Allgemeines

Lehrende:r
PD Dr. Christian Schmitt

Foto von PD Dr. Christian Schmitt.

Veranstaltung
Kolportage/Literatur. Populäre Lesestoffe des 19. Jahrhunderts

Modul
ger221 (Aufbaumodule: Gattungen & Motive)

Studiengang
BA Germanistik

Fakultät
Fakultät III – Sprach- und Kulturwissenschaften

Institut
Institut für Germanistik

Semester
SoSe 2021

Turnus
Wöchentlich/Block

Anzahl Studierende
36

KP des Moduls
6

Prüfungsform
Referat & Ausarbeitung

Preis der Lehre 2021
Kategorie „Forschendes Lernen“

Kategorien
Blog
Digitale Medien
Forschendes Lernen
Online-Meetings
Preis der Lehre
Seminar
Sprach- und Literaturwissenschaften
Stud.IP

Das dem Konzept des Forschenden Lernens verpflichtete Seminar machte Studierende zu Erforscher:innen einer populären Literaturform des 19. Jahrhunderts: Kolportageheftchen, die von spektakulären Ereignissen erzählen.

I. Zum Seminar: Konzeption

Das Seminar Kolportage/Literatur machte Studierende der germanistischen BA-Studiengänge zu Erforscher:innen einer im 19. Jahrhundert verbreiteten Form populärer Literatur: sogenannter Kolportageliteratur, deren Name sich einem konkreten Vertriebsweg verdankt, zunehmend aber auch zum Synonym für ‚triviale‘ Unterhaltungsliteratur schlechthin wurde. Ihre Leser:innen erreichte diese Literatur in Form günstiger Heftchendrucke, die auf Märkten oder an der Haustür von fahrenden Händlern (sogenannten Kolporteuren) angeboten wurden. Populär sind auch die Themen dieser Heftchen, die von sensationellen Mordfällen Katastrophen oder Liebesgeschichten erzählen. Für ein literaturwissenschaftliches Seminar, das dem Konzept des Forschenden Lernens verpflichtet ist, eignen sich die Texte nicht nur aufgrund ihrer unterhaltsamen Themen, sondern auch, weil sie von der literaturwissenschaftlichen Forschung wenig beachtet wurden. Die Studierenden erforschten diese Literaturform eigenständig anhand eines Korpus, das sich in den Beständen der Landesbibliothek Oldenburg befindet und bisher kaum erschlossen ist. Ausgewählte Exemplare dieser Sammlung von Kolportageheftchen des 19. Jahrhunderts stellte die Landesbibliothek exklusiv für die Seminarteilnehmer:innen in digitalisierter Form zur Verfügung.

Dem Konzept des Forschenden Lernens entsprechend bot das Seminar den Studierenden die Gelegenheit, selbst forschend aktiv zu werden und die Phasen eines Forschungsprozesses zu durchlaufen: von der Bekanntmachung mit dem Material und der Reflexion methodischer Zugriffe (1. Seminarphase), über die Erarbeitung von Forschungsfragen zu exemplarischen Texten des Korpus (2. Seminarphase), bis zur Präsentation der Ergebnisse und der Reflexion des Forschungsprozesses (3. Seminarphase). Das Seminar fand, unter Oldenburger Federführung, als Kooperation der Universitäten Oldenburg (PD Dr. Christian Schmitt) und Münster (Dr. Katharina Grabbe) statt. Gefördert wurde das Seminar durch erfolgreich beantragte Mittel der Oldenburger Inititative forschen@studium; die Fritz Thyssen Stiftung und das Forum Vormärz Forschung e.V. stellten Mittel für eine Fachtagung bereit, die von einer Ausstellung in der Landesbibliothek flankiert wurde.

II. Lernziele / Kompetenzen

Gegenstand: Die Studierenden …

  • lernen eine kaum erforschte, zu ihrer Zeit aber sehr verbreitete Form von Literatur kennen;
  • lernen zeittypische Themen und Motive kennen, auf die die Literatur des 19. Jahrhunderts auch insgesamt zurückgreift (z.B. Auswanderung, Kindsmord);
  • reflektieren die Medialität und Materialität literarischer Texte sowie das Zusammenspiel von Produktion, Distribution und Rezeption; 
  • lernen, dass ‚Literatur‘ mehr umfasst als die kanonisierten und viel erforschten Texte der ‚hohen‘ Literatur;
  • trainieren Recherchetechniken sowie philologische und textanalytische Fertigkeiten (z.B. Lektüre von Frakturschrift; narratologische Beschreibungsmodelle).

Forschungstheorie: Die Studierenden …

  • eruieren den Forschungsstand zu Kolportageheftchen des 19. Jahrhunderts;
  • lernen unterschiedliche quantitative und qualitative Zugriffsweisen auf populäre Literaturformen kennen und reflektieren die Vorzüge und Nachteile dieser Zugriffsweisen für die Arbeit mit den Texten des Korpus;
  • lernen die Forschungsdiskussion zum Verhältnis von ‚populärer‘ und ‚hoher‘ Literatur kennen und lernen, solche Zuschreibungen zu problematisieren.

Forschungspraxis: Die Studierenden …

  • werden befähigt, selbstständig kleine Forschungsprojekte zu konzipieren und durchzuführen;
  • lernen, in einer kleinen Forschungsgruppe miteinander zu kooperieren, Teilschritte zu formulieren und Aufgaben aufzuteilen;
  • lernen, ihre Ergebnisse für eine interessierte Öffentlichkeit verständlich und nachvollziehbar zu formulieren und zu präsentieren;
  • lernen auf einer Fachtagung zum Thema Wissenschaft als institutionellen Prozess kennen;
  • reflektieren die Ergebnisse des Forschungsprozesses sowie diesen selbst im Vergleich mit der aktuellen Fachdiskussion (Tagung) und anderen Forschungsgruppen;
  • reflektieren die ethische Verantwortlichkeit von Forschung – etwa, mit rassistischen Begrifflichkeiten des 19. Jahrhunderts umzugehen.

III. Forschendes Lernen: Arbeitsphasen

Die dreiteilige Gliederung des Seminars ermöglichte es den Studierenden, einen kompletten Forschungsprozess aktiv zu durchlaufen. Im Zentrum der 1. Seminarphase stand die Begegnung mit dem Material, die Sichtung vorhandener Forschung und die Reflexion methodischer Ansätze. Mithilfe von fünf Courseware-Einheiten, die auf Stud.IP zur Verfügung standen, erarbeiteten sich die Studierenden im individuellen Lerntempo Einblicke in die Medienliteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts, lernten die Erzählmechanismen ‚trivialer‘ Literatur kennen und sondierten die Tragfähigkeit methodischer Zugriffe – ausgehend von den Konzepten Aktualität/Medialität; Popularität/Trivialität; Themen & Typen; Schreibweisen der Unterhaltung. Die Lektionen, die die unterschiedlichen Möglichkeiten der Stud.IP-courseware nutzten, um die Inhalte abwechslungsreich zu vermitteln, gaben unterschiedliche Impulse für die selbständige und kritische Auseinandersetzung mit den Texten; je nach Interesse bot eine ‚Ausblick‘ genannte Sektion der Lektionen am Ende die Möglichkeit, Inhalte zu vertiefen. Alle Materialien waren in Stud.IP enthalten und in die courseware-Einheiten integriert. Genutzt wurden auch die Wiki- und die Forumsfunktion; letztere ermöglichte es etwa, zu bestimmten Fragen, die Live-Sitzung vorbereitend, eine begründete Position zu formulieren; oder die Multimedialität der Kolportagetexte mit eigenen Zeichnungen nachzubilden.

Ausschnitt eines Forumsbeitrags in Stud.IP.
Abb. 2: Die Forums-Funktion ermöglichte die Formulierung einer eigenständigen Position und die kritische Kommentierung anderer Positionen
Ausschnitt einer Zeichnung von Studierenden zur Thematik der intermedialen Dimension eines Kolportageheftchens.
Abb. 3: Die Studierenden vollziehen die intermedialen Dimensionen eines Kolportageheftchens mit eigenen Zeichnungen zum Text nach

Einen interaktiven Raum für Diskussion, Fragen und Austausch boten wöchentliche Online-Video-Sitzungen. Da die meisten Studierenden sich noch in der Studieneingangsphase befinden, wurde diese erste Phase des Forschungsprozesses stärker angeleitet als die folgenden Phasen.

Auf dieser Grundlage – und mit Hilfe einer fortlaufenden Dokumentation der Ergebnisse, z.B. in Form eines kooperativ erarbeiteten Fragenkatalogs als Wiki-Dokument – ermöglichte es die 2. Seminarphase, in Kleingruppen eigenständig Forschungsfragen zu entwickeln und einen Text aus dem Korpus zu analysieren. Die wöchentliche Seminarsitzung wurde durch eine offene Sprechstunde ersetzt, in der Fragen geklärt und Zwischenergebnisse diskutiert werden konnten. Die Arbeitsergebnisse wurden von den Gruppen zu Blogbeiträgen synthetisiert, die das jeweils analysierte Heftchen in seinen Besonderheiten vorstellen. Aufgrund der thematischen Bandbreite bot das Korpus die Möglichkeit, unterschiedliche Fragestellungen zu verfolgen, z.B.:

  • Welche Erzählstrategien liegen den Texten zugrunde? Wie wird – etwa in narratologischen Begrifflichkeiten – erzählt?
  • Wie wirken sich die unterschiedlichen medialen Möglichkeiten auf die Texte aus? Wie treten Bilder und Texte in Beziehung? Welche drucktechnischen Möglichkeiten werden genutzt?
  • In welchem Verhältnis stehen die typischen Bestandteile von Kolportageheftchen (Titel, Prosatext, Lied) zueinander? Gibt es weitere textuelle Formen, die genutzt werden?
  • In welcher Weise finden aktuelle Ereignisse Eingang in die Texte? Wie wird Aktualität von den Texten erzeugt? Welche zeittypischen Diskurse manifestieren sich in den Texten?
  • Gibt es Lokalbezüge, die die Texte für ein bestimmtes regionales Publikum interessant machen?
  • In welchem Verhältnis stehen Faktualität und Fiktionalität? Lassen sich ideologische Tendenzen ausmachen?
  • Worin besteht das Unterhaltende der Texte? Welche textuellen Verfahren sind ‚unterhaltsam‘? In welchem Verhältnis stehen z.B. moralisierende, informative und emotionalisierende Tendenzen?
  • In welche erzählerischen Traditionen lassen sich die Texte einordnen? Gibt es vergleichbare Stoffe in der ‚hohen‘ Literatur? Oder in anderen europäischen Literaturen?

Diese Präsentation der Forschungsergebnisse leitete die 3. Seminarphase ein. Zum einen bestand hier für die Studierenden die Möglichkeit, an einer wissenschaftlichen Fachtagung teilzunehmen, die am 24. und 25. Juni als Onlineveranstaltung stattfand, um so die eigenen Forschungsergebnisse auf die Fragen zu beziehen, die etablierte Literaturwissen-schaftler:innen an Kolportageliteratur stellen – und so den wissenschaftlichen Forschungsprozess auch noch einmal als institutionellen zu reflektieren. Von der Einbindung der Studierenden und ihren Nachfragen profitierte dabei auch die Fachtagung selbst. Zum anderen bot ein das Seminar beschließender Studientag, der gemeinsam mit Studierenden der Universität Münster stattfand, die Gelegenheit, die Forschungsergebnisse der Gruppen zu diskutieren und zu vergleichen; sowie den gesamten Forschungsprozess in einem Abschlussgespräch gemeinsam zu reflektieren.

Die Prüfungsleistung ergab sich direkt aus diesen Forschungsergebnissen: Sie bestand zu 50% aus dem gemeinsam erarbeiten Blogbeitrag (der als ‚E-Referat‘ im Sinne der Prüfungsordnung galt); und zu 50% aus einer darauf aufbauenden individuellen Ausarbeitung. Die Bewertungskriterien, die zuvor transparent gemacht wurden, nahmen besondere Rücksicht auf die Erfordernisse des Forschenden Lernens; so wurden etwa die Eigenständigkeit der Fragestellung und kreative Wege zu ihrer Beantwortung (Recherche, Einbezug von Intertexten etc.) besonders stark gewichtet.

IV. Ergebnisse & Perspektiven

Ein konkretes Ergebnis des Seminars sind vielfältige, oft über die bisherige Forschung hinausgehende Einblicke in eine zu ihrer Zeit weit verbreitete Form von Unterhaltungsliteratur, die im Blog (www.kolportageliteratur.de) der interessierten Öffentlichkeit wie der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehen. So deckten die Studierenden etwa Bezüge eines Räuber-Heftchens zu englischen chapbooks auf, spürten einen Oldenburger Verlag des 19. Jahrhunderts auf, der heute noch als Werbeagentur fortbesteht, oder gingen dem Mythos Napoleon nach, der auch in den Kolportageheftchen Spuren hinterlassen hat.

Ausschnitt des Veranstaltungsblogs mit Titelbild, Menü und Beitrag.
Abb. 4: Präsentation der Forschungsergebnisse im Blog (www.kolportageliteratur.de)

Vor allem aber wurde Wissenschaft im Laufe des gemeinsamen Forschungsprozesses als dialogisches Geschehen erfahrbar, in dem die Studierenden eine aktive Rolle einnahmen und sich in unterschiedlichen Konstellationen (Seminarrunde, Kleingruppe, Tagung, Studientag) gemeinsam ein Thema erarbeiteten. Die intensive Arbeit in Kleingruppen wurde angesichts des digitalen Semesters von den Teilnehmer:innen als sehr positive Form der Arbeit empfunden. Gelobt wurde in den Evaluationen des Seminars zudem die „Möglichkeit, mit den vorher erarbeiteten Instrumenten/Fähigkeiten selbständig zu forschen“, und die individuelle „Zeiteinteilung mit der Gruppe“. Mir selbst bot das Seminar die Gelegenheit, Forschung und Lehre enger zu verbinden als es sonst möglich ist; als gleichberechtigte Mitforschende trugen die Studierenden Erkenntnisse zu einem Thema bei, das mich in den nächsten Jahren weiter beschäftigen wird. Nicht zuletzt ist die Oldenburger Landesbibliothek durch das Seminar aufmerksam auf ein einzigartiges Korpus geworden und hat die Möglichkeit einer kompletten Digitalisierung der Texte in Aussicht gestellt – wovon weitere Seminare dieser Art profitieren würden.

Flyer einer wissenschaftlichen Fachtagung zu Kolportage von der Universität Oldenburg.
Abb. 5: Als Teilnehmende an einer wissenschaftlichen Fachtagung bekamen die Studierenden Einblicke in aktuelle Forschungskontroversen