Die alte Pathologie in Wehnen

von Shila Aghassi, Oldenburg

 

 

Ein kleines unscheinbares Haus aus rotem Backstein auf dem weitläufigem Gelände der heutigen Karl-Jaspers Klinik in Oldenburg, umgeben von einer idyllischen Parkanlage und begleitet von dem Gezwitscher der Vögel – unvorstellbar, dass hier vor nicht all zu langer Zeit zahlreiche Menschen zu Tode gekommen sind. Zur Zeit der NS-Herrschaft war die damalige Heil-und Pflegeanstalt Wehnen verantwortlich für zahlreiche Krankenmorde: durch den Entzug von Lebensmitteln sowie Vernachlässigung durch das Pflegepersonal starben hier bis Ende 1947 mehr als 1500 PatientInnen. 

Das Ziel meiner Recherche vor Ort war das kleine Backsteinhaus, die alte Pathologie, welche heute als Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer von den Angehörigen gepflegt wird. Meine subjektiven Eindrücke des Besuchs vor Ort möchte ich nun genauer schildern.

Die alte Pathologie selbst von innen zu sehen, schien angesichts der Pandemie zunächst unmöglich. Nach einem vorherigen Telefonat und mit Einhaltung des Mindestabstandes jedoch wurde ich vor Ort herzlich von einem Herren in Empfang genommen. Er war als Mitarbeiter der Gedenkstätte zuständig für die administrativen Aufgaben. Beim Betreten der Pathologie war ich überrascht, denn sie war wesentlich kleiner als ich erwartet hatte: Ein kleiner Eingangsbereich, links davon ein Büro und rechts die eigentliche Pathologie. Mein Weg führte mich zunächst in das Büro. 

“Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich hab auch Kluntje.” Es war ungemütlich draußen und dankend nahm ich die Tasse Tee entgegen. Ich saß an einem runden Holztisch, während der Mitarbeiter an seinem Schreibtisch Platz nahm. Bereits telefonisch hatte ich ihn über meinen universitären Hintergrund in Kenntnis gesetzt und so begann er direkt eine Flut von Informationen über die Historie der Gedenkstätte mit mir zu teilen. Er öffnete zahlreiche Dateien auf seinem Computer: Bildmaterial, Filmausschnitte, Radiobeiträge, Zeitungsartikel und Texte aus Büchern. 

Ich war überwältigt von den Mengen an Informationen mit denen ich vertraut gemacht wurde. Auf diese sehr persönliche Art und Weise die Geschichte des Ortes kennen zulernen war sehr besonders und fühlte sich in gewisser Weise sehr intim an. Auch dieser Mitarbeiter der Pathologie hatte Angehörige in der dunklen Vergangenheit der ehemaligen Pflegeanstalt verloren. Für diesen Einblick bin ich sehr dankbar. 

Zeitgleich fühlte ich mich jedoch auch sehr unwohl in dieser Situation. Grausame Videos und Originalaufnahmen zeigten sich auf dem Bildschirm des Computers und während ich diese zum ersten Mal sah, wurde ich nicht aus den Augen gelassen. Unentwegt wurden meine Reaktionen beobachtet, und ich hatte das Gefühl einer gewissen Erwartungshaltung zu unterliegen. Ich fragte mich, wie ich mich nun verhalten sollte. Ich fühlte mich einerseits sehr gehemmt Emotionen zu zeigen und anderseits dazu gedrängt Bestürzung und Trauer auszudrücken. Das fühlte sich falsch an und nicht echt. Unabhängig davon, was ich in diesem Moment tatsächlich gefühlt hätte, so konnte ich mich leider nur darauf konzentrieren, welchem emotionalem Druck ich plötzlich ausgesetzt war.

Wir gingen schließlich durch den Eingangsbereich hinüber zu dem eigentlichen Raum der Pathologie. Ohne selbst einen eigenen Zugang und eigene Eindrücke vor Ort sammeln zu können, wurde mir nun von dem Mitarbeiter alles im Detail erklärt und erzählt. Selber die Informationsschilder lesen, mir die Bilder anzuschauen – dazu kam ich nicht. Es klingelte plötzlich das Telefon im Büro. Der Mitarbeiter verließ den Raum und in einem Zeitfenster von vielleicht 5, maximal 10 Minuten, versuchte ich mir schnellstmöglich ein eigenes Bild zu machen. Ich lief den Raum ab, um ein Gefühl für die Größe zu erhalten, skizzierte so gut es auf die schnelle und im Stehen möglich war alle markanten Punkte im Raum. Der grüne Boden im direkten Kontrast zu den grellroten Büchern auf einer alten, rostigen Liege mitten im Raum, die gelblichen Fliesen an den Wänden und die zahlreichen Bilder der Opfer auf Brettern an der Wand. Es war drückend hier zu stehen. In der Hektik alles aufnehmen zu müssen. Ich merkte mir sogar ein Zitat von einer der Informationstafeln: “Er kritisierte jeden Tag übers Essen: Wat mööt wi hier smachten in de Anstalt Wehnen!”… Und wurde aus meiner Konzentration herausgerissen, als das Telefonat im Büro sein Ende fand. 

Zurück im Büro trank ich meinen Tee aus, während mir noch zahlreiche Bücher und Unterlagen zu der Thematik Euthanasie gezeigt wurden. Meine Aufnahmefähigkeit wurde geringer, ich war übermannt von den zahlreichen Eindrücken und hatte das dringende Bedürfnis meine Gedanken in Ruhe und alleine zu ordnen. Es dauerte noch eine Weile bevor ich schließlich die Gedenkstätte verlassen konnte. 

Meine Gedanken direkt danach hielt ich in einer Sprachnotiz fest, um mich an diesen ersten Eindruck erinnern zu können. 

Nähere Informationen zur Geschichte der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, zur Ausstellung und zu Veranstaltungen findet ihr hier: 

Link zum Gedenkkreis Wehnen e.V.
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