Dieser Beitrag widmet sich dem Bänkelsang-Heftchen: Landrina Stracking und Ludmilla Fallina, die berüchtigten Land- und Seeräuberköniginnen in Calabrien und auf dem mittelländischen Meere. Eine romantische Geschichte der neuesten Zeit, nebst einem schönen Liede. Ergänzt wird der Titel durch die Nennung des Eigentümers Florenz Harder und der Druckerei der Gebrüder Hasskerl in Hamburg. Zu finden ist es in der Landesbibliothek Oldenburg unter der Signatur SprXIII4c2a2,45. Das Heftchen verhandelt sowohl Gender und Macht als auch Ordnung und Chaos. Dem ist vor allem eines inhärent: seine Widersprüchlichkeit.
Der Begriff „Königinnen“ wirkt an dieser Stelle zynisch, denn beide Frauen scheitern dramatisch: Landrina Stracking wird zum Waisenkind, als ihr Vater, der Müller Bartholo Stracking, durch ihre Stiefmutter getötet wird. Bald darauf wird die Mühle zu einem Räuberquartier, denn sowohl die Stiefmutter als auch Landrina gehen eine Beziehung mit einem Räuberhauptmann ein. Landrina und ihr Mann gehen fort, heiraten und bekommen ein Kind. Daraufhin begehen beide zahlreiche Raubzüge, bis sie eines Tages verraten werden und fliehen müssen. Nach dem Verlust ihres Mannes macht Landrina Bekanntschaft mit Ludmilla Fallina. Gemeinsam begehen sie zu Land und zu Wasser viele Schandtaten. Ludmilla allerdings tötet bald darauf Landrina, die eine Affäre mit ihrem Geliebten hat. Wenig später findet auch Ludmilla den Tod, indem sie für ihre Taten hingerichtet wird.
Der Nebentitel verspricht mit Eine romantische Geschichte der neuesten Zeit auf dem mit einem Ornamentrahmen geschmückten Titelblatt eine Romantik, die sich weniger auf eine bestimmte Vorstellung von Liebe bezieht als vielmehr auf die Gattung eines spannungsreichen Romans: Das Heftchen handelt von Verrat, Eifersucht, Ehebruch und Mord. Dabei bildet die prominent weibliche Doppelbesetzung eine Opposition zur Vielzahl der männlich dominierten Räubergeschichten. Die größte Widersprüchlichkeit des Textes liegt jedoch wohl darin, dass er gleichzeitig stark schematisch und chaotisch aufgebaut ist.
Diese Gleichzeitigkeit lässt Landrina Stracking und Ludmilla Fallina besonders artifiziell wirken, wozu die periodische Wiederholung von Topoi und erzählten Ereignissen beiträgt. So zieht sich die Abfolge aus Verrat/Mord – Liebe – Rache/Vergeltung durch den Text, wie durch Landrinas Leben. Sei es zwischen ihrem Vater und ihrer Stiefmutter, ihrer Stiefmutter und einem Räuber, einem Räuber und Landrina oder Landrina und Ludmilla. Diese Vielzahl von verhandelten Topoi in einem kurzen Heftchen der Kolportage-Literatur ist dabei nicht untypisch für den Bänkelsang, der häufig kumulativ verfährt und auch intertextuelle Bezüge nicht auslässt, etwa zum Trojanischen Krieg und zur „Nemesis“ (S. [5]). Ähnlich artifiziell wirken die Parallelführungen der Figuren: Landrina und Ludmilla sind ganz offensichtlich zwei „gleichgesinnte Frauenzimmer“ (ebd.). Die Parallelität von Bartholo und Barbarino zeigt sich in Landrinas Reaktion auf ihre Tode: „[A]ls ihr Vater bestattet war“, vergaß sie „ihn auch bald“ (S. [3]); später heißt es dann, „Landrina, welche ihren Gemahl bestattet hatte, vergaß ihn sehr bald in den Armen eines Andern“ (S. [5]) – bei diesem „Anderen“ handelt es sich um den Geliebten von Ludmilla. Als ebenfalls schematisch lässt sich die strikte Opposition zweier gegenüberliegender Pole beschreiben: Chaos versus Ordnung.
Mit Landrinas „ungestümem Charakter“ kommt Unordnung in die „einsame Mühle“ im „lieblichen Thale“ (S. [3]); „gleichen Charakters“ ist auch „dieses teuflische Weib“ (ebd.), ihre Stiefmutter. Diese setzt die gesamte Handlung buchstäblich „in Bewegung“, als sie die Mühle zum Drehen bringt und sich damit „ihres Gatten entledigt“ (ebd.). Als Landrina sich dann der Räuberbande ihres Ehemannes anschließt, führt dies zu weiterer Unordnung und Zerstörung: Die Bande wird verraten, muss in die Mühle fliehen, wo sie erneut von den Behörden aufgespürt und schließlich zerschlagen wird – das Inferno zerstört die Mühle und tötet die Stiefmutter. Es folgen weitere Raubzüge in verschiedenen Konstellationen und die ständige Verfolgung durch die Staatsmacht, die am Schluss die Ordnung wiederherstellen kann. Alle leidvollen Ereignisse werden als von Frauenfiguren provoziert dargestellt, im auf die Geschichte folgenden schönen Liede wirken diese überdies noch brutaler.
Eine eindeutige Moral wird an das Ende von Prosa und Lied gestellt, sodass die berüchtigten Königinnen als Negativbeispiel für potenzielle Leser:innen gelten können. Konkludierend lautet die letzte Strophe des Liedes:
„Und so endeten die Beiden, / Die der Menschheit Schande nur / Und man sieht, wie sehr entartet, / Oft die weibliche Natur, / Sieht man, wie die ewge Rache / Folget jeder bösen Sache, / Und wie böser Thaten Lohn / Hier auf Erden folget schon.“ (S. [8])
Einen weiteren Aspekt der bereits genannten Widersprüchlichkeit bilden zudem die im Text beschriebenen Geschlechterrollen. Inwieweit gender-spezifische Stereotype wiedergegeben und gleichzeitig missachtet werden, soll im Hinblick auf die textuelle Funktion betrachtet werden und zu Interpretationsansätzen führen. Da die Frau in der Erzählung einige stereotyp männliche Eigenschaften adaptiert und aus ihrer Rolle ausbricht, wird sie für ihr Verhalten bestraft. Damit findet an dieser Stelle eine Bedeutungsverschiebung statt: Jegliche Eigenschaften, die einen Mann zum Helden gemacht hätten, lassen Landrina zu einer schandhaften, „entarteten“ Königin werden. Die Frauenfiguren werden in ihrem hyperbolischen Scheitern für die Illustration dieser Botschaft instrumentalisiert, um das weibliche Publikum daran zu erinnern, nicht gegen gesellschaftlich auferlegte Lebensentwürfe zu revoltieren und sich nicht in typische Männerdomänen zu wagen. Diese Belehrung erinnert Rezipientinnen an ihre zu erfüllenden Tugenden – damit sie nicht ein ähnlich grausames Schicksal wie Landrina und Ludmilla ereilt. Doch lest selbst …!
Gesa Allerheiligen / Joana Koldehoff / Jara Lahme