Das Kolportage-Heftchen Die Einnahme Wien’s durch die kaiserlich königlichen Truppen am 31. Oct. 1848. Nebst Roberts Blums’ letzten Worten, so wie seinen Tod, am 9. November 1848, wo er in der Brigittenau standrechtlich erschossen wurde, folgend Die Einnahme Wien’s, erweist sich zum größten Teil als ein Bericht über „[z]eitgeschichtliche Themen und Kriegsereignisse“ (vgl. Petzold 1974, 66). Es werden die Geschehnisse rund um die Einnahme Wiens durch die kaiserlich-königlichen Truppen unter dem Kommando von Fürst Windisch-Graetz und die damit einhergehende Zerschlagung der Revolution verkürzt dargestellt. Die Darstellung der Ereignisse erfolgt nicht neutral. Die demokratischen Rebellen, insbesondere die beteiligten Proletarier, werden diffamiert und dabei als Angehörige „des democratischen Clubs, des Studenten-Comite’s und ihrer Werkzeuge der bewaffneten Proletarier“ (Die Einnahme Wien’s, 5) bezeichnet. Fast schon konträr zu dieser Diffamierung, welche mindestens eine distanzierte, wohl eher aber auf den ersten Blick eine konterrevolutionäre und antiliberale Position vermuten lässt, wirken die letzten eineinhalb Seiten und das für Bänkelsängertexte übliche Lied (vgl. Petzoldt 1974, 35), welche das Leben und den Tod Robert Blums Revue passieren lassen und dabei versöhnlich, eher positiv und prorevolutionär ausfallen. Insbesondere durch die letzten Worte Blums und das anschließende Lied erhält der gesamte Text zum Ende hin eine die Revolution und insbesondere den liberalen Revolutionär Blum romantisierende Färbung.
Um herauszufinden, ob und wie dieser Kontrast aufzulösen ist, wären Informationen hinsichtlich des Produktions- und Druckorts und der Entstehungszeit hilfreich, wodurch Rückschlüsse auf das politische Umfeld gezogen werden könnten. Dies gestaltet sich jedoch schwierig, da die Gattung des Kolportage-Heftchens allgemein nur wenig erforscht ist und das Heftchen keinerlei, sonst durchaus üblichen, Verweise auf Druckzeit/-ort bereithält. Der Großteil der Heftchen aus der Oldenburger Sammlung stammen aus dem nordwestdeutschen Bereich (vgl. Koolman 1990, 9 u. Petzoldt 1974. 37), daher kann vermutet werden, dass auch dieses daher stammt. Dies würde auch dahingehend Sinn ergeben, da zum Beispiel in Oldenburg eine eher liberale Zensurpraxis vorherrschte (vgl. Koolman 1990, 10), was ebenfalls die prorevolutionäre Teilfärbung des Textes erklären würde. Ein anderes Heftchen aus der Oldenburger Sammlung, das ebenfalls Robert Blums Tod behandelt, Robert Blum. Sein Leben und seine Hinrichtung. Der Gott, der Eisen wachsen ließ, Der wollte keine Knechte; Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß Dem Mann in seine Rechte; Drum gab er ihm den kühnen Muth, Den Zorn der freien Rede, Daß er bestände bis aufs Blut, Bis in den Tod die Fehde. (Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 2c:1,23) erschien noch im Jahre seines Todes, jedoch ebenfalls ohne Ortsangabe (vgl. Schenda 1971, Sp.1593). Eine den beschriebenen Ereignissen zeitnahe Produktion und Vertrieb ist dahingehend auch bei Die Einnahme Wien’s als naheliegend zu betrachten, da der Aktualitätsfaktor vermutlich eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Unterhaltungsfunktion der Heftchen spielte. Auch in dem Heftchen aus dem Jahre 1848 lässt sich bereits im Titel eine ähnliche positive, romantisierende Perspektive auf Robert Blum wahrnehmen, wie jene, die in Die Einnahme Wien’s Blum zu einem Märtyrer der Revolutionsbewegung erklärt. Die dort abgedruckten letzten Worte Blums, in denen er unter anderem sagt: „Mein Tod ist kein Verlust für die Sache der Freiheit, es müssen erst Märtyrer für die Sache der Freiheit gefallen sein, ehe sie siegen kann“ (Die Einnahme Wien’s, 7), sind in dieser Form jedoch nicht belegt (vgl. Schmidt 1971, 255). Der Märtyrermythos nach seinem Tod kann jedoch nachgewiesen werden (vgl. Zerback 2007, 296f. u. Schmidt 1971, 255f.). Dies ist im Hinblick auf den anfänglich geäußerten Kontrast dahingehend spannend, als dass Blum zwar durchaus im Kreise von Demokraten und Liberalen als Held gefeiert wurde, dies aber nicht zwangsläufig auch für die Masse der damals ebenfalls an der Revolution beteiligten Proletarier galt (vgl. Schmidt 1971, 258f.). Die Diffamierung könnte im Kontext dessen als eine Klassendifferenzierung innerhalb des Revolutionsgeschehens zwischen Bürgertum/Liberalen und Proletariat gelesen werden. Auch um diese Zweifel auszuräumen, wäre eine Erforschung der Produktions- und Rezeptionsgeschichte hilfreich.
Hinsichtlich des Drucks und der Form lässt sich konstatieren, dass das Heftchen die in der Oldenburger Sammlung üblichen vier Blätter, bzw. acht Seiten besitzt, von der die erste den Titel und die Titelvignette enthält, die zweite leer bleibt, sich daran dann fünf Seiten Prosa anschließen und die letzte Seite das Lied beinhaltet. Das Papier ist dünn und die Druckfarbe drückt stark durch. Ebenfalls fallen sehr unsaubere Schnittkanten auf. Die Zeilen des sehr langen Titels auf der ersten Seite sind unterschiedlich fett und unterschiedlich groß gedruckt, wodurch vermutlich das Augenmerkt der Kaufenden auf die Wörter „Einnahme Wien’s“, „kaiserlich königlichen Truppen“ und „Roberts Blum’s letzten Worten, so wie seinen Tod“ gelenkt und gleichzeitig hervorgehoben werden soll, wodurch bereits auf zentrale Aspekte des Heftinhalts werbend hingewiesen wird. Ebenfalls ist auf der ersten Seite die Titelvignette abgebildet, auf der eine Art Maske mit einem Rosenkranz auf dem Boden liegend, umringt von einem Kelch und einem Dolch zu sehen ist. Dies könnte einerseits eine Märtyrersymbolik darstellen, ist aber anderseits auch optisch angelehnt an das griechische Theater und könnte damit einhergehend im Zusammenhang mit der Form des Dramas oder der Tragödie betrachtet werden.
Weitere Fragen an den Text, wie zum Beispiel die nach der Rolle und Bedeutung der im Lied wiederzufindenden Symbolik im Zusammenhang von ‚Herz‘, ‚Freiheit‘ und dem Märtyrermythos im 19. Jahrhundert und ob sich die im Text formulierten letzten Worte Blums von anderen Fassungen seiner letzten Worten unterscheiden, sind Beispiele für viele weitere Ansatzpunkte für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Heftchen. Diese Fragen zur Entstehung, Form und Inhalt stehen gewissermaßen exemplarisch für die Arbeit mit der Kolportageliteratur und sind dahingehend leitend für die Arbeit mit der Oldenburger Sammlung, die sicherlich als Schatz für die Kolportageliteratur-Forschung anzusehen ist.
Henning Podulski