die feministische Moraltheorie viele Themen der Care-Ethik, ist jedoch nicht damit gleichzusetzen (vgl. Held 2006, 66). Die Care-Ethik muss ihren eigenen Stellenwert in der Moralphilosophie behaupten und kann sich deshalb nicht gänzlich neben den Feminismus einordnen. Allerdings ist es meiner Meinung nach wichtig, dass Virginia Held die feministische Moraltheorie in ihren Überlegungen mit aufnimmt.


Fürsorge muss politisch werden: Care-Arbeit in Zeiten von Corona

Die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und die Stärkung der Rechte von Frauen führt zu der berechtigten Frage, warum überwiegend Frauen den Großteil der unbezahlten Care-Arbeit leisten müssen. Es scheint mir, dass die traditionellen fast schon esoterischen Ansichten und die sexuelle Teilung, dass Frauen sich mitunter um den Haushalt und die Kinder kümmern müssen, in der breiten Masse der Bevölkerung nach wie vor akzeptiert werden. Allerdings müssen wir neben den Frauen auch die Minderheitengruppen berücksichtigen, die bezahlte jedoch schlecht bezahlte Pflegearbeit in wohlhabenden Haushalten, Kindertagesstätten, Krankenhäusern, Pflegeheimen und dergleichen verrichten (vgl. Held 2006, 16). Virginia Held stellt fest, dass die wichtige Care-Arbeit von denjenigen verrichtet wird, die eher machtlos in der Gesellschaft sind (vgl. Held 2006, 18).


Auch wenn sich gerade viel in der Gesellschaft und der Politik bezüglich der Care-Arbeit verändert hat, stellt sich mir persönlich die Frage, ob diese Arbeit in Zeiten von Corona wieder einen Rückfall in alte Betreuungsmuster und eine Retraditionalisierung der Geschlechterrollen unternimmt: Kann es sein, dass die Care-Arbeit wieder auf die Frauen und Mütter zurückfällt? Daniel Gerhardt von der ZEIT setzt seinen Fokus auf die Zeit nach der Geburt eines Kindes und die Väter, die sich sonst feministisch in die Debatten um eine gerechte Rollenverteilung einbringen. Er stellt fest, dass es diejenigen Väter sind, die dann doch wieder nach sieben Monaten Elternzeit ganz ohne Probleme in ihren Beruf zurückkehren können (vgl. Gerhardt 2020). Er unterstreicht auch, dass die Politik, der Arbeitsmarkt und der gesellschaftliche Konsens noch nicht auf das 21. Jahrhundert zugeschnitten sind, weshalb es globales Umdenken hinsichtlich einer fairen Arbeitsteilung in Familien noch verhindert. „Eine faire Aufteilung von Arbeits-, Betreuungs- und Freizeit ist nur mit Entbehrungen möglich“, so Gerhardt zur gerechten Elternzeit. Dahingehend muss sich bei der Geburt eines Kindes und der Elternzeit noch viel in der Politik verändern, um von einer gerechten Care-Arbeit in der Familie sprechen zu können (vgl. ebd.)
Die Gleichberechtigung der Familienverhältnisse erlebte allerdings durch den Corona-Lockdown entgegen aller Erwartungen einen progressiven Umbruch in neue Zeiten: Die Mannheimer Corona-Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) stellt fest, dass der Anteil für die Familien- und Hausarbeit, also für die Care-Arbeit bei den Müttern in dem Zeitraum von 2018 bis zur Lockdown-Phase 2020 von 6,6 auf 7,9 Stunden angestiegen ist und bei den Vätern von 3,3 auf 5,6 Stunden (vgl. BiB 2020, 37). Im April 2020 gab es ein ganz anderes Bild: In Kurzarbeit leisteten die Väter 8,1 Stunden Familienarbeit, womit der Anteil an Care-Arbeit bei Vätern von 33% auf 41% ansteigt (vgl. BiB 2020, 53). So lässt sich aus den Ergebnissen der Corona-Studie keine Retraditionalisierung der Rollenbilder feststellen, denn die Väter haben in der Familienarbeit deutlich aufgeholt (vgl. ebd.) – aber auch nur in den Familien, wo die Väter in Kurzarbeit gegangen sind oder beide Partner im Home Office arbeiten konnten, was beim Verkauf von Lebensmitteln, Dienstleistungen an Menschen und den Berufen, die die Infrastruktur des Arbeitgebers benötigen wie z.B. in der Handwerksbranche, nicht möglich war und ist.


Die positiven Ergebnisse sollen jedoch insgesamt nicht zum Durchatmen ermutigen, denn die Studie bezog sich auf die Konstellation in den Familien, also in der privaten Sphäre. Allerdings hat Virginia Held festgestellt, dass die Care-Ethik nicht nur im Privaten ausgehandelt wird, sondern die Care-Arbeit die komplette Gesellschaft betrifft. Gerade im Zusammenhang mit den systemrelevanten Berufen in der Coronakrise, die ebenfalls nicht vom Home Office aus erledigt werden können. Dementsprechend gibt es beispielsweise in der Pflege noch viel Handlungsbedarf seitens der Politik, damit die Fürsorge einen moralischen Grundwert für alle Menschen in der Gesellschaft einnehmen kann.


Zusammenfassung: Care-Ethik und moralisches Handeln

Insgesamt kann die Care-Ethik nach Virginia Held ihren Platz in der Moralphilosophie neben dem Utilitarismus und der Deontologie sowie der Tugendethik behaupten. Die Fürsorge muss mehr in den Fokus der Gesellschaft gerückt werden, weil es einen jeden Menschen gleichermaßen betrifft: Mit dem Beginn unseres Lebens sind wir auf die Sorgfalt und Pflege unserer Bezugspersonen angewiesen. Daher ist es wichtig, dass sich die Care-Ethik auf die zwischenmenschlichen Beziehungen fokussiert.
Außerdem ist es von besonderer Relevanz, dass die Care-Themen nicht nur in den Familien ausgehandelt werden, sondern an Bedeutung im öffentlichen Leben und der Politik gewinnen. Deshalb schließt sich an die Care-Ethik auch die Gerechtigkeitsethik an, um Rechte und Gesetze zu schaffen, die die Beziehungen und Bedürfnisse hilfsbedürftiger Menschen und den betreuenden Personen gleichermaßen schützen.
Zudem braucht die Care-Ethik die feministische Moraltheorie, um für die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern in der Fürsorge und gerade in der Care-Arbeit zu kämpfen.


Virginia Held hat mit ihrem Werk The Ethics of Care: Personal, Political, Global ihre Care-Ethik in die Moraltheorie integriert und auf den Punkt bringen können, warum diese in so vielen Bereichen der Gesellschaft, der Politik und der Gerechtigkeit eine Rolle spielt. Ihr Werk ist aktueller denn je und genau deshalb so lesenswert, weil die fürsorglichen Beziehungen uns alle betreffen. In der aktuellen Coronakrise bemerken wir erst, wie wichtig die Werte Zwischenmenschlichkeit, Solidarität und Fürsorge geworden sind und genau deshalb sollte man sich die Ansätze von Virginia Held zu Herzen nehmen.

Übersicht über wichtige Werke von Virginia Held

Ein Blick in ihre wichtigsten Werke zeigt, dass sie sich insbesondere mit der Care-Ethik und dem Feminismus auseinandersetzt. In ihrem Werk Rights and Goods – Justifying Social Action, das 1984 erschienen ist, begibt sich Virginia Held auf die Suche nach einer Moraltheorie, die sich auf das tatsächliche Leben und wirkliche Erfahrungen anwenden lässt. Dazu bietet Held eine Untersuchungsmethode an, mit der die spezifischen moralischen Probleme des täglichen Lebens behandelt werden können.
Ihr Buch Feminist Morality: Transforming Culture, Society, and Politics von 1993 untersucht wie der Feminismus unser Verständnis von Moral transformiert und beeinflusst. Es geht ihr insbesondere darum, wie der Feminismus unsere moralischen Entscheidungen verändert. Dahingehend setzt sie sich bereits mit dem Thema der Fürsorge von und für andere Menschen auseinander, was in ihrem späteren Werk The Ethics of Care noch ausführlicher behandelt wird und im Fokus dieses Beitrags stehen soll.
Das von ihr editierte Buch Justice and Care: Essential Readings in Feminist Ethics aus dem Jahre 1995 enthält wichtige Beiträge zur feministischen Ethik von relevanten Moraltheoretikerinnen, wie unter anderem Nel Noddings, die für die Fürsorge als Basis alles Handelns plädiert, Carol Gilligan und Sara Ruddick. Die Themen von Gerechtigkeit und Fürsorge stellen dabei wichtige Grundpfeiler der feministischen Ethik dar.
In How Terrorism is Wrong: Morality and Political Violence von 2008 geht es um viele Formen politischer Gewalt, aber insbesondere um den Terrorismus und die moralische Bewertung. So interessiert sich Held als Moralphilosophin für die Leitlinien traditioneller Moraltheorien wie der kantischen Ethik und des Utilitarismus und untersucht auch, was der neuere Ansatz der Ethik der Fürsorge zu unserer Bewertung von Gewalt beitragen kann.
Ihr 2006 erschienenes Werk The Ethics of Care: Personal, Political, Global soll in diesem Blogbeitrag im Fokus stehen, weil es um die Grundsätze ihrer Care-Ethik geht und anhand ihrer Argumentation und interessanten Ansichten sich unter anderem viele neue Perspektiven für die heutige politische Debatte um die Care-Arbeit gewinnen lassen.

Literaturverzeichnis:

Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) (2020): Eltern während der Corona-Krise. Zur Improvisation gezwungen, Wiesbaden.

Clauß, Anna (2020): „Die Zeit der Ausreden ist vorbei“, in: SPIEGEL Panorama, 14.07.2020.

Gerhardt, Daniel (2020): „Gleichberechtigung muss wehtun“, in: ZEIT online, 21.05.2020.

Held, Virginia (2006): The Ethics of Care: Personal, Political, Global, New York.

Bildquellen:

By GC Mellon Sawyer – Carol Gilligan and Virginia Held, „Difference and The Contribution of Feminist Care Ethics“ at 01:18:52, cropped, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=69369100

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