Donna Haraway
(Autorin: Ronja Gronemeyer)
Biographie:
Donna Haraway wuchs in einem irisch-katholischen Mittelschichtsmilieu auf, studierte Zoologie, Philosophie und Literatur am Colorado College und evolutionäre Philosophie in Paris. Ihr Interesse lag schon damals in der transdisziplinären Verflechtung von Philosophie, Biologie und Wissenschaftsgeschichte. In ihrer Dissertation (1972) an der Yale Universität knüpfte sie an Thomas Kuhns Theorie an, wonach wissenschaftlicher Fortschritt nicht primär kontinuierlich verläuft, sondern Wissenschaftsgeschichte durch revolutionäre Paradigmenwechsel geprägt ist. In ihrer Promotionsschrift ‚*Crystals, Fabrics, and Fields: Metaphors of Organicism in Twentieth-Century Developmental Biology*‘ bezieht Haraway Kuhns Konzept auf einen Paradigmenwechsel in der Entwicklungsbiologie. Sie argumentiert, jede zielführende Theorie in der Biologie müsse eine zentrale Metapher haben und betont die wichtige Rolle von Modellen, Analogien und Metaphern. Von 1970 bis 1974 unterrichtete sie an der University of Hawaii in Honolulu und gab dort ihr erstes Seminar zu Women’s Science. Später lehrte sie einige Jahre an der Johns Hopkins University in Baltimore am Institut für Wissenschaftsgeschichte, bis sie 1980 von der University of California in Santa Cruz auf den ersten Lehrstuhl für Feministische Theorien berufen wurde. Dort wurde sie später Professorin für Wissenschaftsgeschichte am History of Consciousness Department. Obwohl sie niemals selbst im Labor stand, Beobachtungen oder Daten aufgenommen hat, blieb sie der Biologie treu. Mit „Primate Visions“ (1989) legte Haraway ein grundlegendes Werk zur kritischen Analyse der Diskurse in der Primatologie, der Verhaltens- und Soziobiologie vor und betonte schon 1984 die unvermeidbare politische Dimension der Naturwissenschaften. Ihre politische Arbeit befruchtet ihre Texte, immer vereinen diese wissenschaftliche Analysen mit politischen Stellungnahmen. Immer und überall schafft sie neue Verbindungen und damit auch Möglichkeiten, was wiederum den verschlungenen Verlauf ihrer Karriere geprägt hat.
Haraway lässt sich nicht in (Wissenschafts-)Kategorien einordnen. Selber bezeichnet sie sich als wissenschaftlich-politisch-aktivistische feministische Biologin – oder als biologisch-feministisch-wissenschaftlich-politische Aktivistin (Schmitz, 2016). Cyborgs, situiertes Wissen und das Chthulucene: Donna Haraway und dreißig Jahre politischer (Natur-)wissenschaft. Soziopolis: Gesellschaft beobachten.). Für sie lassen sich keine Grenzen zwischen ihrem ‚wissenschaftlichen‘ und aktivistischen Tun ziehen. Im September 2000 erhielt Haraway die höchste Anerkennung der Society for Social Studies of Science: Ihr Lebenswerk wurde mit dem John Desmond Bernal Prize für Wissenschafts- und Technikforschung geehrt. Heute unterrichtet Haraway an der University of California, Santa Cruz und lebt mit ihrem Partner Rusten Hogness in San Francisco.
Zentrales Werk
Beeindruckend zeigt Haraway die Wirkkraft einer Metapher in ‘Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften’ (Haraway 1985). Die Cyborg plädiert in diesem Werk als zentrale Metapher für das Dekonstruieren von Grenzen. Haraway entwirft einen politischen Mythos und schreibt eine Kampfansage an die kapitalistische, patriarchale Gesellschaft. Als Mischwesen lässt die Cyborg soziale und biologische Kategorien absurd werden.
Die Cyborg ist ein Hybrid aus Natur (Organismus) und Technik (Maschine) und hat kein Geschlecht, kein Gender, keine Hautfarbe und ist in keine Gesellschaftsschicht hineingeboren. Im 20. Jahrhundert sei die Cyborg gleichzeitig (Science-) Fiction und gelebte Realität in einer Welt, in der Menschen zunehmend auf Technik angewiesen sind. Die Stimmung ihres Werkes ist düster und hoffnungsvoll zugleich und schwebt zwischen Dystopie und Utopie.
Haraway schreibt ihr Cyborg Manifest kunstvoll verschlungen. Ihre Sprache ist voller Metaphern, Symbolik, Anspielungen und Vergleichen. Ihr Werk lebt von Wiederholungen, mehrere zentrale Themen ziehen ihre Fäden durch den Text, flechten ein Denknetz. Haraway entwickelt ihre Argumente nicht linear, sondern setzt die Cyborg als zentrale Metapher an den Anfang und exploriert ihr Potenzial in Schleifen. Die Anspielungen beziehen sich auf Werke anderer Feminist*innen, kulturelle Phänomene und Phänomene aus der Technik und den Naturwissenschaften. Sie bezieht sich auf biologische Prozesse wie Osmose, physikalische Phänomene wie Übergangsraten oder Randbedingungen und streut Analogien zu Vorgängen in der Informatik ein.
1 An ironic dream of a common language of women in the integrated circuit – Ein ironischer Traum von einer gemeinsamen Sprache für Frauen im integrierten Schaltkreis
Haraway beginnt ihr Manifest damit, den von ihr entworfenen Mythos und die zentrale Metapher der Cyborg einzuführen. Sie definiert Cyborg als ‚kybernetischen Organismus‘, ‚einen Hybrid aus Maschine und Organismus‘, gleichzeitig als ‚Geschöpf der gelebten sozialen Wirklichkeit‘ und ‚Geschöpf der Fiktion‘. Kybernetische Systeme können biologisch, mechanisch oder elektronisch sein und funktionieren über Regelkreisläufe und werden über Kommunikations- und Kontrollsysteme gesteuert. Als Hybrid ohne Ursprung vereint die Cyborg das Technische und Organische und schafft so neue (Erfahrungs)realitäten. Dank moderner Medizin, Implantaten wie dem Cochlea-Implantat und Prothesen und durch ihre Abhängigkeit seien Menschen des 20. Jahrhunderts bereits Cyborgs. Für Haraway gibt es aus philosophischer Sicht außerdem keine klare Trennung zwischen gelebter sozialer Realität und Fiktionen, im Wesentlichen sind beides von Menschen geschaffene Geschichten und Ideen.
Ironie statt Blasphemie
Blasphemie bezeichnet verhöhnende Äußerungen über etwas Heiliges. Für Haraway impliziert Blasphemie, die (heiligen) Dinge sehr ernst zu nehmen. Blasphemie sei keine tatsächliche Abwendung von Religion und Kirche. Ironie hingegen wagt es, sich über die (heiligen) Dinge lustig zu machen. Ironie vereine das Unvereinbare, dort wo beide Seiten notwendig und wahr seien und sei widersprüchlich wie die Idee der Cyborg selbst. Deswegen wählt Haraway Ironie als rhetorisches Mittel und feministische Strategie, um im Cyborg-Manifest dominierende Systeme zu kritisieren.
Cyborg und Göttin – Kritik am radikalen Feminismus
Der radikale Feminismus, der die Theorie zum Aktivismus der ‚zweiten Welle‘ lieferte, war bestrebt, die Wurzeln der Geschlechter-Unterdrückung zu ergründen. Der Name radikal stammt aus dem lateinischen Wort ‚radicalis‘ (Wurzeln haben). Haraway teilt die Kritik des radikalen Feminismus am Materialismus, einer philosophischen Position, die alle Phänomene auf Materie und ihre Eigenschaften zurückführt, auch jegliche Form des Bewusstseins. Sie wehrt sich aber gegen die Idee, dass die Wurzeln des gesellschaftlichen Konstrukts ‘Patriarchat’ gefunden und beseitigt werden könnten, um zu einem ‘göttlichen’, existenziellen, natürlichen und ursprünglichen ‚Ausgangspunkt‘ oder Naturzustand vor jeglichem kulturellen Einfluss zurückzukehren. Die Göttin ist eine Leitfigur des spirituellen Ökofeminismus der 1970-1980er Jahre. Sie ist ein Gegenentwurf zur Naturentfremdung und Ausbeutung westlicher industrie-kapitalistischer Gesellschaften und patriarchaler Strukturen (vgl. Plumwood 1993, 43) mit ihren dualistisch-hierarchische Systemen. Haraway kritisiert die Technikfeindlichkeit des reinen, organischen, öko spirituellen und femininen Göttinnen-Ideals, dem immer etwas Weltfremdes mitschwinge. Feminismus müsse politisch und in einer modernen, von Technik geprägten Gegenwart verankert bleiben. (Holland-Cunz, Barbara: Die Natur der Neuzeit: eine feministische Einführung. Politik und Geschlecht – kompakt, Bd. 1. 2014). Die Cyborg ist in der technischen und organischen Welt zuhause, in einer gegenwärtigen und zukünftigen ‚post-gender world‘ und lässt Binaritäten wie Technik-Natur, Mann-Frau abstrus erscheinen. Sich selbst als Ökofeministin bezeichnend, lehnt Haraway die Göttin nicht etwa vollkommen ab, sondern verwebt sie mit dem Bild der Cyborg in einem Tanz: Beide können bestehen und sich gegenseitig bedingen.
‘Thought both are bound in a spiral dance, I’d rather be a Cyborg than a Goddess’
Donna Haraway
Aus der Resonanz des Spannungsfeldes zweier Figuren entwächst ein neuer Mythos. Dieser Ansatz der Verschränkung folgt Haraways Logik eines tentakulären, partiellen Denkens (vgl. Haraway, D. J. (2018). Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (K. Harrasser, Trans.). Campus Verlag). Trotzdem bezieht Haraway im Schlusssatz ihres Manifestes klar Position und zieht die Cyborg dem nostalgischen Ideal einer matriarchalen Göttin vor.
Cyborg-Denken schützt vor Dualismen, erlaubt es, sich von binären Gegenteilen zu lösen, impliziert immer Diversität und Mehrdeutigkeit. Dies betrifft alle Facetten menschlicher Identität und Beziehungen. Haraways lehnt die Vorstellung ab, dass insbesondere soziale Kategorien unveränderliche und wesenhafte Eigenschaften haben, eine Position, die oft als Antiessentialismus bezeichnet wird. Statt festen, unveränderlichen Identitäten (mit Eigenschaften wie ‘weiblich’), sieht sie ein sehr fluides, fragmentiertes, vielfältiges Selbst, das im Kontrast zum gefälligen (Göttinnen-)Frauenideal des Ökofeminismus steht. Das Cyborg-Zeitalter lässt Freuds Ideen zum Selbst, von denen sich der Feminismus seit Jahrzehnten zu befreien versucht, absurd werden. Die Trennung Mann/Frau wird aufgehoben und die Unterscheidung von Mensch zu Tier, beispielsweise durch moderne Transplantations-Therapien, hinterfragt. Auch die Abgrenzung zwischen Mensch und Maschine verschwimmt durch zunehmende Technologisierung, Prothesen und die aufkommende Kybernetik. Die Kybernetik behandelt selbsttätige Regelungs- und Steuerungsmechanismen, beispielsweise in biologischen, technischen, soziologischen Systemen.
Eine weitere verwischende Grenze ist die zwischen physikalischer und nicht physikalischer Welt. Durch modernste Kommunikationstechniken werden, für Haraway, Menschen zunehmend ‘transparenter’. Unter prekären Umständen erzeugen Mikroprozessoren das Digitale in jedem Alltag, ein immerwährender Stress für die Nutzenden, die mit immer besseren Medien schwerer zwischen Realität und Simulationen unterscheiden können. Doch statt Angst, so Haraway, sollte es Freude machen, Grenzen zu dekonstruieren und neue zu schaffen:
‘Dieses Essay ist ein Plädoyer dafür, die Verwischung dieser Grenzen zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen’
Donna Haraway
Die Rolle des Militärs
Wo wäre das Thema Grenzen präsenter als beim Militär, dessen Aufgabe der Schutz und das Verteidigen von Grenzen ist? Das Militär spielt immer wieder eine wichtige Rolle im Cyborg Manifesto. Mehrfach wird Bezug auf Ronald Reagans sogenanntes ‚Star Wars‘-Verteidigungssystem genommen. Das C3I Command-Control-Communication-Intelligence war 1984 im US-Verteidigungshaushalt mit 84 Milliarden Dollar vom Verteidigungshaushalt finanziert worden. Paradoxerweise ist der Ursprung der Cyborg ebenfalls eng mit dem Militär verbunden: Die Cyborg ist in gewisser Hinsicht das Endergebnis einer eskalierenden westlichen Unterwerfung der Umwelt. Sie erkundet ebenso neue Welten, erweitert die Grenzen des menschlichen Kosmos wie ein Cis-Mann im All. Cisgender bezeichnet Menschen, die sich mit ihrem von außen bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. Doch da Cyborg weder unschuldig noch ‘vertrauenswürdig’ sei, bleibe sie ihrem militärischen Ursprung nicht treu, sondern sei eine vielversprechende Perspektive für den Feminismus.
2 Fragmentierte Identitäten
Haraway glaubt nicht an eine Identität, sondern beschreibt das Selbst als unvollkommen, partiell und fragmentiert. Fragmentiert ist für Haraway in den 1980er auch die ‘zerfaserte’ feministische Bewegung. Dabei sei politische Einigkeit gerade zu ihrer Zeit entscheidend, um den Dominanzen von ‚Rasse‘, ‚Geschlecht‘, ‚Sexualität‘ und ‚Klasse‘ wirksam entgegenzutreten.
Identitätspolitik stellt die Bedürfnisse einer spezifischen Menschengruppe in das Zentrum. Statt Identitätspolitik bräuchten feministische Cyborgs solidarische Affinitäts-Politik, eine solidarische Politik vieler Gruppen, die gemeinsam ein ‘wir’ bilden. Diese politische Problematik ist zentral im zweiten Abschnitt des Cyborg Manifestes. Weder die Perspektive des unterdrückten Proletariats bei Marx, noch die der essentiellen Frau in Catherine MacKinnons radikalem Feminismus behagen ihr vollständig. ‘Die Frau’ sei keine absolute Wahrheit, sondern ein soziales Konstrukt. ‘Die Frau’ (oder ‘der Arbeiter’) sei ein Beispiel, wie ein unterdrücktes Subjekt im (weißen) Sozial-Feminismus dominieren und dadurch selber wiederum andere Gruppen diskriminieren würde. Konkret benutzt Haraway die Kategorie ‚women of color‘ um zu zeigen, wie ein Begriff zugleich viele Menschen ausschließen (alle nicht weiblichen, nicht Farbigen Menschen) und doch eine sehr heterogene Gruppe bezeichnen kann. Die Lebensrealitäten individueller Farbiger Frauen in verschiedenen Ländern unterscheiden sich signifikant und einige bleiben anderen gegenüber privilegiert. Nach Haraways Logik bleibt jede Perspektive unvollständig, sogar die eines fiktiven, in jedererdenklicher Hinsicht diskriminierten Subjekts – eine solche Position hätte außerdem die unerwünschte Konnotation einer hilflosen, unschuldigen Opferperspektive.
Diversität von Perspektiven
Statt die richtige Perspektive oder den gemeinsamen Nenner im Feminismus zu suchen, fordert Haraway, dass die zahlreichen Akteur*innen in ihrer Diversität anerkannt und wertgeschätzt werden. Einheit ohne Generalisierung, statt Taxonomie (die Wissenschaft von Klassifizierung durch Gemeinsamkeiten). Affinität (das heißt Wesensverwandtschaft, gegenseitige Sympathie und Empathie) entsteht gerade durch diese Andersartigkeit, Differenz und Spezifität. Die Wurzeln ihres Konzeptes der situierten Wissen (Wissen im Plural, siehe ‘Vernetzung weiterer Werke’) sind hier bereits zu erkennen. Haraway situiert sich selbst in der weißen, professionellen Mittelklasse, als radikale, nordamerikanische Frau in einem mittelalten Körper. Expliziter beschreibt sie ihre (akademische) Herkunft im fünften Abschnitt. Dort legt Haraway auch ihre katholische Prägung und die Verbindung zwischen der Finanzierung ihrer Promotion und der durch Sputnik geprägten Bildungspolitik der US-Regierung offen. Im dritten Abschnitt erklärt sie, in ihrem Mittelklassen-Umfeld gäbe es zahlreiche Ursprünge für politische Identitätskrisen, deren Lösung sie im Überwinden von Kategorien und einer Affinität zu mitstreitenden Personen sieht.
3 The Informatics of Domination – Die Informatik der Herrschaft
Im dritten Abschnitt skizziert Haraway einen Gesellschaftswandel, eine Umstrukturierung der sozialen Beziehungen weltweit. Wissenschaftliche und technologische Entwicklungen führen zu einer neuen ‚Informatik der Beherrschung‘. Biotechnologien wären von Kommunikationstechnologien ununterscheidbar, beide seien Netzwerke, die einen (genetischen, technischen) Code übertragen, um zu funktionieren. Beide würden die Welt in ein Programmierproblem überführen, in dem es für alles eine (technische) Lösung gäbe.
Die Neugestaltung der digitalen und biologischen Welt beeinflusse Sozialwissenschaften so stark, dass es unmöglich werde, beispielsweise über Wirtschaft zu sprechen, ohne auf die Sprache von Netzwerken und Programmierung zurückzugreifen.
Haraway stellt die neue ‚Informatik der Beherrschung‘ (seit Ende des Zweiten Weltkrieges), dem vorherigen System, das sie die ‚Organik der Beherrschung‘ nennt, gegenüber. Neue Informationstechnologien würden die bestehenden Machtstrukturen unweigerlich verändern und moderne, ‚beängstigende‘ Netzwerke, die ‚bequemen‘ alten hierarchischen Herrschaftsverhältnisse ablösen. Insgesamt stellt sie 33 Beispiele gegenüber und listet, wie sich Fortpflanzung zur Replikation, Eugenik zur Bevölkerungskontrolle, Öffentlich und Privat zur Cyborg-Bürgerschaft entwickelt. Auf die Immunologie folge AIDS, Repräsentation würde zur Simulation, die Frau in Familie/Markt/Fabrik würde zur Frau im integrierten Kreislauf und die Steigerung des Zweiten Weltkrieges wäre ein interplanetarer Krieg (Star Wars).
Kybernetik – Mensch-Maschine oder Maschinen-Mensch
Was bedeutet es zum Beispiel, dass auf Fortpflanzung Replikation folgen würde?
Haraway will unsere Vorstellungen von Reproduktion um neue Methoden der künstlichen Befruchtung und diversen Fortpflanzungstechniken erweitern, bis die sexuelle Vermehrung nur noch eine von vielen anerkannten Fortpflanzungsstrategien ist.
Kategorien sind im neuen System irrational, interessant werden die Schnittmengen und Grenzübergänge und die Vernetzung zwischen den Objekten. Die nüchterne Beschreibung des neuen Zeitalters erfolgt in einer Sprache voller Anspielungen, Metaphern und Fachwörtern aus Naturwissenschaften, Informatik und Netzwerktheorie. Sie setzt durchlässige (biologische) Membranen anstelle fester Grenzen. Das Relative löse das Absolute ab, wie zum Beispiel auch die moderne Physik viel mit Wahrscheinlichkeiten und Übergangsraten arbeitet, statt mit absoluten Gesetzen. Der kybernetische Aspekt der Cyborg steht in diesem Abschnitt im Zentrum. Mikroelektronik sei essentiell, um neue Verbindungen in der Kommunikation und Interaktion zu schaffen. Sie ermögliche die Verschmelzung von biologischen und technologischen Körpern, so wie von materiellen und immateriellen Kategorien. Haraway schreibt:
‘By the late twentieth century, our time, a mythic time, we are all chimeras, theorized and fabricated hybrids of machine and organism; in short, we are cyborgs.‘
Donna Haraway
Cyberfeminismus
Katalysiert durch das Cyborg Manifesto entstand in den frühen 1990er Jahren die Cyberfeminismus-Bewegung, eine neue Form des Materialismus. Haraway schreibt, dass viele Feministinnen einen vertieften Dualismus zwischen Materialismus und Idealismus sehen würden, etwas das Haraway wie das Kategorien-Denken an sich hinterfragt. Cyberfeminismus untersucht zentral die Beziehung zwischen dem virtuellen Cyberspace, dem Internet und neuen technologischen und medialen Entwicklungen. Dieser Fokus bedeutet, sich bewusst den von anderen (öko-)feministischen Bewegungen der dritten Welle (~1990er-2012er Jahre) ausgesparten Themen zuzuwenden: Machtvolle, aktuelle Themen, die lange männlich assoziiert waren und die Feministinnen sich nun voller Faszination als Inspiration eroberten.
4 The Homework-Economy outside the home – Die Hausarbeits-Wirtschaft außerhalb des Hauses
In diesem Abschnitt legt Haraway den Fokus auf den ökonomischen Aspekt des Cyborg-Zeitalters. Die ‚Neue Industrielle Revolution‘ würde nicht nur neue Sexualitäten und Ethnien hervorbringen, sondern auch eine neue weltweite Arbeiterklasse. Zentral ist, dass Frauen den Großteil dieser neuen, äußerst prekären Zuarbeit für Technologie-Konzerne übernehmen. Durch die Produktion neuer Technologien wandeln sich auch gesellschaftliche Strukturen. Alte Arbeitsplätze fallen weg, neue werden geschaffen. Der Arbeitsplatzverlust trifft insbesondere in Entwicklungsländern seltener weiblich gelesene als männlich gelesene Menschen. Die neuen Jobs zum Beispiel in der Produktion von Mikroelektronik würden öfter von weiblich gelesenen Personen ausgeübt. Als Konsequenz würden zunehmend junge Frauen in ‘3. Weltländern’ (Haraway nutzt diesen heute nicht länger gebräuchlichen Begriff noch) zu den Hauptverdienerinnen in ihren Familien.
Feminisierung von Arbeit ist für bestimmte Teile der Bevölkerung nicht neu: Schwarze Frauen in den Vereinigten Staaten zum Beispiel haben seit langem mit der strukturellen Unterbeschäftigung (‚Feminisierung‘) Schwarzer Männer sowie mit ihren eigenen, sehr prekären Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Der Unterschied sei, dass nun ‚viel mehr Frauen und Männer weltweit darunter leiden würden‘.
Feminisierte (Haus-)Arbeit
Die neu entstehenden Montagearbeiten in der Mikroelektronik erfolgten oftmals unter ‚feminisierten‘ , das bedeute äußerst prekären Bedingungen, in denen die Arbeitenden extrem verletzlich seien. Arbeitskräfte würden innerhalb und außerhalb ihrer Arbeitszeiten ausgebeutet und zu einer Existenz unter obszönen Bedingungen gezwungen, etwas das traditionellerweise der (Haus)-Arbeit von Frauen zugeschrieben wurde. Die tatsächliche Haus- und Care-Arbeit würde nicht im gleichen Maße von Männern übernommen, wie die niedrigen Löhne und die langen Arbeitszeiten der Frauen es erfordern würden.
Neue (Mikro)-Technologien würden eine weltweite ‘Zuarbeit’ und Kontrolle implizieren. Umgekehrt sei die Produktion dieser Technologien eigentlich auf diese Zulieferung angewiesen. Menschen in aller Welt sind finanziell abhängig von wenigen ‚Mächtigen‘ der westlichen Welt. Haraway bezieht sich in diesem Abschnitt auf Richard Gordons New Homework Economy. Gordon beschreibt mit der Homework Economy Zuarbeiten für neue Technologien, die durch Globalisierung und zunehmend mobiler werdendes Kapital in weniger privilegierten Nationen aus dem Heim heraus und unter extrem prekären Bedingungen stattfindet (Gordon, R. (1982). Introduction. International Journal of Sociology, 12(4)). Diese Umstrukturierung würde neue ‚feminisierte‘ Arbeit schaffen, das bedeutet Arbeitsplätze, die Merkmale aufweisen, die früher weiblichen Arbeitsplätzen zugeschrieben wurden.
Die Homework Economy schaffe, so Haraway, außerdem eine neue weltweite Arbeiterklasse. Haraway kritisiert die so entstehende Zweiklassengesellschaft und zieht Parallelen zwischen den Formen der traditionellen, konservativen Familienstrukturen und der zunehmend privatisierten Gesellschaft. Die Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem sei obsolet: Die Produktion der neuen Technologien habe nicht nur Einfluss auf die Arbeitswelt, sondern auch auf die Gestaltung der Freizeit, jeglicher Kommunikation und vieler weiterer Aspekte des Privatlebens.
Technoscience
Haraway nutzt wiederholt den Begriff Technosciences. Technosciences beschreibt eine neue Wissenschafts-Maxime, in der die kausal-lineare Logik der Newtonschen Mechanik von komplexen, nicht-linearen, multiplen Logiken abgelöst wird. Gleichzeitig bezeichnet Technosciences eine neue, globalisierte politische Weltordnung, eine Biotechno-Macht, die neue Produktions- und Verwertungslogiken diktiert.
Haraway charakterisiert das Technoscience-Zeitalter durch eine massive Zunahme an Verunsicherung und kultureller Verarmung. Die Versorgungssysteme für die Verletzlichsten der Gesellschaft würden versagen. Gemeinsame, geschlechts- und rassenübergreifende Allianzen von Feminist*innen müssten dafür kämpfen, grundlegende Lebenserhaltung diverser Betroffener zu sichern. Da diese sozialen Entwicklungen untrennbar mit denen der Technosciences verwoben seien, sei es außerdem zwingend notwendig für den Sozial-Feminismus, sich Technologien und den Folgen der zunehmenden Technologisierung zuzuwenden.
Haraway schreibt sich regelrecht in Rage und erklärt, vielleicht etwas weit hergeholt, die Narrative der militärischen High-Tech-Kultur würden denen in Videospielen gleichen: Ziel sei das ‚Vorankommen‘ im individuellen Wettbewerb und als Endstufe warte die extraterrestrische Kriegsführung – der Krieg zwischen Spezies verschiedener Planeten. Plausibler wirken ihre Befürchtungen, dass die neuen Technologien eine zunehmende Überwachung ermöglichen. Die Gefahr sieht sie auch in der Überwachung des weiblichen Körpers in der Gynäkologie, durch neue Visualisierungs-Technologien, die alles ‘entblößen’ könnten. Trotz vieler Technoscience-Warnungen sieht Haraway ein Potenzial, das Wissenschaftssystem von innen heraus zu transformieren.
Viele wissenschaftliche und technische Arbeiter im Silicon Valley, (und da seien die ‘Hightech-Cowboys’ eingeschlossen) wollten ihre Forschungen und Entwicklungen nicht in den Dienst des Militärs stellen. Sie hofft, dass diese Abneigung zu einer progressiven Politik in der professionellen Mittelschicht, in welcher auch zunehmend (Schwarze) Frauen vertreten seien, führen könnte.
5 Women in the Integrated Circuit – Frauen in integrierten Schaltkreisen
Im Zentrum dieses Abschnittes steht die zunehmende Vernetzung in der neuen Ökonomie, welche die Trennung von Öffentlichem und Privaten immer mehr aufweicht. Haraway wählt einen Schaltkreis als Metapher, um zu verdeutlichen wie früher getrennte Funktionseinheiten wie ‘Zuhause’, ‘Kirche’, ‘Markt’, ‚Lohn-Arbeitsplatz‘, ‘Schule’, ‘Krankenhaus’ oder ‘der Staat’ nun miteinander vernetzt und gekoppelt sind. Die Schaltkreis-Metapher stammt von Rachel Grossman (1980), die in einer Reportage das ‚Globale Fließband‘ der Halbleiterindustrie dokumentierte. Mikrochips sind im wesentlichen Halbleiterplättchen, auf denen Tausende oder Millionen von winzigen Widerständen, Kondensatoren und Transistoren in einem Schaltkreis verbaut sind. Auf sozialer Ebene beschreibt die Schaltkreis-Metapher eine Vielzahl an Elementen und Funktionseinheiten, die in ihrer Kombination die Identität von Frauen bilden. Alle Aspekte dieser Identität würden auf intimste Weise durch die sozialen Effekte von Technoscience verändert. Durch neue Technologien würde die Vernetzung von Orten und Kontexten in allen Lebensbereichen zunehmen. Wichtig für die Identität von Frauen seien soziale Netzwerke und Orte der sozialen Begegnung. Diese Begegnungen finden in einem biologischen Körper statt, der aber auch ein politischer Körper ist: Er ist mit Bedeutungen, Erwartungen und Ansprüchen überfrachtet.
Immer wieder betont Haraway in ihren Werken die Macht von Körperbildern. Neue Medien und Foto(bearbeitungs)-Methoden würden eine Verbreitung von sexualisierten, idealtypischen, patriarchal geprägten westlichen Körperbildern begünstigen. Dank moderner Fotobearbeitungsprogramme können Bilder unrealistischer Schönheitsideale und Sexsymbole erzeugt und verbreitet werden. Sich vorherrschender Körperideale bewusst zu werden, sei notwendig, um sich von dem Druck zu befreien, ihnen zu entsprechen. An Stelle der alten müssten gezielt neue Körperbilder geschaffen werden, um Diskriminierung vorzubeugen. Auch hier gilt: Die Verunsicherung alter Narrative bietet das Potenzial, die neuen Spielregeln mitzugestalten.
Haraway skizziert verschiedene Orte als ‘Knotenpunkt’ des femininen Identitäts-Netzwerkes.
Beispielsweise zeigt sie die vielen Bedeutungen des Wortes und Ortes ‘Lohn-Arbeitsplatz‘ auf: Lohnarbeit, an der sich die internationale Restrukturierung der Arbeiterklasse zeigt; Lohnarbeit an und mit Elektronik; Lohnarbeit als Hausarbeit und Arbeit außerhalb; Lohnarbeit als Dienstleistung; Lohnarbeit als ‘marginalisierte’ oder ‘feminisierte’ Tätigkeit.
6 Cyborgs: A Myth of Political Reality – Ein Mythos politischer Realität
Der finale Abschnitt des Manifest kommt einer Dankesrede an Feministinnen und Science-Fiction-Autor*innen gleich. Haraway zahlt einer langen Liste an Autorinnen, Feministinnen und Denkerinnen Tribut. Zeitgenössische Science-Fiction-Schriftstellerinnen wie Joanna Russ,Samuel R. Delany, John Varley, James Tiptree, Jr., Octavia Butler, Monique Wittig und Vonda McIntyre würden ausloten, was es bedeutet, einen Körper in einer High-Tech Welt zu haben. Explizit dankt sie Mary Douglas, die verdeutliche wie fundamental Körperbilder und politische Sprache seien. Französischen Feministinnen wie Monique Wittig und Luce Irigaray würden zeigen, wie Erotik, Kosmologie und Politik sich zu Bildern und Motiven der Verkörperung verweben ließen. Trotz ihrer harschen Kritik sieht sich Haraway auch in der Schuld radikaler Feministinnen wie Susan Griffin, Audre Lorde und Adrienne Rich, deren Ideologien ihr als Opposition dienten.
Anschließend stellt sie zwei Strategien vor, mit denen Feministinnen ihrer Zeit Cyborg-Mythen schaffen würden: Die Konzeption von ‚Schwarzen Frauen’ in Poesie und Prosa, so wie das Abbilden ‘monströser Charaktere’ im feministischen Science-Fiction.
Besonders die Geschichten Schwarzer Frauen haben Cyborg-Potenzial, da sie von äußeren Zuschreibungen und ihrer Position im ‘Schaltkreis der multinationalen Ökonomie’ geprägt sind. Durch die Kolonialisierung hätten Schwarze Frauen ihre Wurzeln verloren, ihre Heimat, und daher müssten sie sich Cyborg-gleich eine neue Identität schaffen. Haraways Äußerungen in dieser Hinsicht wurden von Postkolonialist*innen kritisch diskutiert. Ihr Plädoyer, die Kategorie ‘Rasse’ ‘einfach aufzulösen’ sei zu einfach gedacht und würde die aktuelle, reale Lebenssituation Schwarzer Frauen nicht ausreichend berücksichtigen. Schwarze Frauen seien außerdem keinesfalls ohne Wurzeln, sondern oftmals im Leben eng verbunden mit den Traditionen ihrer Herkunftsländer.
Schreiben als Werkzeug und Waffe (für women of color)
Zentrales Werk einer Schwarzen Autorin ist Audrey Lordes Sammlung ‚Sister Outsider‘ : Essays und Reden, die Diversität und Unterschiede feiern und gleichzeitig eine Solidarität zwischen verschiedenen marginalisierten Gruppen fordern. Haraway beschreibt die Alphabetisierung als wichtigen Schritt aus der kolonialen Unterdrückung farbiger Frauen. Sie würden mit der Fähigkeit zu Schreiben aus dem Stereotyp der analphabetischen, ‘primitiven’ Menschen ausbrechen können. Schreiben ist für Haraway eine mächtige Cyborg-Waffe.
Indem sich Schwarze Frauen das Werkzeug der Schriftsprache, das ihnen so lange verboten war, aneignen würden, würden sie Überlebensgeschichten schreiben. Das Integrieren von Werkzeugen und Techniken ist eine Cyborg-Eigenschaft und Haraway bezeichnet (Schwarzes) Schreiben als eine herausragende Technologie der Cyborgs.
Sie empfiehlt das Werk der Chicana-Dichterin Cherrie Moraga, in dem sie großes Cyborg Potenzial sieht (zB. The Hungry Woman: A Mexican Medea & The Heart of the Earth: A Popol Vuh Story. Albuquerque: West End Press, 2001). Moragas Sprache selbst sei nicht ‚einheitlich oder ganz‘, sondern eine Chimäre aus Englisch und Spanisch. Beides seien Sprachen kolonialer Eroberer, aus denen Moraga selbstbewusst etwas Neues schafft, ungeachtet der Frage, ob es im westlichen System erwünscht sei. Schreiben ist die Selbstermächtigung marginalisierter Menschen, ihre persönliche Geschichte mit der eigenen Stimme selbst (neu) zu erzählen. So hätten farbige Frauen (Haraway nutzt diesen nicht länger gebräuchlichen Begriff) den Mythos der Mutterfigur ‘Malinche’ von einer Bestie männlicher Ängste zu einer starken Mutter, die das Überleben lehrt, umgeschrieben.
Rekapitulation hartnäckiger Dualismen
Nachdem sie die Bedeutung des Schreibens für Schwarze Feministinnen analysiert hat, legt Haraway eine Pause ein und rekapituliert: Die hartnäckigen Dualismen (Selbst/Andere, Geist/Körper, Kultur/Natur, zivilisiert/primitiv, Realität/Erscheinungsbild, ganz/geteilt, Agent/Resource, Schaffende/Geschaffenes, aktiv/passiv, richtig/falsch, Wahrheit/Illusion, total/anteilig, Gott/Mensch) der westlichen Welt würden aus einer Systemlogik stammen, in der die ‘Anderen’ (zB. Frauen, Queere, Arbeiter, Tiere, B(I)POC) dazu degradiert werden, das dominierende (i.d.R. cis-männliche, weiße) Selbst des Patriarchats zu spiegeln. Die Illusion, ein ‘Selbst’ zu haben, eine ‘normale’ und objektive Perspektive, die nicht unterdrückt und von Zuschreibungen geprägt ist, ist damit das Privileg der Dominierenden, damit bezeichnet Haraway alle, die selbst nicht dominiert werden.
Die Hightech-Kultur und insbesondere die Cyborg fordert diese Dualismen heraus, verwirrt das vermeintlich einheitliche, ‘ganze’ Selbst. Für die ‘Anderen’ sei Identität schon immer fragmentiert, multiple und ohne klare Grenzen. Verbildlicht wird dieses ‘fragmentiert sein’, ‘dazwischen liegen’ mit dem rätselhaften Satz ‘one is too few, but two are too many‚, der außerdem noch einmal die vielen Dualismen kritisiert.
Prothesen und Monster
Haraway vermutet, dass die vielleicht intensivsten und intimsten ‚Hybrid-Erfahrungen‘ von Menschen mit körperlichen Einschränkungen gemacht werden. Sie bezieht sich auf Anne McCaffreys 1969 erschienenen Roman ‘The Ship Who Sang’, in dem ein schwer behindertes Mädchen stirbt, dessen Gehirn mit einer komplexen Maschinerie verbunden ist. Prothesen können demnach intime, hilfreiche Komponenten des Selbst sein. Heute können Menschen dank Prothesen wieder laufen oder, vielleicht noch intimer, dank einem Cochlea-Implantat wieder hören. ‚Warum sollten unsere Körper an der Haut enden oder bestenfalls andere Wesen umfassen, die von der Haut eingekapselt sind?, fragt Haraway und spannt damit noch einmal einen Bogen zur Frage nach der Fortpflanzung. Sie gesteht Studierenden zu, dass verschwimmende Mensch-Maschine- und Gender-Grenzen und die revolutionären Reproduktionsformen der Cyborgs es ihnen erschweren könnten, sich mit Cyborg-Protagonist*innen zu identifizieren. Um dieses Argument zu unterstreichen, listet sie eine Reihe an bekannten Cyborg-Fictions, deren Plots sie kurz umreißt. In vielen dieser Werke würden feministisches und anti-kolonialistisches Gedankengut aufeinandertreffen und beeindruckende, teils monströse Held*innen hervorbringen. Das Monströse existiere immer an der Grenze der westlichen Gesellschaft und definiere diese Grenze dadurch auch.
Feministische Science-Fiction Cyborg-Monster würden ganz andere (politische) Möglichkeiten und Narrative versprechen, als weltliche Held*innen.
Ein Beispiel, wie Cyborg-Fiktion die Politik progressiv beeinflussen würde, so Haraway, sei es, Regeneration (ein Thema traditioneller Monstergeschichten) über Wiedergeburt (ein klassisches spirituelles/religiöses Thema ) zu stellen. Für Salamander seien nachwachsende Gliedmaßen etwas sehr Natürliches, um (nach einem Gliedmaßenverlust) neue Strukturen wachsen zu lassen, eine zugleich monströse und sehr kraftvolle Fähigkeit.
Ähnlich argumentiert sie, seien wir alle verletzt worden (vom Leben). Statt als ‘Heiles’ wiedergeboren zu werden, bräuchten wir Regeneration. Die Möglichkeiten zur Wiederherstellung sollten dabei auch die Befreiung von Gender-Kategorien beinhalten, ein insbesondere für queere Menschen heute noch politisch relevantes Thema.
Freundschaft mit Cyborgs und den Technosciences
Wenn wir Cyborg nicht als Gegnerin verstehen würden, habe das weitere Konsequenzen: Wir müssen uns mit der Technik anfreunden. Für Cyborgs sind maschinelle Fähigkeiten einfach Teil der Verkörperung. Die Maschine ist nicht länger etwas, das benutzt und beherrscht werden muss, sondern ein Teil von Cyborg-uns, unseren Prozessen, ein Aspekt unserer Verkörperung. Übernehmen wir Verantwortung, verbinden wir uns mit Maschinen, dann beherrschen oder bedrohen sie uns nicht länger. Lust (hier darf vielleicht auch eine sexuelle Anspielung gelesen werden) an maschinellen Fähigkeiten sei lange eine Sünde gewesen. Maschinelle Fähigkeiten und technische Reproduktionsmöglichkeiten könnten den weiblichen Körper jedoch aus der Rolle (potentieller) Mutterschaft und männlicher Befriedigung befreien.
Mit Cyborgs warte ein ganzes Mythen-System darauf, politische Narrative und eine neue Perspektive auf Wissenschaft und Technik zu schaffen, um in den Herausforderungen unserer neuen Zeit kraftvoll zu handeln.
Zentrale Thesen des Werkes:
Haraway beendet ihr Manifesto damit, die beiden Hauptthesen zu wiederholen.
Erstens: Eine universelle, totalisierende Theorie zu produzieren ist ein großer Fehler, der den größten Teil der Realität verfehlt. Dies gelte wahrscheinlich zu jeder Zeit, aber ganz sicher zu Haraways.
Zweitens: Feminist*innen sollen Verantwortung für die sozialen Beziehungen von Wissenschaft und Technik übernehmen, statt eine wissenschaftsfeindliche Metaphysik, eine Verteufelung der Technologie zu kultivieren. Verantwortung zu übernehmen, beinhaltet die Grenzen des täglichen Lebens zu dekonstruieren und zu rekonstruieren. Dabei sollten wir uns der eigenen partiellen Perspektive bewusst und in guter Kommunikation mit allen Teilen (der feministischen Bewegung) bleiben.
Anschließend fügt sie noch ein weiteres Versprechen an: Der Cyborg-Mythos bietet außerdem einen Ausweg aus dem Labyrinth der Dualismen, in dem wir bisher versucht haben, uns unsere Körper und Werkzeuge zu erklären.
Haraway erklärt, Cyborg-Politik würde sowohl gewinnbringend als auch gefährlich sein, den Aufbau und auch die Zerstörung von Maschinen, Identitäten, Kategorien, Beziehungen, Räumen und Geschichten mit sich bringen. Eine Cyborg-Zukunft würde bedeuten, beides, Schöpfung und auch Zerstörung, zu einer ‘Spirale des Tanzens’ zu verbinden und trotzdem: Könnte Haraway wählen, wäre sie lieber eine Cyborg als eine Göttin.
Fazit
Das Cyborg Manifest ist ein kunstvoller Schlüsseltext des modernen Feminismus, der vielfach zitiert und diskutiert wurde. Es wendet sich, für die damalige Zeit sehr zukunftsweisend, der Schnittstelle von Feminismus und Technologien zu. Die Cyborg steht als zentrale Metapher im Mittelpunkt eines komplexen Gedanken-Netzes, das Haraway geschickt auf knapp 90 Seiten spannt. Immer wieder fordert sie Feminist*innen auf, Dualismen aufzulösen, Grenzen zu durchbrechen und die Verantwortung in der Rekonstruktion neuer Grenzen zu übernehmen. Das Cyborg-Manifest ist ein Appell, sich für die politischen Implikationen der zunehmenden Technologisierung zu interessieren und für diverse Feminist*innen weltweit zu engagieren. Es ist der Entwurf der Utopie einer Post-Gender-Welt, in der Menschen ihre Identität nicht länger in alten Dualismen erklären müssen. Statt einer universellen Theorie bietet Haraway viele Ideen und Anregungen zum Weiterdenken. Ihr Schreibstil ist einzigartig, so dass sich die Mühe, ihre komplexen Texte im Original zu lesen, unbedingt lohnt.
Kritik und Reflexion von Haraways Schreiben
Haraway berichtet, wie sie als junger Mensch vergeblich versuchte, Thomas von Aquins Werke zu durchdringen. Obwohl es misslang, erzielten seine Texte eine große Wirkung auf sie ‚it fucks with your mind, it changes who you are‘.
Auch Haraways eigene Texte sind oft nicht leicht zu durchdringen, zu begreifen und ziehen Lesende doch irgendwie in ihren Bann, regen an zu (über)denken. Im Wissenschaftsbetrieb werden Autor*innen dazu angehalten, eindeutige Vokabeln zu verwenden, Wortvariationen zu vermeiden und einen nüchternen (teils monotonen), pragmatischen und konsistenten Schreibstil zu wählen. Haraways eigentümlich anmutende Sprache hingegen wechselt flink von humorvoll zu provokant, von glasklar zu rätselhaft, klingt kunstvoll und avantgardistisch. 2017 wurde sie auf Platz 3 der US-Charts der einflussreichsten Köpfe des Kunstbetriebes gewählt und 2021 vom Kunstmagazin Monopol zur aktuell wichtigsten Person der Kunstwelt. Ihre Zitate sind in verschiedensten Ausstellungen präsent, ihre Zugänge und Ideen inspirieren Theater, Musik und bildende Kunst weltweit.
Schreib-Kunst
Haraways Werk ist komplex und vielschichtig. Mit jedem Lesen gibt es neue Aspekte zu entdecken und neue Verbindungen zu sehen. Ob all diese Assoziationen bewusst hineingeschrieben wurden, oder im Lesenden entstehen, ist meines Erachtens nebensächlich. Entscheidend sind die entstehenden neuen Gedanken-Prozesse.
So faszinierend und gekonnt Haraways literarische Strategien auch sein mögen, sie bringen einen zentralen Nachteil mit sich: Ihre Werke bleiben einer kleinen Leserschaft vorbehalten. Was ihre Texte zum einen für literarisch gebildete LeserInnen anziehend macht, zum anderen aber – ganz entgegen Haraways Anspruch auf Demokratisierung von Wissen – auch ausschließend wirkt. Menschen müssen Zeit und Energie aufbringen können, sich durch das Dickicht ihrer Texte zu kämpfen, indem sie mit Hilfe von sekundären Quellen und Recherchen ihre Bedeutung entschlüsseln. Haraways Interviews können dabei unterstützen oder zu neuer Verwirrung führen. Über die Jahre hat sie ihre Position beständig weiterentwickelt, trotzdem sind im Cyborg Manifesto bereits die Wurzeln und Themen vieler späterer Werke enthalten.
Vernetzung weiterer Werke:
Im ersten Abschnitt des Cyborg Manifest schreibt Haraway: ‘Single vision produces worse illusions than double vision, or many headed monsters’. Für sie ist Wissen immer partial und jede Illusion von Objektivität ein fatales Privileg der Dominierenden. In ‘Situated Knowledge’ entwickelt sie die Idee weiter und entwirft ein Konzept, nach dem durch Vernetzung vieler partieller Perspektiven (der ‘Anderen’) so etwas wie eine neue, feministische Objektivität entstehen könnte (Haraway, D. (1988), ‘Situated Knowledge: The Science Question in Science and the Privilege of Partial Knowledge.’ Feminist Studies, 14). Situated Knowledge betont, dass auch die vermeintlich objektive (Natur-)Wissenschaft trotz neuester technischer Methoden immer durch die ökonomische, politische, soziale, persönliche und gesellschaftliche Situation der Forschenden geprägt sei. Neben der zentralen Metapher des Sehens spielt die Vorstellung eines Netzwerkes, geknüpft aus Perspektiven von einzigartigen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, eine zentrale Rolle.
Haraways Cyborg Manifesto hat eine Idee menschlicher Subjektivität entwickelt, die durch zahlreiche Beziehungen und nicht-menschliche Einflüsse konstituiert wird. In späteren Veröffentlichungen wandte sie sich besonders der Untrennbarkeit von Menschen und Tieren zu. The Companion Species (Haraway, 2003). The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness. Prickly Paradigm Press) Manifesto handelt vom gemeinsamen Leben von Hunden und Menschen, die mit ’signifikanter Andersartigkeit‘ verbunden sind. Hunde sind Gefährten der menschlichen Evolution, leben mit uns in der Gemeinschaft, welche für Haraway wiederum die grundlegendste Einheit der Existenz ist. Der Text ist eine Antwort auf ihr Cyborg Manifesto: Der Appell ‘Wir brauchen Cyborgs für das irdische Überleben’ wird um die Aufforderung ‘Halt die Klappe und trainiere’ ergänzt. Dies könnte als Aufruf gelesen werden, aus der Theorie zur Praxis zu gelangen, denn für Haraway implizieren philosophische Erkenntnisse immer auch (aktivistische) Handlungs- und Lebensweisen.
Vertieft wird die Mensch-Tier-Beziehung (insbesondere Mensch-Hund) 2007 in ‘When Species Meet’ (U of Minnesota Press). Haraway analysiert die philosophischen, kulturellen und biologischen Aspekte von Tier-Mensch-Begegnungen anhand von Beispielen von Designer-Tieren über Labortiere bis hin zu ausgebildeten Therapiehunden. Es ist gleichzeitig ein zutiefst persönliches und doch intellektuell bahnbrechendes Werk: Es zeigt einmal mehr, wie eng verwoben Haraways (situierte) Perspektive mit ihrem (wissenschaftlichen) Arbeiten und Leben ist.
Die Cyborg-Themen Vernetzung und Verbundenheit werden in ‘Unruhig bleiben’ (original: ‘Staying with the Trouble’) in den Fokus gestellt (Haraway, D. J. (2018). Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (K. Harrasser, Trans.). Campus Verlag). Hier entwickelt Haraway auch ihren Aufruf zur solidarischen Affinitäts-Politik weiter: Wir sollen uns miteinander verwandt machen, einander in unerwarteten Kollaborationen und Kombinationen beistehen, ungewöhnliche Allianzen bilden. Sie beschreibt das Wechselspiel des gemeinsamen tentakulären Denkens anhand der Metapher eines Fadenspieles. Beide Seiten, der Spielende, so wie die Person, die die Fäden zusammenhält, sind von gleicher Wichtigkeit. Wir werden – miteinander oder gar nicht, erklärt Haraway. ‘Staying with the Trouble’ heißt für Haraway aber auch, auf Kritik ihrer Werke zu reagieren, das zuvor Geschriebene zu ergänzen, zu reflektieren und Schwachstellen einzugestehen. Es bedeutet, sich den Themen immer wieder neu zuzuwenden, Gedanken zu überdenken (gemeinsam) und zu kompostieren. Die Metapher des Komposthaufens ist ein zentrales Motiv des Werkes. Kompostieren bedeutet auch nachhaltig leben, in Fürsorge für die Natur unseres Planeten. Unser aktuelles, von Haraway Chthulucene genannte Zeitalter, ist ein Gegenentwurf zum Anthropozän. Statt des Menschen sollen andere Spezies als die zentralen Protagonisten unserer Gegenwart verstanden werden. Die Sonderstellung der Menschen soll zugunsten eines Multi-Speziesismus, der die Perspektiven vieler Spezies berücksichtigt, aufgegeben werden. Haraway wendet sich mit ‘Unruhig bleiben‘ dem vielleicht kritischsten politischen Thema des 21. Jahrhunderts zu: Der Klimakatastrophe. Um unseren von der Klimakatastrophe bedrohten Planeten zu retten, braucht es für Haraway viele neue Narrative, die sie ‘Messerscharfe Fabeln’ nennt.
Nachfolge
Inzwischen ist Haraway offiziell emeritiert. Ihren Lehrstuhl übernahm Karen Barad, eine ihrer wichtigsten Nachfolgerinnen. Barad ist Hochschul-Lehrperson für Feministische Studien, Philosophie und Geistesgeschichte an der University of California, Santa Cruz. Sie entwickelt die Methode des ‚kritischen Durcheinander-hindurch-Lesens‘ (vergleiche Barad, K. (2014), Diffracting Diffraction: Cutting Together-Apart), die an Haraways tentakuläres Denken anknüpft. Der Grundgedanke ist, Einsichten auf nicht-hierarchische und nicht-lineare Weise zu erschaffen. Wie Haraway forscht sie transdisziplinär an den Schnittstellen von Naturwissenschaft (Physik) und Philosophie. Ihre feministische Rahmenkonzeption des Agentiellen Realismus erklärt Sein und Wissen für untrennbar, was wiederum die Trennung von Ontologie und Epistemologie in der Philosophie hinterfragt. Die enge Verknüpfung von Sein und Wissen ist bereits in Haraways ‘situiertem Wissen angelegt’. Barads neuestes Werk ‘Trans Materialitäten. Trans*/Materie/Realitäten und queere politische Imaginationen’ wendet sich dem (Cyborg)-Thema der geschlechtlichen Vielfalt und deren politischer Bedeutung zu.
Literatur
Haraway, Donna. (1985). A manifesto for cyborgs, Socialist Review (US).
Schmitz, S. (2016). Cyborgs, situiertes Wissen und das Chthulucene: Donna Haraway und dreißig Jahre politischer (Natur-)wissenschaft. Soziopolis: Gesellschaft beobachten.
Haraway, Donna. (1988). „Situated Knowledge: The Science Question in Science and the Privilege of Partial Knowledge.“ Feminist Studies, 14.
Haraway, Donna. Jean. (1995). Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen (C. Hammer & I. Stiess, Eds.). Campus-Verlag.
Haraway, Donna. Jean. (2018). Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (K. Harrasser, Trans.). Campus Verlag.
Terranova, Fabrizio. (Director). (2018). STORY TELLING FOR EARTHLY SURVIVAL [Film].
Barad, Karen. (2014). Diffracting Diffraction: Cutting Together-Apart, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13534645.2014.927623
Pohl, Rebecca (2018). An Analysis of Donna Haraway’s A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-feminism in the Late Twentieth Century. Macat International Limited
Abbildungen
Donna Haraway mit ihrem Hund Cayenne Pepper (2006), Work of Rusten Hogness: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/41/Donna_Haraway_and_Cayenne.jpg?20070811200422.