Şeyda Kurt
(Autor*innen: Phili Knotz und Hana Obser)
Kurzbiographie und Veröffentlichungen:
Kurt, geboren 1992 in Köln, ist eine deutsche Journalistin und Autorin mit kurdisch-türkischem Hintergrund. Geprägt von ihrer familiären Geschichte, die in den 1960er Jahren mit der Migration aus der Türkei nach Deutschland begann, hat sie sich von früh an politisch engagiert und ihre Stimme in migrantischen Selbstorganisationen erhoben. Mit einem Studium der Philosophie und Romanistik an der Universität zu Köln und der Universität Bordeaux Montaigne sowie einem Masterabschluss im Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin hat sie sich eine akademische Grundlage geschaffen, die ihre vielfältige publizistische Arbeit geprägt hat. Kurt versteht ihre publizistische Tätigkeit als eine kraftvolle Synthese aus marxistischer Analyse und queerfeministischer Theorie, wobei sie sich aktiv in den Spannungsfeldern dieser beiden Denkrichtungen bewegt.
Zwischen ihren Lebensmittelpunkten in Köln und Berlin entfaltet sie ihre journalistische Arbeit. Als Redakteurin fürs Ze.tt oder durch ihre Kolumne Utopia für nachtkritik.de, hat sie eine facettenreiche Perspektive auf männliche und weibliche Identitäten in marginalisierten und diskriminierten Kontexten eingenommen und spricht sich lautstark darüber aus. Doch nicht nur ihre schriftstellerische Tätigkeit im Bereich des Journalismus ist überzeugend, sondern auch ihre Fähigkeit als Moderatorin, wie sie im Spotify-Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ und „Man lernt nie aus“ unter Beweis gestellt hat.
Ihr breites Wirken erstreckt sich bis ins politische Feuilleton des Deutschlandfunk Kultur, wo sie drängende gesellschaftliche Themen anspricht und diskutiert. Şeyda Kurts Schriftstellerinnen-Portfolio erstreckt sich neben ihren journalistischen Beiträge mittlerweile auf zwei Bücher. Sie sind 2021 und 2023 erschienen und thematisieren zwei grundlegende menschliche Emotionen und ihre politische (Wirk-)Macht: Liebe und Hass. In ihrem ersten Buch „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ präsentiert sie zunächst autobiographische Reflexion eigener (romantischer) Beziehungen, entwirft aber zugleich ein Konzept der radikalen Zärtlichkeit als Instrument der Gerechtigkeit. “Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist” stieg auf Platz vier der Spiegel-Bestsellerliste ein und erhielt weitreichende positive Rezensionen. Im Anschluss daran veröffentlichte sie im März 2023 das Buch „Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls“, das erneut zum Bestseller avancierte und ihr Lob als eine der eindrucksvollsten jungen Autorinnen im Land einbrachte.
Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit hat Şeyda Kurt auch als Beitragsschreiberin für eine Neuinszenierung am Nationaltheater Mannheim überzeugt, die von der Kritik als ‘‘radikale Sprache einer scharfsinnigen Journalistin‘‘ gefeiert wurde. Als Moderatorin, Vortragende und Workshop-Leiterin setzt sie sich darüber hinaus aktiv für den Dialog über journalistisches Schreiben ein und ist regelmäßig als Gästin in Fernseh- und Radiosendungen zu sehen. Mit ihrer beeindruckenden Bandbreite an Aktivitäten und ihrer unermüdlichen Hingabe an die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen, hat sich Kurt als eine außerordentlich versatile Persönlichkeit in der deutschen Medienlandschaft etabliert und gehört zu den wichtigen politischen Philosophinnen der heutigen modernen Gesellschaft. Kurts neuestes Buch „Hass“, welches letztes Jahr erschienen ist, wird in diesem Blogbeitrag die meiste Aufmerksamkeit genießen.
“Es braucht nicht viel, um zu hassen. Es braucht kein Geld, keine Kirche, keine Institution, keine Infrastruktur. Ein Ritual vielleicht. Doch vor allem braucht es die Erfahrung als ein Körper in der Welt. Wenn ich hasse, hört die Unterdrückung zwar nicht auf, aber meine Antwort kann sich verändern, meine Antwortmöglichkeiten.” (Hass: S.69)
Eine Einleitung – Über Hass und die Macht eines widerständigen Gefühls
„Hass“ von Şeyda Kurt ist 2023 mit dem Untertitel „Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ im HarperCollins Verlag erschienen. Es ist nach „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ und neben verschiedenen Artikeln, Essays und Podcast Projekten die zweite Monografie, die durch Kurt veröffentlicht wurde. Nach einer kurzen Einleitung ist das Buch lediglich in zwei Teile gegliedert, die ungleich zu einander stehen: Hass und Hassen. Dieser Blogbeitrag wird sich an Kurts Sortierung der Inhalte orientieren, sie an manchen Punkten auch neu sortieren. Denn Kurts Schreibstil ist fragmentarisch, führt immer wieder neue Motive ein, führt diese aber nicht weiter aus, greift sie an anderer Stelle stattdessen erneut auf, sodass man sich als Leser*in immer wieder neu orientieren muss. Ein häufiges Zurückblättern der Seiten gehört zum Leseprogramm dazu. Was einerseits sehr irritierend ist, macht das Lesen andererseits auch zugänglicher: Es ist möglich, das Buch an einer beliebigen Stelle aufzuschlagen, einige Seiten zu lesen und dann wieder zuzumachen, um es für die nächsten Wochen in den Bücherschrank zu stellen. Am Ende überwiegt aber die Irritation. Leider müssen die Leser*innen unfreiwillig immer wieder Argumente nachvollziehen, die durch den fragmentarischen Schreibstil nicht ausgeführt sind. Ein sortierter Text mit Unterüberschriften und eindeutig umrissenen, zusammenhängenden Absätzen würde mehr zur Verständlichkeit beitragen und den Text am Ende zugänglicher machen.
In den einleitenden Seiten, die Kurt selbst als „Prolog“ kennzeichnet, werden Motivationen und Hauptthesen des Buches bereits vorgestellt. Wie manche Leseri*nnen vielleicht meinen mögen, wenn sie ein Buch mit dem Titel „Hass“ in der Hand haben, könnte es um eine Analyse des Hasses gehen, der sich in Form von offener Menschenverachtung und einer zunehmend sichtbaren Feindlichkeit gegenüber den Anderen, zum Beispiel durch Frauenhass, Judenhass oder Ausländerhass, bemerkbar macht. Dieser Hass spielt bei Kurt jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen geht es um eine andere Form von Hass. Es geht vielmehr um „reaktionären Hass und strategischen Hass […], über Hass als letztes Mittel, über Hass als Kategorie der Ermächtigung, als widerständiges Handwerk.“ (Hass: S.15). Dabei gilt die grundlegende Annahme: „Der Hass kann verändern, der Hass kann transformieren“ (ebd.). Während Kurt also bereits in der Einleitung die grundlegende These von Hass als Moment der Motivation zur Veränderung hin zu einer utopischen Gesellschaft macht, grenzt sie sich auch davon ab, worum es nicht gehen wird. Im Fokus sind bei Kurt Geschichten eines widerständigen Hasses, Überlegungen eines strategischen Hasses als Mittel der Befreiung von Unterdrückung bei gleichzeitiger Entlarvung des reaktionären Hasses als Herrschaftsmechanismus und einen Einblick über den Zusammenhang von Hass und Rache. „Denn ich schreibe über den Hass nicht um seiner selbst oder um der Kunst des Definitionsabklopfens willen, sondern im Interesse einer anderen Welt.“ (Hass: S.16) Dies legt den entscheidenden Eindruck des politischen Hasses als utopisches Moment frei, den Kurt in ihrer Abhandlung ausmacht.
Über den Aufbau dieses Blogbeitrags
Nach dieser Einleitung soll zu Beginn chronologisch auf den ersten, kürzeren Teil des Buches eingegangen werden. Er ist überschrieben mit „Hass“. Hier schreibt Kurt über die westliche Philosophiegeschichte, was die westliche Philosophie über den “Hass” denkt, um ihr dann ihre eigenen Vorstellungen über den “Hass” entgegenzusetzen. Dabei schreibt Kurt über fünf verschiedene “Modi” (Mehrzahl von Modus) des Hasses. An dieser Stelle im Blogbeitrag bietet es sich an, auf die Verschränkungen von „Hass und Herrschaft“ (Hass: S.19) einzugehen. Diese Verschränkung führt Kurt im ersten Teil ein. Doch wie auch ihre Modi des Hasses, greift sie diese Verflochtenheit im zweiten, umfangreicheren Teil an vielen Stellen wieder auf. Dort führt Kurt ihre Überlegungen auch weiter fort. Die Überlegungen zu Herrschaft und Hass ergänzt Kurt im ersten und dann vor allem im zweiten Teil des Buchs durch weitere Überlegungen zu Hass und Vernunft, Hass und Patriarchat, Hass und Kolonialismus sowie Hass und Kapitalismus. Daher werden an dieser Stelle im Blogbeitrag zum ersten Teil des Buches schon einige weitere Abschnitte und Denkanstöße aus dem zweiten Teil vorweggenommen.
Im zweiten Teil, wie die von Kurt gewählte Überschreibung „Hassen“ schon andeutet, geht es nicht um den Hass an sich, sondern um die Subjekte des Hasses. Um diejenigen, die hassen. „Es gibt keinen Hass ohne die Hassenden, es gibt keine Hassenden ohne hassende Körper, die sich bewegen und verbünden gegen die inneren und äußeren Widerstände.“ (Hass: S.20). Dieser zweite Teil ist umso fragmentarischer, führt immer wieder neue Handlungsstränge ein und wirft neue Fragen auf. Was mitunter wirr und zusammenhangslos erscheint, ist bei weiterer Betrachtung möglicherweise Kurts Absicht. Bereits in ihrer Einleitung führt Kurt „Gleichzeitigkeiten“ (Hass: S.11) ein, „denn die Geschichte und Gegenwart des Hasses ist eine Geschichte und Gegenwart der Gleichzeitigkeiten“ (ebd.). Sowie davor: „ich werde mir widersprechen, immer und immer wieder“ (ebd.). Gleichzeitigkeiten und Widersprüche, versuchte Abkehr von binären Kategorisierungen und Eineindeutigkeit finden sich dadurch auch im gewählten Sprachbild wieder.
Erster Teil Hass
Eine wirklich kurze Geschichte des Hasses
Hass. So heißt der erste Teil. Neben einer Zusammenstellung von zahlreichen Quellen und Querverweisen aus Gesellschaft, Kultur und Literatur, macht Kurt das, was jede genormte, philosophische Arbeit einer deutschsprachigen Bildungseinrichtung ihr gleichtäte: Auf nicht weniger als knapp sieben Seiten, durchbürstet Kurt westliche Begriffsgeschichte bezüglich Hass. In der Darstellung von Aristoteles bis Kant kommt zwar Einiges bei rum, doch bleibt es ebenso oberflächlich. Wie auch sonst auf sieben Seiten. Das liegt mitunter daran, dass Kurt „in der (deutschsprachigen) Philosophie […] auf keine populäre Ideengeschichte des Hasses gestoßen“ (Hass: S.16) ist. Über Aristoteles und seine Moraltheorie der Tugendlehre schreibt Kurt: “Es liegt an der Vernunft, die negativen Emotionen und Affekte wie Zorn und Hass zu regulieren, die Ordnung zu erhalten.” (Hass: S.25). Hass bleibt hier ein Affekt, der möglichst unterdrückt werden muss. Denn Hass hemmt die eigene Verstandeskraft und verleitet den Menschen zu triebgesteuerten, schlechten Verhalten. Vernunftbegabt sind laut Kurt bei Aristoteles nicht alle Menschen, sondern “der freie, bürgerliche, besitzende Mann” (Hass: S.25). Insgesamt wirkt dieser Teil eher wie eine Inszenierung einer Begriffsarbeit der vergangenen 2400 Jahre, die eine rassistische, sexistische und klassistische Begriffsvorstellung von Hass produziert. Dass Kurt damit nicht zufrieden ist, ist nicht überraschend. Trotzdem könnte mensch Kurt vorwerfen, die alten Philosophen zu einseitig zu lesen. Sie lässt ihnen keine Chance auf Rechtfertigung, dafür ist ihre Darstellung zu einseitig angelegt. Es scheint, als ob ihre Darstellung nicht das Ziel hat, sie umfassend einzuführen. Stattdessen verfolgt Kurt ein anderes Ziel: Es schreit förmlich nach einer Aktualisierung, einer Neu- und Umschreibung des Hassbegriffs. Diesen beginnt Kurt dann auch sobald – ohne ihn abschließend fertigzustellen. Dafür stellt Kurt als Erstes ihre fünf Modi des Hasses vor. Fünf Modi, die Kurt im Hauptteil ihres Buches immer wieder, häufig implizit und seltener explizit aufgreifen wird.
Die fünf Modi des Hasses bei Kurt
Als ersten Modus nennt Kurt den „Hass, der dem rassifizierten, unterdrückten Menschen als seine angeblich natürliche Seinsweise zugeschrieben wird“ (Hass: S.31). Rassifizierung ist ein von Kurt benutzter Begriff, um „Formulierungen wie ‚Migrationshintergrund‘ oder ‚Einwanderungsgeschichte‘ zu vermeiden, die oft bei dem Thema Rassismus nicht den Kern der Sache treffen“ (Zärtlichkeit: S.24). Das illustriert sie beispielsweise mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der „den Hass in seiner Phänomenologie des Geistes(1807) zum natürlichen Wesenszug Schwarzer Menschen“ (Hass: S.30) erkläre. Weiter würde „diese rassistische Vorstellung im 19.Jahrhundert unter den meisten westlichen Denker*innen herumgereicht wie Knopf und Faden“ (ebd.). Doch nicht nur die Denker*innen der europäischen Epoche der Aufklärung entlarvt Kurt als Rassist*innen, die entsprechend dem ersten Modus des Hasses den Hass als „natürliche Seinsweise“ (Hass: S.31) Schwarzen Menschen und weiteren rassifizierten Körpern zuschreiben, sondern auch in der westlichen Antike, bei Aristoteles, macht sie solche Denkweisen aus.
Den zweiten Modus des Hasses, den Kurt anführt, ist eine Form des Hasses, der dafür da ist, um „die Menschen […] zum Hass auf ihre Gleichgesinnten“ (Hass: S.31) anzustiften. Dabei kommt dieser gegenseitige Hass zumindest in kolonialen Systemen nicht von den Kolonialisierten selbst, sondern würde von den Kolonialisator*innen eingesetzt werden, um „die Ausgebeuteten und Versklavten einander bei der Arbeit [zu] kontrollieren und disziplinieren“ (ebd.). Unklar bleibt an dieser Stelle noch, wie sich das auf kapitalistische (Re-)Produktion übertragen lässt. Der zweite Modus des Hasses trage dabei auch immer Elemente des ersten Modus mit sich, insbesondere wenn es um die Entmenschlichung von hassenden Subjekten hin zu Objekten geht.
Der dritte Modus, den die Autorin vorstellt, ist der politische Selbsthass. Dieser ist ein nach innen gerichteter Selbsthass von unterdrückten, kolonialisierten und rassifizierten Menschen. Er erscheint vor allem in dem heutigen Zeitalter des neoliberalen, rassistischen Patriarchats als besonders nützlich, um Betroffene besser zu isolieren und zugleich von ihnen weiterhin zu profitieren (Hass: 32). Wer sich selbst hasst, hat wenig Zeit andere zu kritisieren und zu hassen, selbst wenn diese aktiv zum eigenen Leid beitragen.
Der vierte Modus wird als „Nicht hassen Dürfens/Könnens Hass“ aufgezählt. Kurt erklärt diesen als Notwendigkeit den eigenen Groll, “den eigenen Hass, die eigene Abscheu, den eigenen Widerstand” (Hass: S.33) aus unterschiedlichen Beweggründen zu unterdrücken. Die Unterdrückung der eigenen Emotionen, der eigenen Reaktionen auf Ungerechtigkeiten ist notwendig, da hassenden Subjekten, wenn sie ihren Hass offen zur Schau stellen, die Menschlichkeit abgesprochen wird. Sie können in der bürgerlichen Logik, die binär zwischen Hass und Vernunft codiert, nicht hassen, wenn sie zugleich vernünftig sein wollen. Sie dürfen nicht hassen, wenn sie nicht wollen, dass ihnen die Menschlichkeit und in der Folge zum Beispiel auch die Teilhabe an universellen Menschenrechten abgesprochen wird. Denn wer hasse, könne nicht vernünftig sein. Daher ist, wie Kurt selber feststellt, der vierte Modus eng mit dem ersten Modus des Hasses verbunden. In Verknüpfung mit dem dritten Modus verdeutlicht dieser vierte Modus das Dilemma der bürgerlichen Logik, in der hassende Subjekte gefangenen sind: Aus der gefühlten Machtlosigkeit der Unterlegenen, dem politischen Selbsthass und der zynischen Sicht, dass jeglicher Widerstand hoffnungslos ist, nicht sein kann und darf, folgt Resignation.
Der fünfte Modus erkennt nun den „Hass als selbstermächtigte Antwort auf die Unterdrückung“ (Hass: S.45). Hierbei handelt es sich um eine emanzipatorische Reaktion auf jegliche Diskriminierung und Ausschließung Unterlegener. Kurt erwähnt in diesem Kontext den Widerstand zu Zeiten des Nationalsozialismus und betont, dass das Konzept des “Hasses” einen wichtigen, nicht zu vertreibenden Stellenwert in unserer Gesellschaft hat, selbst wenn der Wunsch nach der Abschaffung des Hasses zunächst als nachvollziehbar gilt (Hass: S.46-48). Dieser fünfte Modus des Hasses, der die Subjekte in den Mittelpunkt stellt und sich nicht an ausschließenden Logiken abarbeitet, wird eine zentrale Rolle im zweiten Teil von “Hass” spielen.
Doch bevor der Blogbeitrag darauf wieder zurückkommt und dann auf die Aspekte Hass und Widerstand, Ästhetik des Hasses, Hass und Rache und Hass als utopische Motivation zur Verwirklichung einer radikal zärtlichen Gesellschaft eingeht, soll nun ein kurzer Abstecher zur Verschränkung von Hass und Herrschaft gemacht werden. Bereits in der Einleitung erklärt Kurt dazu: “Herrschaft ist nicht unbedingt eine unmittelbare, soziale Beziehung, die über Befehle, Gehorsam und Bestrafung funktioniert. Die Herrschaft greift über ein System um sich, mit ihrer Gesamtheit an Strukturen, indirekter Erwartungen, Regelwerken, Mechanismen und Arbeitsteilungen.” (Hass: S.19). Und dazu gehören politische Gefühle. Wie der Hass.
Über die Verschränkung von Hass und Herrschaft
Hass und Herrschaft. Wenn Kurt über die westliche Philosophiegeschichte in Bezug auf Hass schreibt, dann macht sie das insbesondere, um aufzudecken, wie Herrschaft und Hass ineinander verschränkt sind. Wie der Hass gedacht wird, um Herrschaft zu legitimieren. „Die gegebene herrschende Ordnung verlangt keine leidenschaftliche Auflehnung“, schreibt Kurt, um in Verknüpfung zu der aristotelischen Tugendlehre festzustellen: „deshalb sind der Zorn und der Hass keine Tugenden […] Sie stören die Ordnung.“ (Hass: S.25). Die Ordnung ist dabei aber keine neutrale Ordnung der Dinge, wie sie sind. Sowohl im antiken Griechenland als auch in den meisten modernen Gesellschaften bedeutet die bestehende Ordnung vor allem eines: Herrschaft. Zum Beispiel die Herrschaft von Männern über Frauen (Patriarchat) oder die Herrschaft als Deutungshoheit bei Rassismus. Herrschaft ist zum Beispiel auch der Zwang, dem Menschen im Kapitalismus unterliegen, wenn sie ihre eigenen Körper als Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu überleben. Jedenfalls stützt die Vorstellung von Hass bei Aristoteles die bestehende Ordnung – und rechtfertigt somit auch Herrschaft.
“Es braucht nicht viel, um zu hassen. Und doch braucht es so viel, denn es braucht die Überwindung der Scham. Die Scham, hassend, gehässig, hässlich, rachsüchtig zu sein.” (Hass: S.77)
Zweiter Teil Hassen
Die Subjekte des Hasses
Hassen. Mit dieser deutschen Verbform des eigentlichen Nomen des Hasses ist der zweite und erheblich größere Teil des Werkes überschrieben. Hassen als Verbform, denn „Genauso wie die Liebe, das schrieb ich bereits, ist der Hass ein Tun“ (Hass: S.20). Weiter kündigt Kurt an anderer Stelle an, dass sie „die Scheinwerfer auf hassende Menschen und ihre vielfältigen wie widersprüchlichen Geschichten“ (Hass: S.51) richten will, sie als Subjekte in den Vordergrund stellen möchte und nicht als Objekte des Hasses abtun. Subjekte sind diejenigen, die eine Handlung ausführen und Objekte sind dasjenige, mit dem die Handlung passiert. Beim Einräumen des Geschirrspülers sind das schmutzige Geschirr die Objekte und Thomas, der zur Abwechslung auch mal das Geschirr einräumt, das Subjekt. Bei einer politischen Diskussion wird über Menschen schnell so gesprochen, als wären sie nur schmutziges Geschirr, das zur Reinigung in den Geschirrspüler gestellt werden müsse. Dadurch werden hassende Menschen zu Objekten gemacht. Das habe, wie bereits von Kurt im ersten Buchteil gezeigt, insbesondere die westliche Philosophiegeschichte lange genug getan, wenn die Philosophen über hassende Menschen nachgedacht haben. Nun also das Bühnenlicht auf die hassenden Subjekte, die ihren Hass nicht aus ihrer vermeintlichen Minderwertigkeit in sich tragen, sondern aus guter – sprich mitunter auch mal vernünftiger – Motivation.
Es ist ein verändernder Hass auf gesellschaftliche und politische Ungerechtigkeit, der die Hassenden zum politischen Subjekt werden lässt, sie rational handelnd macht. Hassen als Motivation zur Veränderung. Wie bereits angeklungen, werden die Inhalte im Blogbeitrag etwas umsortiert und – soweit es ging – unter einigen Leitthemen, die ausgemacht werden konnten, zusammengefasst. Zunächst soll ein Blick auf Widerstandserzählungen geworfen werden, die immer wieder auch mit Hass in Verstrickungen geraten. Dann wirft der Blogbeitrag einen kurzen Blick auf Kurts Ästhetik, die eine direkte Verknüpfung zwischen Hass und Hässlichkeit sowie Liebe und Schönheit herstellt. Bevor abschließend der Hass als utopische Motivation in Kurts Utopie einer radikal zärtlichen Gesellschaft interpretiert werden soll, gibt es noch einen Teil zu Hass, Rache und Bestrafung, auf die Kurt immer wieder zu sprechen kommt.
Ästhetik-Theorie zwischen Hass und Schönheit
Kurt stellt Zusammenhänge von Hass, Schönheit und Hierarchie fest. Demnach würde sich eine Zweiwertigkeit zwischen hassen(swert) und lieben(swert) ebenfalls in der ästhetischen Sphäre wiederfinden: Was hässlich sei, das wäre schlecht, was schön wäre, das sei gut
Erstens beobachtet Kurt diese Ästhetik des Hasses an der Darstellung von Bösewichten aus dem Disney-Geschichten-Imperium, die allesamt “stark geschminkt, extravagant gekleidet,” (Hass: S.76) und in ihrer “Geschlechterdarstellung oft fluide” (ebd.) dargestellt würden. Kurzweg stellt Kurt fest: “Sie sind queer kodiert” (ebd.). An dieser Stelle, so Kurt, würde die Ästhetik von Hass/Hässlichkeit das Terrain der bloßen Ästhetik übersteigen und um eine moralische Sphäre ergänzen. “Die Bewertung von Hässlichkeit und Schönheit begrenzt sich also bereits in der platonischen Philosophie nicht darauf, bloß ästhetisch zu urteilen. […] Schon damals stehen die Schönheit und Hässlichkeit in einer moralischen Hierarchie: Das Gute ist schön, das Böse ist hässlich” (Hass: S.79). Demnach folgt der Schluss, dass mensch von queerer Geschlechterperformance hässliches, sprich schlechtes und falsches, Verhalten erwarten könne.
Zweitens setzt Kurt ihre Ästhetik-Theorie ebenso in Zusammenhänge mit der Abwertung von von Schönheitsnormen abweichenden Menschen als hassende Personen. Wir erinnern: Mit Aristoteles zeigt Kurt, wie bereits in der antiken, westlichen Philosophie hassenden Personen ihre Menschlichkeit abgesprochen wird. Und zwar, in dem der Hass als sogenannter Affekt von der Vernunft als zutiefst menschliche Eigenschaft kontrolliert werden müsse. Wer hasse, sei offensichtlich nicht in der Lage, seine Vernunft zu nutzen und verliert dadurch seine*ihre Menschlichkeit. Normhässliche Körper, die keinen Schönheitsnormen entsprechen, werden zu hassenden Körpern. Ihnen wird ihr Mensch-Sein abgesprochen. Besonders zu beachten ist: “Die Abwertung und Dämonisierung ihrer Körper beschränkt sich nicht nur darauf, dass sie von rassistischen Körpernormen abweichen [rassistische Körpernorm zum Beispiel hier: Wer Schwarz ist, ist von seiner zugeschriebenen Rasse aus gewalttätig und bedrohlich, A.d.A.]. Sondern auch dadurch, dass sie von rassistischen Schönheitsnormen abweichen. Wer hässlich ist, ist in diesem Sinne eine ständige Bedrohung.” (Hass: S.81f.) Hier greift wieder das bereits eingeführte Wechselspiel: Wer hässlich ist, ist hassend, wer hassend ist, wird hässlich. Ein Teufelskreis. Das gälte bei “rassistischen Schönheitsnormen” (ebd.) ganz besonders für rassifizierte Menschen.
Drittens und zuletzt geht die Schönheitsindustrie aber auch in die andere Richtung: “Einerseits sollen alle schön sein – gerade (cis) weibliche Personen. Doch wenn sie dem Patriarchat zu unbequem werden, beweist ihre vermeintliche Schönheit nur wieder ihre Unzulänglichkeit.” (Hass: S.84). Wer Schönheitsnormen besonders entspricht, kann nicht widerständig sein, das ginge nicht, weil diese Person ja sonst auch hässlich sein müsste. In ihrer Widerständigkeit, in ihrer Kritik dürfen sie nicht ernst genommen werden, ansonsten wäre die Logik nicht erfüllt. Tatsächlich wird Menschen, die der schönen Norm entsprechen, in der Regel vieles zugesprochen: Widerständiger Intellekt gehört selten dazu.
Hass und Widerstand
Immer wieder kommt Kurt auf Hassen als “widerständige Handlungsform” (Hass S. 15) zu sprechen. „Mich interessiert Hass zwar auch als eine unterdrückerische, doch noch viel mehr als eine widerständige Handlungsform“ (Hass: S.15) schreibt sie auf den ersten Seiten und weiter: „Ich werde über reaktionären und strategischen Hass schreiben, über Hass als letztes Mittel, über Hass als Kategorie der Ermächtigung, als widerständiges Handwerk“ (Hass: S.15). Um darüber zu schreiben, fügt sie in ihre Überlegungen immer wieder verschiedene Widerstandsgeschichten ein. Da ist jüdischer Widerstand in den Warschauer Ghettos unter nationalsozialistischer Besatzung, ebenso der oft vergessene Widerstand der Sinti*zze und Rom*nja. In ihrer Erzählung tauchen die Kurdin Sakine Cansiz und die Chilenin Luisa Tolédo auf, die über mehrere Seiten in kurzen Absätzen abwechselnd dargestellt werden. Hier entsteht allein auf schriftlicher Ebene ein Bild von international zusammenhängenden Widerstandskämpfen. Beide Kämpferinnen wehren sich gegen ihre Unterdrücker*innen: Sakine Cansiz gegen türkische Nationalisten und Militär, Luisa Tolédo gegen die chilenische Militärdiktatur. Weitere Widerstandserzählungen handeln von widerständigen Müttern. Da sind zum einen “die Mütter von Srebrenica, die für Gerechtigkeit für ihre Kinder, Ehemänner und Brüder kämpfen, die dem Genozid durch serbische Nationalist*innen zum Opfer fielen” (Hass: S. 111). Dazu kommen “die Mütter von Tamil Eelam, die nach ihren Familien suchen, die durch den sri-lankischen Staat verschleppt wurden” (ebd.) und zuletzt die “Samstagsmütter” (ebd.), die sich seit Mitte der 1990er Jahre samstags zunächst in Istanbul versammelten, um vom türkischen Staat für ihre Kinder und weitere Angehörige Gerechtigkeit einzufordern. Sie wurden durch den türkischen Staat verschleppt, aufgrund ihrer politischer Einstellung, weil sie Kurd*innen sind oder wegen eines angeblichen Terror Verdachts (vgl. Hass S.111f.). Zuletzt nennt Kurt noch den bewaffneten Widerstand, wie in der haitianischen Revolution, der von Versklavten der französischen Kolonie Saint-Domingue 1791 angezettelt wurde (vgl. Hass: S.122f.).
Wider der Trennung von aktiven und passiven Widerstand
Widerstand bei Kurt hat mehrere Formen. Explizit spricht sie die Trennung von passiven und aktiven Widerstand an, die häufig abwertend gegenüber dem passiven Widerstand als weniger widerständig gedeutet wird. Stattdessen verweist Kurt auf die besonderen Umstände der Widerständigen und betont, wie wichtig die angemessene Widerstandsform je nach Situation ist. Widerstand, das kann auch durch den illegalen “Aufbau von Schulen, Kindergärten, Waisenhäusern, Krankenhäusern, die Beschaffung von Kleidung und Medikamenten, durch die Veranstaltungen von Konzerten, Theateraufführungen, Gedenkabende” (Hass: S.64) geschehen, wie Kurt mit den Überlungen von Iris Fährmann argumentiert. Den israelischen Historiker Yehuda Bauer nimmt sie hinzu, der die verschiedenen Widerstandspraktiken von Jüdinnen und Juden als Verfolgte des NS-Regimes mit dem Hebräischen Ausdruck amida bezeichnet, der so viel wie “aufrecht stehen, standhalten oder sich gegen jemanden erheben” (Hass: S.64)bedeutet. Kurt zieht keine Trennung zwischen aktiven und passiven Widerstand, zwischen bewaffneten und unbewaffneten Widerstand.
Widerstand als utopisches Potenzial
Widerstand hat bei Kurt auch ein utopisches Potenzial. Treffend bedient sie sich dafür an den Worten Luisa Tolédos, die jene im März 2020 bei einem Redebeitrag auf einer chilenischen Protestdemonstration sagt:
“Wir müssen unsere Angst loswerden!
Sie hassen uns!
Lasst sie uns auch hassen!
Warum habt ihr Angst zu hassen?
Wir brauchen die Kraft des Hasses,
um uns ihnen entgegenstellen zu können,
um sie bekämpfen zu können.”
(Hass: S. 108)
Das utopische Potenzial des Hasses zeigt sich hier als utopische Motivation. Hass kann der Antrieb sein, der Widerstand gegen Unterdrückung hervorruft. Nach einem kurzen Abstecher zur Rache soll auf die utopische Motivation im letzten Teil des Blogbeitrags nochmal vertiefend eingegangen werden. Doch nun erstmal zur Hass-Geschichte der Rache, in der die hassenden Revolutionär*innen, die Versklavten von Saint-Domingue des Jahres 1791, wieder auf die sprachliche Bühne bei Kurt kommen.
Hass und Rache
Rache wird als die radikalste Form des Hasses genannt, die mit den am stärksten behafteten Stigmata um sich herum, die ein noch geringeres Existenzrecht als der Hass mit sich bringt (Hass: S.116). Wer rächt, der ist weniger Wert als die, die nur hassen. Der Rache geht in allgemeiner Vorstellung kein rationales Denken vorweg, sie passiert unüberlegt und unverhältnismäßig. Bei Kurt ist Rache jedoch nicht impulsiv und unüberlegt, sondern meist über einen größeren Zeitraum und wohl durchdacht angelegt. Doch noch mal zurück zum allgemeinen Bild der Rache. Die Abwertung der Rache steht laut Kurt in einem antijüdischen Zusammenhang (ebd.) und dient als Gegenstand der Abgrenzung des dominierenden Christentums vom Judentum. Zentral ist die Rolle eines rachsüchtigen Juden in antisemitischen Verschwörungserzählungen.
Die christliche, bürgerlich-westliche Annahme hat die Rache also einerseits zum unrechtmäßigen und despotischen Recht des Stärkeren erklärt, andererseits ist eine andere Form der Rache unersetzlich in unserem zurzeit herrschenden Rechtssystem, nämlich die Bestrafung. Die Vorstellung von einem neutralen Rechtssystem ist falsch, wenn Konzepte wie Rache, also die zeitlich verzögerte Selbstverteidigung gegen Unrecht, durch Bestrafung ihren Weg in das Gesetzesrecht gefunden haben. Kurt schreibt, wenn Vergeltung als gerecht und Rache als ungerecht gilt, sollte das nicht ohne den Blick auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse geschehen. Denn Bestrafung qua Gerichtsbeschluss ist eine Form von Rache, die jedoch nicht negativ behaftet, sondern akzeptiert ist. Wo Rache bzw. Bestrafung aus Unrecht passiert, muss diese verurteilt und geächtet werden. Doch gibt es eine legitime Form der Rache? Kurt bezieht dafür die Philosophin Hannah Arendt mit ein, die schreibt, dass der Verzicht, sich zu rächen als eine Art Abschied zu sehen ist, während Rache immer nah am anderen bleibt und die Beziehung weiterhin bestehen bleibt (Hass: S.127). Und letzteres ist Kurt wichtig: Die Beziehung aufrechterhalten. Dabei “muss [die Rache] nicht willkürlich sein, sie muss keine ungesteuerte Selbstjustiz bedeuten […]. Die Rache kann zunächst das Anrecht auf Wiedergutmachung bedeuten” (Hass: S.120). Leider bleiben die Unterscheidungen, die Kurt zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger, zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Rache trifft, nicht in Gänze nachvollziehbar. Auch wie es sich um Strafe verhält, klärt sich bei der Lektüre nicht ganz. Vielleicht müssen diese Fragen beim Kommen einer werdenden Gesellschaft geklärt werden und sind Teil eines utopischen Potenzials. Bevor darauf eingegangen wird, bringen die sechs Faustregeln des Hasses noch ein bisschen Licht ins Dunkle, bei der Frage, wie legitime Rache sich gestaltet.
Sechs Faustregeln des Hasses
Mit dem Männerhass vieler Feministinnen verhandelt Kurt die Fragestellung nach legitimen Zielobjekten des Hasses. Allgemein gilt zu beantworten: Wem gilt der Hass? “Menschen oder Systeme[n]” (Hass: S.133)? Kurt schlägt sich auf die Seite der Systeme, die es zu hassen gilt. Sie lässt sich aber eine Hintertür offen. Dafür stellt sie sechs Faustregeln des Hasses auf:
“1) Menschen zu hassen, muss immer die letzte Option bleiben.
2) Die Frage, welche Menschen ich dann (nicht) hasse, könnte davon abhängen, von welchen Menschen ich noch etwas erwarten kann (oder nicht).
3) Ich sollte von so vielen Menschen wie möglich etwas erwarten.
4) Dann bin ich gut beraten, jene zu hassen, die aus der Ferne meine Barrikade brennen sehen wollen. Die, die das Benzin und die vermeintlichen Wahrheiten in die Welt bringen und deren Wohlstand es ohne den Brand nicht gäbe.
5) Und manchmal die, die mutwillig das Feuer legen und sich in Verachtung an seinen Flammen wärmen.
6) Menschen zu hassen, muss immer die letzte Option bleiben. Aber wenn, dann sollte ich alles in den Hass legen, ganz so, als würde das Morgen davon abhängen” (Hass: S. 145f.)
Hier lehnt Kurt die am Individuum orientierte Richtung des Hasses zunächst ab (1), um sie dann mittels der politischen Idee der gemeinsamen Barrikade wieder einzuführen (2, 3, 4, 5, 6). Kurz gesagt: Wer aktiv gegen eine freie Gesellschaft für alle kämpft, der kann legitimerweise Hass erfahren. So kann sich der ganze Hass auf diese Person kanalisieren, um gegen sie die freie Gesellschaft zu verwirklichen. Kurts Hassbegriff ist an dieser Stelle nicht falsch zu verstehen. Ihn als Aufruf zu Gewaltexzessen gegen Andersdenkende zu verstehen, wäre verkürzt. Denn der Hass gegen Personen ist nicht gleichzusetzen mit der konkreten Aktion. Aber Hass spielt als utopische Handlungsmotivation eine Rolle, die das Systemische erkennt und Änderung der Verhältnisse herbeiführen kann.
Hass als utopische Motivation einer Utopie der radikalen Zärtlichkeit
Kurt macht immer wieder Fragen auf. Fragen über Fragen. Manche Absätze sind voll von Fragen. Manche sind nichts Anderes. Fragen aneinandergereiht und ohne Antworten. Erst zum Ende stellt Kurt voller Selbstreflexion fest: „Ich stelle zu viele Fragen und beantworte zu wenige“ (Hass: S.171). In der Tat: Das Lesen von Hass hinterlässt bei Leser*innen viele Fragen. Doch womöglich scheint das auch Kurts Intention zu sein, das in-Frage-stellen verkrusteter Hass-Liebe Dichotomien. Eindeutige Antworten darauf zu liefern, scheinen wieder nur neue Dichotomien herzustellen. Statt klare Antworten auf die Fragen zu geben, gibt Kurt in den letzten Abschnitten ihres Werks also lieber einen utopischen Einblick in Gesellschaften, die in der Lage sind, sich solche Infragestellungen zu leisten und um sie dann kollektiv im Diskurs zu beantworten. An dieser Stelle scheint sie auch zu einer Art Synthese, von Liebe und Hass zu gelangen, die keine ist, eher eine Arbeitsform, mit der sich wieder zusammenbauen lässt, was auseinandergebrochen ist. Kurt schreibt „wir haben es uns hier eingerichtet, im Hass und in der Zärtlichkeit, im Grollen und im Kosen, an diesem Ort der Gleichzeitigkeit“ (S.180). Davor geht Kurt noch etwas tiefer auf ihren Utopie-Entwurf ein. Dazu gehört bei Kurt der Hass der Unterdrückten als Motivation genauso, wie die radikale Zärtlichkeit, die „radikal zärtliche Gesellschaft“ als Konkretion des utopischen Moments.
Die utopische Konkretion entwirft Kurt bereits in ihrer ersten Monografie “Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist”. Mit Foucault und seinen Gedanken zur Utopie argumentiert Kurt für eine Betrachtung des Seele-Körper-Dualismus. Denn “in Körpern vereinen sich Gewalt und Widerstand, all die Scheußlichkeiten und Schönheiten unserer Welt” (Zärtlichkeit: S.199). Dies heißt für Kurt eben auch, dass der als von der Seele, von dem Gedanken abgeschnittene Körper, eine entscheidende Rolle spielt und in ihrer utopischen Konkretion in den Fokus gestellt wird. Ihre utopische Gesellschaft würde Menschen in ihrer vollständigen Körperlichkeit betrachten, sie nehmen wie sie sind und Verhältnisse schaffen, die für die Vielfalt menschlicher Körper geschaffen sind – und nicht für den einen Idealtypus des Menschen an sich. Davon auszugehen reiche nicht, Kurt fragt zurecht: “wie frei sind die Gedanken, wenn die Körper nicht frei sind?” (Zärtlichkeit: S.203). Zu ihrer utopischen Konkretion gehört ebenfalls eine neue Zeitkonzeption. Ausgehend von ihrer Analyse – “der Kapitalismus […] beraubt den Menschen einer seiner wichtigsten Ressourcen: seiner Zeit.” (Zärtlichkeit: S.206) – schwebt Kurt eine Aufhebung kapitalistischer Zeitkategorien vor, die sich insbesondere zwischen Arbeitszeit und Zeit zur Wiederherstellung der Arbeitskraft, zum Beispiel durch Freizeit, Ruhezeit, Me-Time oder Zeit mit Freund*innen, aufteilen. Stattdessen brauche es eine tatsächliche Auflösung des “Gegensatz zwischen Arbeit und Freizeit” (Zärtlichkeit: S.207), was nur in der Verwirklichung einer “postkapitalistischen Gesellschaft” (ebd.) erreicht werden könne.
Hass bringt die Masse in Bewegung
Wenn Kurt in “Hass: Über die Macht eines widerständigen Gefühls” über Utopien schreibt, und, wie es scheint, zentral über den Hass als Antrieb, als utopische Motivation, dann mutet das nach einer Erweiterung ihres Utopie-Entwurfs an. Eine radikal zärtliche Gesellschaft ist erstrebenswert, doch scheinbar reicht es für die Verwirklichung von Utopien im Allgemeinen nicht, dass sie allein aufgrund ihrer Strahlkraft verwirklicht werden würden. Sonst wären heute schon unzählige Utopien verewigt worden. Nach Kurt könnte der Hass, aber nie nur der Hass, als der Hass auf die bestehenden Verhältnisse, ein zentraler Moment sein, der die Verwirklichung der radikal zärtlichen Utopie greifbar macht. Der die Masse in Bewegung bringt. Aus dieser Betrachtung liest sich “Hass” auch nochmal ganz anders: Als würde Kurt versuchen, in ihren Leserinnen aktiv den Hass zu säen: Den Hass gegen die real existierende Ungerechtigkeit, gegen Rassismus und Kolonialismus, gegen kapitalistische Ausbeutung und binäre Geschlechtszuschreibung.
Strategischer Hass als Erweiterung zum fünften Modus des Hasses bei Kurt
Dazu passt ihre Konzeption vom “strategischen Hass” (Hass: S.113), der gedanklich als Ergänzung zum widerständigen, fünften Modus des Hasses betrachtet werden kann, den Kurt in ihrem ersten Buchteil zwar entwickelt, aber bis dato nicht wieder aufgreift. Über strategischen Hass schreibt sie:
“1) Strategischer Hass bedeutet: Es ist nicht der Hass als solcher, der Menschen mobilisiert und sie widerständig macht. Ich wehre mich nicht, nur weil ich hasse. Ich kämpfe nicht, nur weil ich hasse. Der Hass ist kein nur. Er darf kein nur sein.
2) Strategischer Hass weiß: Der Widerstand erwächst aus existierenden Erfahrungen in herrschenden rassistischen, patriarchalen und ausbeuterischen Verhältnissen, die Körper und Natur zerstören. Aus der notwendigen Selbstbehauptung gegen die Unterdrückung und Bevormundung. Aus dem notgedrungenen Bedürfnis, Leben zu bewahren.
3) Strategischer Hass erzeugt Intensität und Dauer, ist Antrieb und Überzeugung. Strategischer Hass formt sich aus den Geschichten, die sich Menschen erzählen, aus Erfahrungen, die sie miteinander teilen, aus gemeinsamen Worten, die sie sprechen. Der strategische Hass ist ein Werkzeug, eine Methode der Selbstverteidigung, die dabei helfen kann, weiterzukämpfen, selbst wenn kein Ende in Sicht und keine Hoffnung zu greifen ist.
4) Der strategische Hass kann, aber muss nicht explosionsartig Grenzen niederreißen. Vor allem ist er eine beständige Überschreitung jeglicher Grenzen.
5) Strategischer Hass ist ein Versprechen an die Zukunft, die lebenswert ist.” (ebd.)
In dieser Auflistung sind viele von Kurts entworfenen Gedanken enthalten. Es geht ihr um Hass als utopische Motivation (1 und 5), um den vielfältigen Widerstand gegen Herrschaftsverhältnisse, den der Hass stiften kann (2, 3 und 4) und eine Form der Rache als politische Selbstverteidigung (4). Wie wir angekündigt haben, geht es Kurt um Neukonzeptionierung des Hasses “im Interesse einer anderen Welt” (Hass: S.16). Wir haben gezeigt, wie sie dafür bisherige Vorstellungen von Hass zerlegt, auf die Verschränkungen von Hass und Herrschaftsverhältnissen im Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus verweist und herrschaftserhaltende Vorstellungen in einer Ästhetik des Hasses aufdeckt. Dieser Kritik stellt Kurt ihre eigenen Entwürfe entgegen, denen sie sich mit vielen Fragen und Querverweisen bis zum Ende nähert. Zu einem eindeutigen Ende kommt sie nicht. Wer das bei der Lektüre erwartet, wird nicht zufriedengestellt. Dafür bleiben zu viele Fragen offen, zu viele Aussagen ohne umfangreiche Unterfütterung. Stattdessen kommt “Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls” eher einer Collage gleich, einer Materialiensammlung zum Hass, gespickt mit gezielten Einordnungen und eigenen Kommentaren, die immer wieder zu Diskussion und Nachdenken anregen. Hängen bleiben Kurts Gedanken zu Hass als utopische Motivation, ihre Überlegungen zur Rache und Formen von Betroffenengerechtigkeit, die beim und nach dem Lesen zum Denken anregen.
Literatur
Zärtlichkeit: Kurt, Şeyda (2021): Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist. Hamburg, HarperCollins
Hass: Kurt, Şeyda (2023): Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls. Hamburg, HarperCollins
Wikipedia (2024): Şeyda Kurt, [online] https://de.m.wikipedia.org/wiki/%C5%9Eeyda_Kurt [22.07.2024]
Abbildungsverzeichnis
Abb.1: https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:Seyda_Kurt_2022.jpg [22.07.2024]