Der sechsfache Giftmord in Otterndorf.

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2a:2,55

Das Kolportageheftchen Der sechsfache Giftmord in Otterndorf (im Folgenden verkürzt genannt) beschreibt die zwischen den Jahren 1862 und 1873 begangenen Morde von Wilhelmine Woltmann an Angehörigen ihrer Familie. Es wurde produziert vom Hamburger Verlag Kahlbrock, der zu einem der wichtigsten im Bereich der Trivial-, Massen- oder Unterhaltungsliteratur gehörte und seit 1826 belegt ist. Obwohl keine Jahreszahl auf der Titelseite angegeben ist, lässt sich anhand der Verlagsbezeichnung das ungefähre Datum des Entstehens ablesen. 1873 änderte der Verlag Kahlbrock seine Adresse von Grünersood 52 zu Hütten 63. Fortan wurde der Verlag von der Enkelin des einen Gründers geführt. Von 1878 bis 1886 unter dem Namen ihres Mannes, Ludwig Georg August Tidow (vgl. Fischer 2007, 119-124). Auf dem Titelblatt des Heftchens Der sechsfache Giftmord in Otterndorf ist der Name „H.A. Kahlbrock“ zu finden sowie die Adresse „Hütten 63“ (Der sechsfache Giftmord, 1). Daraus ergibt sich, dass das Heftchen sehr wahrscheinlich zwischen 1873 und 1878 entstanden sein muss.

Der Prosatext des vierblättrigen und damit achtseitigen Kolportagehefts ist geprägt von zeitlichen Sprüngen, Dramatik und subjektiven Wertungen in der Erzählung. Eingeleitet wird das Heft durch die Begründung der Berichterstattung: „Seit einem halben Jahr beschäftigt die Mordgeschichte aus Otterndorf die Leser aller Blätter, so daß auch wir jetzt, nachdem der Prozeß vor dem Schwurgericht in Stade verhandelt worden ist, nicht umhin können, unseren Lesern eine treue und möglichst ausführliche Darstellung davon zu geben“ (Der sechsfache Giftmord, 2). Der Autor geht somit von der Bekanntheit der Geschehnisse bei den Lesenden aus. Trotz der Aktualität wird nicht etwas Neues berichtet, sondern das Unterhaltungsbedürfnis der Lesenden wird befriedigt (vgl. Werber 1997, 55).

Noch bevor die Ereignisse im Detail geschildert werden, wird ein Vergleich zu einer früheren Giftmörderin gezogen, Gesche Gottfried, die ebenfalls mit Arsen zwischen den Jahren 1813 und 1828 vierzehn Menschen aus ihrem engeren Umfeld ermordete (vgl. Bernard 1996, 145-166). Auch hier wird vorausgesetzt, dass die Geschichte von Gesche Gottfried bekannt ist. Obwohl Wilhelmine Woltmann weniger Menschen umbrachte, urteilt der Autor, dass ihre Taten die von Gottfried sogar übertreffen. Durch diesen Vergleich wird erneut hervorgehoben, dass nicht die Berichterstattung im Vordergrund steht, sondern die Unterhaltung der Lesenden durch die Darstellungsweise der Ereignisse (vgl. Werber 1997, 55). Der Vergleich mit den Taten von Gesche Gottfried hat der Verlag Kahlbrock zudem bereits zuvor in einem anderen Kolportageheftchen genutzt. Fischer beschreibt, dass in den Schlusspassagen eines anderen Druckes, der das Leben des Mörders Timm Thode behandelt und 1868 publiziert wurde, an Gesche Gottfried erinnert wird (vgl. Fischer 2007, 136).

Nach einer kurzen Beschreibung der Täterin folgt die Aufzählung der Opfer. Die anschließende Beschreibung der Überführung wird rückwärts erzählt; vermutlich, um die Spannung aufrecht zu erhalten, wie es zu den Taten gekommen ist. Im nächsten Abschnitt wird die Verhandlung vor Gericht geschildert. Dem Leser wird dabei suggeriert, dass der Erzähler selbst in der Verhandlung saß. Die Täterin wird subjektiv gewertet mit Beschreibungen wie „frei und unbefangen“ und „ganz gleichgültig“ (Der sechsfache Giftmord, 4). Ob der Autor tatsächlich an den Gerichtsverhandlungen teilgenommen hat, ist aus seinem Bericht nicht ersichtlich. Im direkten Anschluss springt der Erzähler zeitlich zurück zu dem Moment bevor Woltmann ihren dritten Ehemann geheiratet hat und damit in die Zeit zwischen dem Tod ihres vierten und fünften Opfers (Der sechsfache Giftmord, 3). Nachdem der Grund für den Tod der beiden letzten Opfer beschrieben wird, folgt zunächst eine Aussage der Täterin zu einer Zeugin vor Gericht in indirekter Rede, die sie „ungefähr zu derselben Zeit“ (Der sechsfache Giftmord, 5) geäußert habe. Diese zeitgleiche Darstellung lässt das Geschehen trotz des konjunktiven Modus realer wirken (vgl. Martínez u. Scheffel 2016, 53-54). Sogleich springt die Erzählung zu Wortmanns drittem Ehemann, der „gefragt wurde, ob er gegen seine Frau wohl Verdacht habe“ (Der sechsfache Giftmord, 5). Die zustimmende Antwort des Ehemannes wird in direkter Rede dargestellt. Der Text wechselt damit vom narrativen zum dramatischen Modus der überbrachten Rede und erzeugt damit eine Verringerung der Distanz (vgl. Martínez u. Scheffel 2016, 58). Eine zeitliche Angabe der Aussage des Ehemannes erfolgt jedoch nicht. Möglicherweise ist der Wechsel des Modus beabsichtigt, um die Lesenden über die fehlende Information hinwegzutäuschen.

Nach einem erneuten Zeitsprung werden die Vergiftung und die Symptome des letzten Opfers beschrieben, die sich „[a]m auffälligsten [von allen Opfern] zeigten“ (Der sechsfache Giftmord, 5). Eine nähere Beschreibung der anderen Opfer erfolgt nicht, sodass der Eindruck entsteht, dass zur Unterhaltung der Lesenden die schlimmsten Auswirkungen im Detail erzählt werden. Der Prosatext endet mit einer erneuten subjektiven Wertung. Es wird betont, dass die Angeklagte sich selbst bei der religiösen Ermahnung vor Gericht „ganz gleichgültig [verhielt] und [sich] setzte […] ganz unerhört und frei und unbefangen umblickend wie immer“ (Der sechsfache Giftmord, S. 6). 

Auch das anschließende Lied ist von Wertungen geprägt, die womöglich der Unterhaltung beim Vortrag dienen. Das Lied ist im Gegensatz zum Prosatext insgesamt emotionaler gestaltet und enthält sehr viele subjektive Beurteilungen der Täterin. Auffallend sind die brutalen Wünsche am Ende, die Angeklagte möge zur Hölle fahren und ihr Blut möge für alle Opfer fließen (vgl. Der sechsfache Giftmord, 8). Es ist davon auszugehen, dass das Lied die Wertungen der Lesenden beeinflusst und sie befeuert.

Claudia Ossege