Mit großen Augen starre ich die Frau an der Kasse an und habe nichts von dem verstanden, was sie gerade zu mir gesagt hat. Weil es mir vor meinen Kommiliton*innen, mit denen ich auf Tagesausflug in Groningen bin, peinlich wäre, das zuzugeben, sage ich einfach Ja und lächle freundlich, fast ein bisschen dümmlich. Als ich beobachte, wie mühelos sich meine Kommilitonin mit der Frau an der Kasse auf Niederländisch unterhält, wird mir irgendwie schwindlig. Eigentlich wollte ich noch in einen Buchladen gehen, aber ich traue mich nicht mehr hinein. Könnte ja sein, dass ich angesprochen werde und wieder nichts verstehe.

Als uns der Bus abends in Leer wieder ausspuckt, bin ich einerseits erleichtert, andererseits ärgere ich mich über meine verpassten Chancen. Was war da los mit mir? Ich verfalle in melancholische Grübeleien.

Der Fall ist klar. Ich habe Sprechangst.

Sprechangst ist die Angst vor einer sozialen Gesprächssituation und taucht eben nicht nur im Fremdsprachenunterricht auf, sondern immer dann, wenn zwei oder mehr Menschen miteinander reden. Während bei Sprechhemmungen im Fremdsprachenunterricht oft die Angst hinzukommt, vor einer Gruppe sprechen zu müssen, sind es im Alltag eher andere Gründe. Soziale Ängste, Unsicherheit oder Schüchternheit können mögliche Ursachen sein. Dabei sind diese Phänomene deutlich harmloser als sie klingen. Manchmal gehören sie einfach zur Persönlichkeit hinzu, beispielsweise bei sensiblen oder introvertierten Menschen, die sich in lauten Umgebungen unwohl fühlen und etwas Zeit brauchen, bis sie aus sich herauskommen. Das ist absolut okay.

Vielleicht steckt auch Perfektionismus dahinter, wenn man sich nicht traut, eine erlernte Sprache im Alltag anzuwenden. Man hält sich zurück, aus Angst, Fehler zu machen. Vielleicht haben diese Menschen im Unterricht oder der Schulzeit auch schlechte Erfahrungen gemacht, wurden oft barsch unterbrochen und korrigiert. Da kann sich ein Ausflug ins Zielsprachenland anfühlen wie eine Prüfungssituation: Jetzt muss alles klappen, man kann nicht einfach unterbrechen und auf Deutsch nachfragen. Man fühlt sich der Situation ausgesetzt und allein gelassen. Viele stehen so unter Druck, dass sie nur noch mehr Fehler machen, oder sie halten sich zurück, sagen lieber etwas weniger.

Nur… was ist so schlimm an Fehlern? Warum sollte man nicht blöd nachfragen? Macht man doch auf Deutsch auch, wenn einem ein Wort nicht äh… na, wie heißt das, wenn man es gerade nicht weiß… ah, wenn einem ein Wort nicht einfällt! 

Und vielleicht ist es auch einfach nur diese unangenehme Situation, wenn man eine Sprache gelernt hat und dann das erste Mal im Land ist, voller Vorfreude, um dann festzustellen, dass man nichts, einfach gar nichts versteht – ein kleiner Schlag ins Gesicht. Im Unterricht hat das doch immer gut geklappt? Was ist los? Man vergisst leicht, dass es in jeder Sprache Dialekte und Slang gibt oder einfach nur Menschen, die so’n bissn nuschln.

Um dich vor dem nächsten Ausflug in die Niederlande oder nach Flandern nicht einschüchtern zu lassen, kannst du in Ruhe überlegen, was hinter deinen Sprechhemmungen steckt. Wie bei allen Problemen gilt: Sprich mit jemandem, dem du vertraust. Sich ein Problem, eine Angst einzugestehen, ist immer der erste Schritt. Vielleicht kann es schon helfen, wenn du dir vorher bewusst machst, dass es keine Prüfungssituation ist und du alle Fehler machen darfst. Man versteht sogar mehr, wenn man nicht unter Druck steht, weil sich das Gehirn mehr Zeit lassen kann, aus dem Sprachbrei bekannte Wörter zu ziehen.

Ein allgemeiner Tipp beim Fremdsprachenlernen ist ohnehin, möglichst viele authentische Materialien zu suchen: Filme, Serien oder Videos in der Sprache ansehen, Radio oder Musik hören. Dadurch bekommt man einen guten Eindruck, wie die Sprache im Alltag klingt.

Wenn soziale Sprechängste dahinterstecken, unabhängig von der Sprache, kannst du dir überlegen, was du daran gern ändern würdest und wie du das erreichen kannst. Stecke dir kleine, realistische Ziele. Du kannst dir zum Beispiel vornehmen, mindestens mit einer Person ein ganz kurzes Gespräch zu führen. Belohne dich auch für deinen Mut. Es ist besser, seine Komfortzone in kleinen Schritten zu verlassen und sich die Möglichkeit offen zu halten, notfalls wieder dorthin zurückzugehen, als mit Anlauf aus ihr herauszuspringen.

Und manchmal muss man auch akzeptieren, dass vielleicht ein Ausflug in der Gruppe anstrengend ist. Vielleicht kannst du lieber mit einer einzelnen Person losgehen, einem guten Freund oder einer guten Freundin.

Bei deiner Sprechhemmung kannst du dich natürlich jederzeit unterstützen lassen, sei es von guten Freund*innen, von deiner Familie oder auch professionell.

Du siehst, Sprechangst zu haben ist gar nicht schlimm, weil es viele Menschen betrifft. Und auch ich muss einsehen, dass ich mich von meinem Perfektionismus unter Druck setzen lassen habe. Beim nächsten Mal gebe ich mir feierlich die Erlaubnis, Fehler zu machen.

Ich schlage vor, in ein paar Wochen noch einmal nach Groningen zu fahren. Denn letztendlich gibt es kaum eine bessere Gelegenheit, eine Fremdsprache zu trainieren, als sie im Zielsprachenland anzuwenden. Reden ist Gold.

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