Dieser Blogeintrag widmet sich dem Kolportageheftchen mit dem umfangreichen Titel Josepha Antonette Bilgy, Anführerin einer weiblichen Räuberbande von 600 Frauen und Mädchen in Ungarn, sowie der furchtbare Ueberfall einer Mühle mit 12 der verwegensten Genossinnen ihrer Bande, sowie die Marter und schreckliche Todesstrafe der Räuberhauptmännin, Gefangennehmung und Hinrichtung ihrer weiblichen Räuberschaar. Eine Geschichte jetziger Zeit, wie noch keine dieser Art geschehen ist. (Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2a: 1,10).
Das Heftchen erzählt die Geschichte und das Schicksal von Josepha Antonette Bilgy, Anführerin einer weiblichen Räuberbande von 600 Frauen und Mädchen in Ungarn. Geliebt von ihren Eltern und ihrem Bruder wächst die schöne, geistreiche Josepha in einer wohlhabenden Familie auf. Ihr Bruder wählt einen seiner Freunde als Bräutigam für sie aus, der, wie sich herausstellt, jedoch bereits einer anderen Frau versprochen war. Dieses Ereignis bedeutet den Untergang für Josephas Familie. Die Treulosigkeit ihres Geliebten macht sie krank und sie gebärt einen toten Sohn. Vater und Mutter sterben aus Harm und auch ihr Bruder, der auf der Suche nach dem Treulosen an Cholera erkrankt, lässt bald sein Leben. Mit ihrem Schmerz, dem gebrochenen Herzen und der Einsamkeit verfällt Josephas Seele dem Wahnsinn. Sie schwört, sich am gesamten Männergeschlecht zu rächen und einen jeden Mann zu strafen. Als Anführerin einer Räuberinnenbande aus 600 Frauen und Mädchen, die ihr unverbrüchliche Treue schwuren, beraubt und ermordet sie gemeinsam mit ihren Genossinnen alle Männer, die ihr begegnen, auf scheußliche und brutale Art, sodass schon bald ein Preis von 1000 Gulden auf Josepha ausgesetzt ist. Eines Tages bricht Josepha den von ihr geleisteten Schwur, indem sie sich abermals auf die Liebe zu einem Jüngling einlässt. Der auf Josepha ausgeschriebene Preis bringt den Vater des Jünglings zum Verrat; sechs Jäger werden damit beauftragt die Räuberin zu fangen. Vor Gericht gesteht sie ihre Verbrechen und verrät den Aufenthaltsort der Bande. Gefoltert und gequält richtet sie ihre letzten Worte an ihr Geschlecht und warnt die Frauen und Mädchen vor Verführung. Sie bekennt ihre Schuld und erkennt die Rechtmäßigkeit ihrer Todesstrafe an. Auch ihre 600 Genossinnen werden enthauptet und ihre Köpfe aufgespießt.
Das Quartheftchen (ca. 18cm x 13cm) wurde ohne Jahresangabe von Büttner & Winter in Oldenburg gedruckt. Bestehend aus einem Titelblatt, fünf Seiten Prosatext und zwei Seiten Liedtext hat es einen typischen Aufbau. Auffällig ist allerdings, dass das äußere Blatt (Seiten 1/2 und 7/8) kleiner ist als das innere Blatt, und dass die Seiten 5/6 und 7/8 eine deutlich verschnittene Längsseite aufweisen. Insgesamt gibt es vier Heftexemplare in drei Ausführungen über Antonettes Geschichte in der Oldenburger Sammlung (Signaturen: Spr XIII 4c 2c:3,102; Spr XIII 4c 2a:1,10; Spr XIII 4c 2c:3,97; Spr XIII 4c 2a:1,11).
Der lange Titel füllt das Titelblatt vollständig aus. Durch den Einsatz drucktechnischer Mittel werden z. B. die Zahlen „600“ und „12“ sowie auch der Untertitel „Eine Geschichte jetziger Zeit, wie noch keine dieser Art geschehen ist.“ betont. Eine solche Aktualitätsbehauptung ist ein häufig zu findendes Merkmal der Kolportageliteratur und besitzt eine sensationsheischende Funktion. Darüber hinaus wird schon im Titel die Weiblichkeit der handelnden Akteure („Anführerin“, „weibliche Räuberbande“, „Frauen und Mädchen“, „Genossinnen“, „Räuberhauptmännin“ und „weibliche Räuberschar“) stark hervorgehoben und damit eine Abgrenzung zum männlichen Geschlecht geschaffen.
Der Titel gibt somit bereits einen Einblick in die thematische Ausrichtung des Heftchens. Verbrechen, Gewalt, Brutalität, Mord, Hinrichtung und Tod sowie Liebeskummer, Verrat, Rache, Wahnsinn und Familientragödie können als zentrale Themen und Motive der im Heftchen erzählten Geschichte angesehen werden. Im Sinne einer typologischen Einordnung kann das Heftchen insbesondere den Typen weibliche Räuberbande und persönliches Unglück zugeordnet werden.
Die Erzählung spielt in der ungarischen Stadt Pesth (heute Teil Budapests) und stellt somit einen geographischen Realitätsbezug her, der zusammen mit dem Untertitel der Erzählung bei den Lesenden (oder Hörenden) den Anschein verstärkt, die Geschichte basiere auf einer wahren Begebenheit. Jener Realitätsbezug wird jedoch durch zahlreiche Übertreibungen (z.B. 600 Frauen und Mädchen, extreme Brutalität) sowie das Fehlen expliziter Zeitangaben abgeschwächt.
Der sensationsheischende Charakter der Erzählung zeigt sich auch im Schreibstil und den narrativen Aspekten. Die vom allwissenden Erzähler explizit beschriebene Brutalität und die Verwendung düsterer Motive fesselt die Rezipierenden und unterstützt ihre Imagination. Während Passagen, die die Handlung vorantreiben, eine zeitraffende Erzählstruktur aufweisen, zeichnen sich gerade die Szenen, in denen die Morde der weiblichen Räuberbande beschrieben werden, durch einen starken Detailreichtum aus. Dieses narrative ‚Ausbremsen‘ der Geschichte lenkt den Fokus abermals gezielt auf die Gräueltaten der Protagonistinnen. Neben jener Fokuslenkung beeinflusst das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit auch das Nähe- und Distanz-Empfinden der Rezipierenden zur Geschichte. Eine besondere Rolle nimmt dabei das Wechselspiel aus Nähe und Distanz zur Protagonistin ein.
Zunächst wird in aller Ausführlichkeit das bisherige Leben der Josepha Antonette Bilgy beschrieben. Sie wird als „schön, geistreich und anspruchslos”, als „Augapfel der Eltern” und als „Stolz des einzigen Bruders” dargestellt (S. [2]). Ihre Welt scheint heil und vollkommen, bis sie sich Hals über Kopf in den Mann verliebt, den ihr Bruder ihr vorgestellt hat (vgl. ebd.). Die Lesenden können sich gut in das Gefühlsleben der Protagonistin einfühlen, empfinden mit ihr gemeinsam die Qualen, die der anschließende Betrug des Mannes ihr zufügt (vgl. ebd.) und sind somit imstande, Rache als Motiv für ihre Morde nachzuvollziehen. Während die Darstellung ihrer Figur und ihres traurigen Schicksals durch dramatisch erscheinende Attribute wie „allein mit ihrem Schmerze und gebrochenem Herzen” (ebd.) begleitet wird, erscheint die Darstellung der Gewalttaten, die sie gemeinsam mit ihren Anhängerinnen verübt, eher nüchtern. Dies hilft den Lesenden, die vorher aufgebaute Nähe zu Antonette nicht zu verlieren und erzeugt selbst bei ihrer Hinrichtung ein Gefühl von Unsicherheit hinsichtlich einer Einordnung ihrer Figur als zu bemitleidendes Opfer oder als Täterin.
Betrachtet man in diesem Text das Motiv ‚Gewalt‘, wird eine Steigerung im Sinne einer Gewaltspirale sichtbar, die die Protagonistin in den Tod führt. Am Anfang steht die seelische Gewalt an Antonette und ihrer Familie durch ihren Liebhaber, welche die Ursache für den Tod der Familie und ihres Kindes ist. Antonette reagiert darauf mit starken Rachegefühlen und körperlicher Gewalt gegenüber dem gesamten männlichen Geschlecht. Ungeachtet ihres gegenteiligen Schwurs lässt sie sich später erneut auf einen Mann ein, der sie durch seinen Verrat abermals seelisch verletzt, woraufhin Antonette ihren Liebsten ermordet. Nach ihrer Gefangennahme wird ihr schlussendlich in Form einer Hinrichtung durch die Obrigkeit erstmals selbst körperliche Gewalt angetan. Dies zugrunde gelegt, stellt sich die Frage nach Antonettes Schuld: Ist sie primär als Opfer oder als Täterin anzusehen?
Das Lied gibt Antonettes Geschichte verkürzt und in einer veränderten Reihenfolge der Ereignisse wieder. Die 15 Liedstrophen sind in sechs Verse pro Strophe unterteilt. Das Reimschema ist (mit einigen Ausnahmen) ein Kreuzreim, dem ein Paarreim folgt.
Vergleicht man Prosatext und Lied inhaltlich, so ist besonders auffällig, dass in Letzterem Antonettes familiäre, von Schicksalsschlägen geprägte Vorgeschichte fehlt. Unter anderem diese inhaltliche Verkürzung bewirkt, dass die Zuhörenden (das Lied war vermutlich primär für den Bänkelsang vorgesehen) einen anderen Eindruck von Antonette bekommt als der Lesende des Prosatextes. Während dieser Antonette insgesamt nicht nur als Täterin, sondern auch als Opfer begreifen könnte, ist ihre Darstellung im Lied durchweg negativ – sie wird als aus sich heraus gewaltbereit und brutal gezeichnet. Eine solch drastische Darstellung sollte wohl die Sensationslust des Publikums wecken, es fesseln und steigerte vermutlich die Verkaufszahlen des Heftchens. Weiterhin wird die Neugier der Zuhörenden durch inhaltliche Vorgriffe, die das Schicksal Antonettes erahnen lassen, geweckt.
Insgesamt sticht das Kolportageheftchen durch die Thematisierung der Kombination aus Weiblichkeit und Brutalität hervor und ist daher besonders lesenswert. Offen bleibt die Frage nach der Reue der Protagonistin sowie dem Hintergrund der im Untertitel angegebenen Aktualitätsbehauptung. Ein weiterer interessanter Analyseaspekt ist eine Untersuchung der Deutung von Antonettes Moralbotschaft. Sind die verschiedenen Lesarten auf einen bewusst eingesetzten Sinnpluralismus oder auf die typische Struktur eines Kolportageheftchens zurückzuführen? Auch ein Vergleich der verschiedenen Druckexemplare sowie die Betrachtung der (historischen) Frauenrolle wären denkbar.
Rebecca-Sophie Glaw / Annik Deniz Grzeszkowiak / Alicia Marie Sander / Josefine Schmehl