Chantal Mouffe
(Autor: Arwed Junglas)
Biographie:
Chantal Mouffe wurde am 17. Juni 1943 in Chaleroi in Belgien geboren. Sie hat im Laufe ihrer langen Karriere an zahlreichen Universitäten in Europa, sowie in Nord- und Lateinamerika gelehrt und geforscht und ist Mitglied des Collège international de philosophie in Paris. Sie erlangte erstmals die Aufmerksamkeit der philosophisch interessierten internationalen Öffentlichkeit, als sie im Jahre 1985, gemeinsam mit ihrem inzwischen verstorbenen Partner Ernesto Laclau das Buch „Hegemonie und radikale Demokratie“ veröffentlichte. Das Werk gilt bis heute als einer der Grundlagentexte des sogenannten „Postmarxismus“, einer Denktradition, die versucht unterschiedliche Aspekte des marx´schen Denkens zu hinterfragen und neu zu entdecken, jedoch ohne sich gänzlich von der sozialistischen Theorietradition zu verabschieden. Seitdem hat sie diverse Bücher veröffentlicht und sich als eine der zentralen Figuren innerhalb der beiden von ihr mitbegründeten philosophischen Strömungen des Postmarxismus und der radikalen Demokratie etabliert. Sie behandelt in ihren Büchern stets die Frage, wie man die Sphäre des politischen Verstehen könne, wie eine akkurate Analyse der politischen Weltsituation aussieht und wie sich die Gesellschaft von links verändern lässt.
Einführung
Mit der Frage, wie sich unsere Gesellschaft durch eine politische Linke verändern lässt, beschäftigt sich auch das Buch das ich euch vorstellen möchte. Mouffe veröffentlichte es 2018 unter dem Titel „Für einen linken Populismus“. Es ist als der Versuch zu verstehen eine Strategie für die politische Linke zu entwerfen, mit welcher es gelingen soll sowohl dem in der westlichen Welt weitestgehend herrschenden Neoliberalismus, als auch der aufstrebenden neuen Rechten eine kraftvolle Bewegung entgegen zu setzen.
Sie schließt in ihrem Denken an den italienischen Theoretiker und Revolutionär Antonio Gramsci an. Dieser begriff die Politik als die Geschichte von historischen Blöcken, bestehend aus verschiedenen Fraktionen, Interessengruppen und Bewegungen, die sich um ein bestimmtes politisches Projekt herum zusammen schließen und die Herrschaft übernehmen, indem sie das politische Projekt durchsetzen. Um das zu erreichen kämpfen die historischen Blöcke um die Hegemonie, also die geistige Vorherrschaft darüber welche Werte und daraus abgeleiteten politischen Maßnahmen in der Gesellschaft als gut und erstrebenswert erachtet werden. [Becker et. al. 2013: 19-20]
Das heute vorherrschende politische Projekt ist der Neoliberalismus. Er wurde in den 1980er Jahren von einem breiten Bündnis unter Führung von Margaret Thatcher und Ronald Reagan initiiert und hat es geschafft das damals vorherrschende politische Projekt, die Sozialdemokratie und den Keynsianismus abzulösen. Diesen Moment im Sinne einer politischen Linken zu wiederholen ist die erklärte Absicht hinter Mouffes Strategieentwurf. Denn laut Mouffe sei heute wieder so ein Moment, in dem das herrschende politische Projekt Schwäche zeigt. Dieser Moment kann sowohl von rechts als auch von links genutzt werden, um ein neues politisches Projekt zu etablieren und die Vorstellung davon was gut und richtig ist zu verändern. Um diesen Kampf um unsere Gesellschaft als politische Linke zu gewinnen schlägt Chantal Mouffe eine besondere Methode vor: Den linken Populismus.
„Die zentrale These dieses Buches lautet, dass eine erfolgreiche Intervention in dieser Krise der hegemonialen Ordnung den Aufbau einer klaren politischen Frontlinie voraussetzt und dass ein linker Populismus – verstanden als diskursive Strategie, die auf die Errichtung einer politischen Frontlinie zwischen „den Volk“ und „der Oligarchie“ abzielt – in der derzeitigen Lage genau die Art von Politik darstellt, die zur Wiederherstellung und Vertiefung der Demokratie vonnöten ist.“ Chantal Mouffe 2018
Kapitel 1: Der populistische Moment
Mouffe startet mit der Klarstellung, dass ihr Buch kein Beitrag zur Populismusforschung darstellt, sondern sich als parteilich versteht und auf der Seite der politischen Linken zu intervenieren versucht [Mouffe 2018: 19]. Sie grenzt sich damit klar von der analysierenden und beschreibenden Politikwissenschaft ab und versucht stattdessen einen Beitrag zur Gesellschaftsveränderung zu leisten. Wie eben schon beschrieben, ist das Mittel, dass sie dafür im Sinn hat der linke Populismus. Aber was ist überhaupt Populismus? Unter Populismus, rechts wie links, verstehen wir oft einen Sammelbegriff für alles, was den Status Quo verändern will. Meistens wird es in Fernsehdebatten oder in der Zeitung als Diskreditierung benutzt, nicht als klar definierte Beschreibung für etwas Bestimmtes. Mouffe dagegen versteht unter Populismus eine bestimmte diskursive Strategie. Diese teilt die Bevölkerung in zwei Lager auf: Die Unterdrückten und die an der Macht. Sie schafft ein „Wir“ und ein „Die“ und ruft die eigene Seite zum Widerstand auf. Damit kann diese diskursive Strategie von ganz unterschiedlichen ideologischen Strömungen benutzt werden.
Um diese Strategie sinnvoll einsetzen zu können bedarf es nach Mouffe des richtigen Moments. Dieser populistische Moment ist eine Chance den Populismus zu nutzen um ein neues politisches Subjekt zu erschaffen, wie hier die Benachteiligten, die Unterdrückten oder das Volk. Er zeichnet sich dadurch aus, dass der herrschende Block Schwäche zeigt. Der Neoliberalismus, also der aktuell herrschende Block, schwächelte das erste Mal während der Finanzkrise ab 2008, als viele unerfüllbare Forderungen an die Herrschenden gestellt wurden und eine breite Unzufriedenheit darüber entstand. Durch diese Krisensituation war es erstmals möglich, dass gesellschaftlich tief verankerte Konsense, die der neoliberale Block über lange Zeit hergestellt hatte und die für seine Vorherrschaft von zentraler Bedeutung sind von einer breiten Öffentlichkeit in Frage gestellt wurden [Mouffe 2018: 20-22]. So stellte beispielsweise die damals kursierende Forderung die Finanzmärkte deutlich einzuschränken so eine für den Neoliberalismus unerfüllbare Forderung dar, denn sie stellt einen seiner zentralen Bausteine in Frage: Die Möglichkeit durch das schaffen immer neuer Finanzprodukte immer neue Möglichkeiten zur Investition zu schaffen, sogar weitestgehend losgelöst von der realen produzierenden Wirtschaft.
Widmen wir uns aber zunächst einer Analyse der Umstände, in denen dieser neue linke Populismus wirken soll. Dafür müssen wir die Frage stellen, was die Demokratie nach westlichem Modell eigentlich ausmacht. Mouffe beantwortet diese Frage damit, dass die westliche Demokratie aus zwei Strömungen entstanden ist, die im Kampf gegen den Absolutismus zusammengewachsen sind: dem Liberalismus und der Demokratie. Der Liberalismus setzt auf ein starkes Individuum, mit viel Eigenverantwortung und Macht gegenüber dem Staat und der diese Macht garantierenden Rechtsstaatlichkeit. Die demokratische Denktradition dagegen hat die Hauptwerte der Gleichheit und der Volkssouveränität. Wie sich hier bereits erkennen lässt herrscht zwischen diesen beiden politischen Strömungen ein Spannungsverhältnis: Der Wunsch nach Gleichheit und kollektiver Souveränität kann in vielen Fällen mit der Vorstellung eines freien Individuums kollidieren. Dieses stetige Spannungsverhältnis sorgt nach Mouffe für einen konstanten Pluralismus innerhalb der liberalen Demokratien und bestimmt den Ton. Letztlich findet es seinen Ausdruck in der Spannung zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten. [Mouffe 2018: 24-26]
Die Postdemokratie
Dieser konstante Pluralismus löst sich laut Mouffes Analyse in der heutigen Zeit allerdings auf. Das passiert, da nur noch die wirtschaftsliberalen Werte von der Politik vertreten werden. Die demokratischen Werte von Gleichheit und Volkssouveränität verschwinden zunehmend aus der politischen Praxis der Regierenden und gleichzeitig verlieren sie in der zivilgesellschaftlichen Debatte an Legitimität. Diese Veränderung hat ihren Ursprung in einer Oligarchisierung (einer zunehmenden Verschiebung vom Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen zugunsten der Vermögenden) der Gesellschaft: Ein enorm aufgeblähter Finanzsektor und eine grenzübergreifende Politik der Deregulierung und Privatisierung von sich traditionell in der öffentlichen Hand befindenden Wirtschaftszweigen führt zu schlechteren Arbeitsbedingungen im Inland und die globalisierten Märkte zur Abwanderung ganzer Industrien in Niedriglohnländer. Dadurch vergrößert sich die Schere zwischen Arm und Reich jeden Tag, das wirtschaftliche System verwandelt sich verschärft in einen Umverteilungsmechanismus von unten nach oben. All das führt dazu, dass sich die demokratischen Werte von Gleichheit und Volkssouveränität zunehmend aus dem öffentlichen Diskurs verabschieden. Sie widersprechen schlicht der herrschenden und von nahezu allen Parteien propagierten öffentlichen Ordnung. Was übrig bleibt als Konsens einer gesellschaftlichen Vision ist die Konsumgesellschaft und die Art von Freiheit, die den Menschen von Märkten geboten werden kann. Diese Alternativlosigkeit und Einseitigkeit schlägt sich auch in der politischen Sphäre in Form eines Zustands der Postdemokratie nieder. Zwar gibt es nach wie vor freie Wahlen und Menschenrechte, aber die Menschen haben bei der Wahl niemals die Möglichkeit das herrschende politische Projekt, also den Neoliberalismus, abzuwählen. Die Politik ist hier von einer gestaltenden Kraft, die sie vorgibt zu sein zu einer reinen Verwaltung geworden, in welcher mitte-links und mitte-rechts Parteien um die Macht konkurrieren, ohne allerdings für unterschiedliche politische Projekte oder Werte zu stehen. Damit geht die Volkssouveränität verloren, die Möglichkeit ein den Wert der Gleichheit mit einbeziehendes politisches Projekt zu wählen, was die stete Umverteilung von unten nach oben stoppt, ist vom Wahlzettel verschwunden. Dieser Zustand der Postdemokratie wiederum ist entscheidend für die Chance auf Veränderung, für den populistischen Moment. [Mouffe 2018: 26-28]
Die demokratischen Werte von Gleichheit und Volkssouveränität mögen zwar in der politischen Praxis der etablierten Parteien kaum noch eine Rolle spielen, sie haben aber in der öffentlichen Vorstellung davon, was gut und richtig ist nach wie vor eine zentrale Rolle. Und so lassen sie sich politisch äußerst erfolgreich aufgreifen. Mouffe gibt als ein frühes Beispiel für eine populistische Protestbewegung gegen die Postdemokratie den österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider an. Dieser mobilisierte seine Anhänger*innen sowohl gegen Migrant*innen, als auch gegen den „Räuber-Kapitalismus der Globalisierung“. Er stellte das politische Projekt des Neoliberalismus von Rechts in Frage und schuf einen Antagonismus (eine Gegensatz) zwischen „Dem Establishment“ und „dem Volk“ und war damit außerordentlich erfolgreich. Die ersten Versuche diese diskursive Strategie von links zu nutzen waren nicht von so langfristigen Erfolg gekrönt, konnten aber dennoch international Massen auf die Straße bringen. Das bekannteste Beispiel für diese Bewegungen ist sicherlich die „Occupy“ Bewegung. Mouffe führt deren fehlende Etablierung auf ihre Weigerung zurück mit den politischen Institutionen zu kommunizieren und der sich so langsam abnutzenden Dynamik zurück: Ohne eine Perspektive, die über Massenmobilisierung hinaus ging ließen sich keine politischen Erfolge erzielen, die groß genug gewesen wären die anfänglich beachtliche Dynamik zu erhalten. Als erste großen Erfolge von linkspopulistisch handelnden Akteure*innen lassen sich auf die beiden großen parteipolitischen Akteur*innen Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien benennen. Syriza stellte in Wahlkampf die neoliberale Hegemonie in Frage und schaffte es so in einem raketenhaften Aufstieg an die Macht. Podemos dagegen machte die bereits bei Haider beobachtete Trennung zwischen „ dem Volk“ und „den Eliten“ auf und erlangte unerwartete Relevanz. Sie ist bis heute viertstärkste Kraft im spanischen Parlament. [Mouffe 2018: 29-32]
Mouffe macht sich an dieser Stelle stark für einen Umgang mit den Wähler*innen der Rechtspopulist*innen, der sie nicht bloß als Rechtsextremist*innen abstempelt. Viele der Forderungen, die die Rechtspopulist*innen stellen stehen im Widerspruch zum neoliberalen Projekt und haben einen demokratischen Kern. Deswegen ist es den mitte-links und mittte-rechts Parteien, die die Politik in den westlichen Demokratien gestalten und den Diskurs bestimmen auch nicht möglich inhaltlich zufriedenstellende Antworten auf die legitimen Teile der Forderungen zu geben. Sie können ihrem eigenen politischen Projekt nicht widersprechen und in ihrer Hilflosigkeit reagieren sie, indem sie die zurecht wütenden Massen pauschal als Rechtsextremist*innen abstempeln. Der Umgang einer politischen Linken muss jedoch ein anderer sein. Das Ziel muss stets sein den demokratischen Kern der Forderungen aufzugreifen und durch eine linkspopulistische Strategie in eine Forderung für mehr Gleichheit und Volkssouveränität umzuwandeln. Anhand dieser Korrektur lässt sich auch den Unterschied zwischen Links- und Rechtspopulismus verstehen: Rechtspopulismus definiert die Volkssouveränität als eine nationale Souveränität, die ein Volk aufgrund von kulturellen oder ethnischen Ein- und Ausschlusskriterien definiert. Linkspopulismus dagegen versucht ein Volk gegen die Oligarchie zu konstruieren und so die verloren gegangenen demokratischen Werte wieder herzustellen. Anstatt für zunehmende Armut und Unsicherheit die Migrant*innen oder andere aus der nationalen Volksdefinition ausgeschlossene verantwortlich zu machen, wandelt man das legitime Anliegen in eine demokratische Forderung um, die für Gleichheit eintritt und die von den Missständen profitierende Oligarchie und die ihr zuarbeitenden Politiker*innen als Gegner klar benennt. [Mouffe 2018: 32-35]
Kapitel 2: Vom Thatcherismus lernen
Wir möchten verstehen, wie sich eine hegemoniale Formation, also die Gesamtheit aller gesellschaftlichen Akteur*innen, die sich hinter einem politischen Projekt versammeln und es an die Macht bringen, samt ihres Projektes ablösen lässt. Das Ziel des Buches ist nach wie vor nichts geringeres als der Entwurf einer Strategie für Sieg einer demokratischen radikalen Linken über den Neoliberalismus und die Etablierung einer neuen Gesellschaftsordnung. Dafür schaut Mouffe zunächst in die Geschichte und zwar dorthin, wo der Neoliberalismus sich etablieren konnte, indem er den Keynsianismus, eine durch einen starken Sozialstaat und eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik gekennzeichnete Phase, als die vorher herrschende politische Formation ablöste. Dieser stellte einen Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital dar, indem der Wohlfahrtsstaat stets expandierte und von einer politischen Garantie der Vollbeschäftigung begleitet wurde. Die Arbeiter*innen bekamen zunehmend wirtschaftliche Rechte und all das wurde möglich gemacht und finanziert durch den Einsatz von die Nachfrage fördernder Wirtschaftsinstrumente. Der populistische Moment in dieser Situation war die Ölkrise, die es erschwerte noch Gewinne zu erwirtschaften, was zu einer Schwächung des politischen Projektes führte. Diese Schwäche nutzte Margaret Thatcher um eine neue Frontlinie aufzubauen: Die Fleißigen Arbeiter gegen das Establishment. Einer ihrer Geniestreiche dabei war die Gewerkschaften zum Establishment und zum Hauptfeind der Fleißigen zu erklären, sie schaffte es so die organisierten Arbeiter*innen-Interessen von den Arbeiter*innen abzuschneiden und konnte deren Interessen so selbst definieren. Sie brachte einen großen Teil der Arbeiter*innen auf ihre Seite, indem sie Feminist*innen und Migrant*innen für den sinkenden Lebensstandard und die zunehmende Arbeitslosigkeit verantwortlich machte. Die klassische Unterstellung: Sie nehmen euch eure rechtmäßigen Arbeitsplätze weg. Damit kombinierte sie klassische konservative Themen mit den neuen neoliberalen Werten von Freiheit, Konkurrenz und Eigennutz und schaffte es sogar die Profiteure des Sozialstaats gegen den Sozialstaat aufzubringen, indem sie die Art wie er funktionierte als Bürokratisch kritisierte, um letztlich den Sozialstaat als Ganzes zu schwächen. [Mouffe 2018: 36-41]
Hinter all dem Stand eine Philosophie, die Freiheit klar als der Gleichheit vorran gestellt betrachtet und den Kapitalismus im Zweifelsfall der Demokratie vorzieht. Als Thatchers konservative Partei Jahre später gegen Tony Blairs Labour Partei verliert, haben diese ihren Diskurs bereits übernommen. Die Sozialdemokratische Partei hatte sich in eine sozialliberale verwandelt und die Grundvorstellung von einem schwachen Staat und offenen Märkten übernommen. Damit war der Zustand der Postdemokratie erreicht, in welchem alle Parteien mit ernsthaften Machtoptionen das selbe politische Projekt vertreten. Thatcher hatte es geschafft ihr politisches Projekt hegemonial werden zu lassen. Interessanterweise hat sich auch der Neoliberalismus im Laufe dieses Prozesses verändert: Er wurde von einem weitestgehend konservativen Projekt zunehmend zu einem liberalen, welches die unterschiedliche Forderungen der neuen sozialen Bewegungen mit aufnimmt. Forderungen nach Gleichstellung der Geschlechter oder der Ethnien wurden assimiliert und in ihrem marktkonformsten Sinne Teil eines neuen egoistischen Individualismus und damit Teil des neuen politischen Projekts. [Mouffe 2018: 42-44]
Was laut Mouffe eine heutige Linke von Thatcher lernen kann, ist wie man einen populistischen Moment ausnutzten kann, um sein eigenes politisches Projekt hegemonial werden zu lassen und die alte Formation abzulösen. So ist heute, wie damals zur Zeit der Ölkrise ein populistischer Moment, in welchem eine Chance besteht das herrschende politische Projekt abzulösen. Diese Chance besteht aber nicht nur für die politische Linke, sondern wird aktuell vor allem von Rechts ergriffen. Den populistischen Moment zu nutzen ist also allein aus Gründen der Abwehr des aufstrebenden Ethnopluralismus der Neuen Rechten schon erstrebenswert. Um das zu erreichen müsste die Linke von Thatcher lernen und eine populistische Strategie wählen. Das bedeutet ein Volk und einen Gegner zu konstruieren und eine Front zu bilden, die auf vielen unterschiedlichen Ebenen den herrschenden Konsens angreift. Das Ziel dabei ist die Etablierung einer neuen Hegemonie, einer neuen geistigen Vorherrschaft des eigenen politischen Projekts. Dafür muss mit der postdemokratischen Vorstellung einer konsensualen Politik gebrochen werden: Politik ist in einer lebendigen Demokratie immer der Wettstreit zwischen unvereinbaren Interessen, die um die Vorherrschaft darüber ringen, was als gut und richtig angesehen wird. Die Vorstellung einer Politik als Verwaltung von Sachzwängen und ohne die Option sich für eine andere Gesellschaft zu entscheiden führt zwangsläufig zum Verlust der Volkssouveränität. Um diese wieder herzustellen muss eine politische Linke mit der neoliberalen Hegemonie in den Konflikt gehen. [Mouffe 2018: 46-49]
Kapitel 3: Die Radikalisierung der Demokratie
Im nächsten Kapitel widmet sich Mouffe der Ausgestaltung des neuen politischen Projekts. Wie muss es aussehen, um funktionieren zu können? Mouffes Vorschlag dazu lautet das neue Projekt als eine Radikalisierung der Demokratie zu begreifen. Das bedeutet die der Demokratie zugrunde liegenden Prinzipien zu vertiefen und auf bereits existierende Werte zurückzugreifen [Mouffe 2018: 51]. Das Prinzip der Gleichheit spielt in der vorherrschenden Vorstellung des Guten nach wie vor eine zentrale Rolle. Auch wenn die Gleichheit in der politischen Praxis stark an Bedeutung verliert lässt sie sich zur Legitimation einer neuen politischen Ordnung problemlos reaktivieren. Sie ist geeignet um die Form der Ungerechtigkeit, die der Kapitalismus fortwährend produziert greifbar zu machen und zu skandalisieren. Um das zu tun ist es wichtig eine eigene Lesart dieser grundlegenden demokratischen Prinzipien zu entwickeln. Denn Freiheit und Gleichheit sind keine feststehenden Begriffe, jeder politische Block hat seine ganz eigene Interpretation [Mouffe 54-55]. Wenn man diese aus der Perspektive einer Radikalisierung der Demokratie neu interpretiert, so lässt sich beispielsweise das Prinzip der Gleichheit auf die ökonomische Sphäre ausweiten und das Prinzip der Freiheit von der Freiheit der Besitzer*in der Produktionsmittel trennen. Das hätte eine völlig neue Vorstellung davon welche Formen von Besitzverhältnisse als moralisch vertretbar gelten würden zur Folge. Aber wie kommt man von dort, vom uminterpretieren der Prinzipien, die die hegemoniale Formation grundlegend legitimieren zur ihrer Ablösung?
Mouffe betrachtet gesellschaftliche Formationen, wie den Neoliberalismus, oder unser neues, um die Radikalisierung der Demokratie aufgebautes Projekt zunächst einmal als eine bestimmte Zusammensetzung von ganz unterschiedlichen Praktiken. Diese können z.B. wissenschaftlicher, kultureller oder ökonomischer Natur sein. Manche dieser Praktiken sind für die hegemoniale Formation von entscheidender Bedeutung, sie ermöglichen ihr Aufrechterhalten und sind die Grundlage für eine Masse an weiteren Praktiken der hegemonialen Formation [Mouffe 2018: 56]. Ein Beispiel für solch eine Praktik im Neoliberalismus wäre das Erben. Es ist eine zentrale Praktik, die definiert, wie unsere Gesellschaft funktioniert und von der aus zahlreiche weitere Praktiken, wie bestimmte Steuersparmodelle oder das heranzüchten einer neuer Generation von Herrschenden durch die Elite-Universitäten ausgehen. Will man eine Formation ablösen, so muss man einige ihrer zentralsten Praktiken ersetzen. Wenn beispielsweise Chef*innen in Betrieben gewählt werden und Erbschaften standardmäßig an die öffentliche Hand gehen, dann hätte das enorme Folgen für die Gesellschaft. Eine Neoliberale Formation kann so nicht funktionieren, denn diese Praktiken erhalten sie, indem sie viele weitere Praktiken ermöglichen. Ein politisches Projekt, dass den Stellenwert von Gleichheit höher ansetzt, sodass Privateigentum an Bedeutung verliert und Produktionsmittel vergesellschaftet werden braucht andere Praktiken. Die dafür notwendigerweise abzulösenden Praktiken sind durch die demokratischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit legitimiert. Mouffe spricht sich dafür aus die Prinzipien zu behalten, aber mit ihnen neue Praktiken zu legitimieren. Das ist möglich, da wir Freiheit und Gleichheit neu interpretieren können und somit wie bereits dargestellt mit dem Begriff der Prinzip der Gleichheit die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln oder das Abschaffen des Erbens legitimieren können. Und diese Art eines Austausches der zentralen Praktiken ist letztlich das Ziel eines Ringens um die Hegemonie, denn es ist in der Lage die Gesellschaft langfristig zu verändern. Diese Neuaufstellung von Praktiken kann so weit gehen den Kapitalismus abzuschaffen, auch Mouffe sieht die liberale Demokratie erst mal getrennt vom Kapitalismus denkbar. Sie plädiert aber dafür den Kapitalismus im Diskurskampf nicht zentral zu setzen, sondern stattdessen den Ausbau der Demokratie. Das ermöglicht es mehr Kämpfe miteinzubeziehen, die zwar im Kern antikapitalistisch sind, aber sich nicht also solche begreifen würden, sondern vielleicht eher als Kämpfe zur Ausweitung der demokratischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit. Das ermöglicht es ein breiteres Bündnis für das neue hegemoniale Projekt zu schmieden. Dieses ist nötig, denn das letztliche Ziel ist das Versammeln der Mehrheit hinter einem Projekt, dann die Übernahme der Macht und dann die Veränderung der Hegemonie durch den Austausch von zentralen Praktiken. [Moufffe 2018: 60-63]
Was Mouffe nicht grundlegend verändern will ist die repräsentative Demokratie. Sie sieht sie nicht in der Krise per se, sondern in einer Krise durch den autoritären Neoliberalismus und die Postdemokratie. Das bedeutet für sie, dass es eine Auseinandersetzung mit den vorhandenen Institutionen geben muss, mit dem Ziel die Postdemokratie durch ein aktives Austragen von vorhandenen Gegensätzen zu bekämpfen und so die vorhandenen Institution repräsentativer zu gestalten. Auch die Organisationsform der Partei hält sie nach wie vor angemessen für diese Auseinandersetzung. Letztlich sollen die liberalen Werte und die Institutionen der repräsentativen Demokratie beibehalten, aber mit sozialistischen Elementen kombiniert werden, während Staat und Gesellschaft durch neue hegemoniale Praktiken grundlegend verändert werden. [Mouffe 2018: 66-70]
Kapitel 4: Die Konstruktion des Volkes
Im letzten großen Kapitel ihres Buches geht Mouffe noch einmal detaillierter auf das von ihr konstruierte „Wir“, auf das Volk ein: Wen schließt es mit ein? Was macht es aus? Wie kann es agieren?
Zunächst einmal hält sie fest, dass es im Neoliberalismus eine Art des Profit-Erwirtschaftens besonders hervorsticht und besonders viele Betroffene erzeugt: Die Akkumulation (immer weitere Anhäufung von Besitz) durch Enteignung. In Schuldenkrisen verschuldet sich die öffentliche Hand, um den privaten Finanzsektor zu retten. Wenn durch Umweltzerstörungen und CO2-Emissionen Profite erwirtschaftet werden, dann wird das öffentliche Gut der Umwelt zugunsten von wenigen zerstört. Bei Privatisierungen werden öffentliche Eigentümer*innen und Produktionsmittel verkauft, die auf Kosten der Allgemeinheit Profite erwirtschaften. All das sind Beispiele von Akkumulation durch Enteignung, die auch traditionell nicht linke Gruppen, wie die Landbevölkerung, Liberale oder Beamte treffen. Das schafft potenzielle neue Verbündete für ein radikaldemokratisches Projekt. Mouffe geht dazu über ein Bündnis aus Arbeiter*innenklasse, neuen sozialen Bewegungen und Ökologiebewegung vorzuschlagen. Letztere ist dabei entscheidend, denn die offenkundige Unfähigkeit des Neoliberalismus mit der Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen umzugehen kann dazu führen, dass der neoliberale Block zerbröselt. Denn wenn es gelingt die Forderungen der ökologischen Bewegung als eine Form der Radikalisierung der Demokratie zu artikulieren, könnten Mitglieder des neoliberalen Blocks die Seiten wechseln [Mouffe 2018: 71-73]. Jetzt, wo wir eine erste vorläufige Zusammensetzung des Volkes besprochen haben widmen wir uns der Frage, was das Volk eigentlich ist. Bei Mouffe ist das Volk zunächst heterogen, es besteht aus vielen verschiedenen Gruppen mit verschiedenen Forderungen. Allerdings gleichen sich diese Gruppen in der Hinsicht, dass sie ihre Forderungen als Teil einer Vertiefung der Demokratie auf Basis der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit verstehen. Das Volk entsteht also nicht natürlich, sondern muss als eine diskursive Konstruktion errichtet werden. Diese Konstruktion besteht aus Forderungen, die auf der einen Seite dadurch verbunden sind, dass sie sich auf eine Radikalisierung der Demokratie beziehen und auf der anderen Seite dadurch, dass sie alle vom selben Gegner negiert werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Definition des Gegners so entscheidend ist: Es führt heterogene Forderungen im Angesicht eines gemeinsamen Gegners zusammen. Wenn dieser Prozess erfolgreich ist, also die Forderungen durch ein gemeinsames Projekt (Der Radikalisierung der Demokratie) und einen gemeinsamen Gegner (der Oligarchie / der Neoliberalismus) verbunden sind, dann führt es dazu, dass die Forderungen aufeinander verweisen und sich gegenseitig stärken. Welche Forderungen das genau sein werden, die das Volk konstituieren, wird das Ergebnis von Aushandlung und Auseinandersetzung sein und kann stetig in Frage gestellt und neu gedacht werden. [Mouffe 2018: 75-77]
Der letzte und sehr entscheidende Punkt, den Mouffe in ihrem Buch macht ist ein Aufruf zur Besinnung auf die Bedeutung des Irrationalen und die Emotionen der Menschen. So gilt es zu akzeptieren, dass Menschen keine rein rationalen Wesen sind, die durch das bessere Argument massenhaft überzeugt werden können. Sie werden im Gegenteil durch Affekte überzeugt, also durch von außen herbeigeführte Gefühlsregungen und emotionale Momente. Mouffe schließt hier an Freud an, dem nach das Bewusstsein nicht transparent ist, sondern sich aus unterschiedlichen bewussten und unbewussten Bestandteilen zusammensetzt. Es gibt keine Ur-Identität, die den Menschen besonders und zwangsläufig ausmacht, sondern nur unterschiedliche Formen der Identifikation. Diese unterschiedlichen Identifikationen bilden letztlich das Individuum, es ist eine Artikulation der unterschiedlichen Identifikationen [Mouffe 2018: 86]. Vor dem Hinblick dieser Erkenntnis gilt es nun eine Identifizierung mit dem politischen Projekt zu erreichen. Aber wie?
Zunächst müssen in den Menschen Affekte ausgelöst werden, die sie in die Richtung einer Identifikation mit dem politischen Projekt bringen. Das kann durch ganz unterschiedliche Formen von diskursiven Praktiken passieren, sei es in Kunst und Kultur, durch Aktionen auf der Straße oder durch politische Reden in den (sozialen) Medien. Wichtig ist, dass diese diskursiven Praktiken, welche Form sie auch immer annehmen, den Menschen eine hoffnungsvolle und von ihrem jetzigen Standpunkt aus erreichbare Vision der Zukunft präsentieren. Gelingt einem die Identifikation mit dem politischen Projekt, so kann man die Menschen langfristig an sich binden, denn, so Mouffe im Bezug auf Wittgenstein, wenn sich die Menschen erst einmal mit einem politischen Projekt identifiziert haben, dann binden sie sich auch an die Werte, die dieses vertritt. [Mouffe 2018: 87 – 89]
Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Affekten und Identifikation diskutiert Mouffe auch die Rolle von charismatischen Anführer*innen, die sich traditionell sehr gut eignen, um die erwünschten Affekte auszulösen. Sie sieht sie nicht als zwangsläufig an, aber auch nicht als zwangsläufig schädlich, solange sie eine eher horizontale Verbindung zum Volk haben und die Funktion einer Kanalisierung der demokratischen Forderungen einnehmen. Auch die Nation sieht sie nicht unbedingt als positiven Bezugspunkt ausgeschlossen: Der Bezug auf die Geschichte und die Nation sei ein zu mächtiges Instrument, um es den Rechten zu überlassen. Für einen linken Populismus gelte es eher die egalitären Aspekte des eigenen Nationalismus herauszuarbeiten und zu verstärken. [Mouffe 2018: 84-85]
Schlusswort
Nach einer intensiven Beschäftigung mit Chantal Mouffes Strategieentwurf bleibe ich tief beeindruckt und voller neuer Ideen und Impulse zurück. Das Buch ist für die heutige Zeit geschrieben und in unserer historischen politischen Situation extrem relevant. Wir erleben einen Aufstieg der Neuen Rechten, die sich zunehmend durchaus in der Lage versetzen die Demokratie, wie wir sie kennen, abzuschaffen. Sie werden, wie von Mouffe aufgeführt, gestärkt durch die Unmenschlichkeit und Ignoranz des neoliberalen Systems und seiner Vertreter*innen, welches nach wie vor von den allermeisten Parteien in den westlichen Demokratien als alternativloses politisches Projekt angesehen wird. Dieses Projekt abzulösen, dass die fortschreitende ökologische und klimatische Katastrophe nicht einmal glaubhaft zu lösen versucht, wird zunehmends zu einer Frage des Überlebens für einen großen Teil der Menschheit. Dem gegenüber steht eine zersplitterte und strategielose politische Linke, die dringend einen besseren Plan braucht, um im Kampf um die Hegemonie überhaupt eine Rolle spielen zu können. Da springt Mouffe auf den Plan: Ihr Buch zeichnet einen Weg da raus, auch wenn es nur erste Schritte darstellen, so lässt sich mit ihrer Strategie zumindest eine Zukunft denken, in der die politische Linke überhaupt in der Lage ist den Kampf um die Hegemonie mit der neoliberalen Front auf der einen und der Neuen Rechten auf der anderen Seite aufzunehmen.
Was mich besonders beeindruckt hat war ihre Herangehensweise an die Geschichte: Sie nutzt Gramscis Theorien der Hegemonie und wendet sie auf die jüngere Geschichte an, um aus den Erfolgen ihrer politischen Gegner zu lernen. Diese nüchterne Betrachtungsweise auch des Gegners, wie hier Thatchers Torries, als Möglichkeit zum Erkenntnisgewinn zeugt von Klugheit und eröffnet neue Möglichkeiten der Analyse. Außerdem anregend fand ich wie Konkret und umsetzbar viele ihrer Ideen sowohl auf der Ebene von Bewegungen, als auch auf der Ebene von Parteien erscheinen. Sie gibt eine klare Anleitung, wie sich ein Volk und ein Gegner konstruieren lassen und gibt eine zumindest für mich neue Methode vor, um sehr unterschiedliche gesellschaftliche Kämpfe zusammen zu führen.
Schlussendlich kann ich das Buch nur jeder und jedem ans Herz legen, der oder die die Gesellschaft verändern will. Von Chantal Mouffe lässt sich viel über politische Strategien und die Verhältnisse in denen wir leben lernen.
Literaturverzeichnis
Becker, Lia; Candeias, Mario; Niggemann, Jannik; Steckner, Anne (2013): Gramsci lesen. Einstiege in die Gefängnishefte.Hamburg: Argument Verlag.
Mouffe, Chantal (2018): Für einen linken Populismus. Berlin: Suhrkamp Verlag.