Johanna Pirnauer, das 14-jährige Wundermädchen, welches in einem krankhaften Zustand im Schlafe die Zukunft vorhersagt und Kranke heilt.

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2c:2,44

Der Kolportagetext trägt den Titel Johanna Pirnauer, das 14-jährige Wundermädchen, welches in einem krankhaften Zustand im Schlafe die Zukunft vorhersagt und Kranke heilt. Das Titelblatt beinhaltet neben dem Titel den Zusatz: nach authentischen Quellen und ärztlichen Berichten bearbeitet. Das Heftchen wurde vermutlich 1850 in Bremen in der Druckerei Buschmann und Wiehe gedruckt (vgl. Koolman 1990, S. 40f.). Die Jahreszahl, der Ort Oldenburg und ein Kürzel sind handschriftlich vermerkt. Das Kürzel Mich rechts unten verweist auf den Michaelismarkt, welcher Ende September des Jahres in Bremen stattfand.

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2c:2,44

Auf dem Titelblatt wird die Bezeichnung Wundermädchen deutlich hervorgehoben. Weniger prägnant, aber dennoch auffällig wird der Name des Wundermädchens Johanna Pirnauer in fett gedruckter Schrift betont. Als Verzierung ist lediglich eine Art Ornament, in Form eines Rahmens um die Titelangaben, zu sehen. Durch das schlichte Titelblatt mit der simplen Hervorhebung des Wortes Wundermädchen wird im Leser Neugier geweckt.

Das Kolportageheftchen setzt sich aus den typischen acht Seiten zusammen. Während das Titelblatt eine Seite umfasst, erstreckt sich der Prosatext über fünf und das Lied über zwei Seiten. Dies entspricht dem üblichen Aufbau eines Kolportage-Heftchens der Oldenburger Sammlung. Eine Unterteilung in Kapitel ist nicht gegeben. Dennoch lässt sich eine semantische Unterteilung anhand thematischer Absätze erkennen. Anfänglich wird, auf den ersten beiden Seiten des Prosatextes, das Wundermädchen mit ihren Prophezeiungen genauer beschrieben. Darauf folgen auf den nächsten Seiten der Bericht, beziehungsweise die Erzählung des wundersamen Ereignisses, welche in wörtlicher Rede der Johanna Pirnauer wiedergegeben werden und abschließend das Lied. Beim Aufbau des Kolportage-Heftchens fällt auf, dass einige Seiten nicht vollständig gefüllt sind. Dieser Aufbau untermauert die Dichte des Textes, der viel Raum für Deutungen und Interpretationen lässt.

Das Werk lässt sich dem bei Petzoldt vorgeschlagenen Typus der „volkstümlichen Motivik“ zuordnen (vgl. Petzoldt 1974, S. 80-87). Geschichten über Prophezeiungen und Träume stießen auf besonderes Interesse beim Volk. Dennoch lassen sich nur wenige dieser Art ausmachen. Nach Petzold beziehen sich die Vorhersagen vornehmlich auf politische Ereignisse (vgl. ebd.); so auch der Druck über das Wundermädchen, das im Traum von Kriegsgeschehnissen berichtet. Die seltene Thematik der volkstümlichen Motivik in der Kolportage-Literatur, schließt an die mit Mitte des 19. Jahrhunderts aufblühende volkstümliche Wahrsagerei und dem Hang zum Spirituellen an. Die Prophezeiungen sind gleichwohl Zeugnis, als auch Ergebnis der weltweiten Revolutionen und politischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts.

Am ersten Juni ereignete sich ein traumhafter Anfall der Johanna Pirnauer, Tochter eines wohlhabenden Privatmanns aus Berlin, die seit ihrer frühen Jugend „an der fallenden Sucht“ (S. 3) litt, von welchem von einem Augenzeugen berichtet wird. Es wird keine Jahreszahl genannt, aber es ist vom „vorigen Jahr“ (ebd.) die Rede, was zusammen mit der Jahreszahl 1850 zu der Annahme führen könnte, dass es sich um das Jahr 1849 handele, welches vor den prophezeiten Ereignissen läge und somit die Authentizität untermauert. Den Wahrheitsgehalt versucht der Druck zudem durch die Angabe „nach authentischen Quellen und ärztlichen Berichten“ (Titelseite) herzustellen. 

Der populäre Lesestoff zeichnet sich durch eine besondere Vielfalt der Erzählperspektiven aus. Der Leser wird über einen Ich-Erzähler langsam in die ungewöhnlichen Ereignisse um Johanna Pirnauer, eingeführt und lässt zu Beginn der vierten Seite einen weiteren Ich-Erzähler als Augenzeugen der wundersamen Prophezeiungen, auftreten.

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2c:2,44

Im Wechsel zur wörtlichen Rede des titelgebenden Mädchens, verdichtet sich die Erzählung in eine mitreißende Geschichte über Kämpfe, Leid und Macht. Nach dieser Klimax endet der Bericht abrupt, bevor der Ich-Erzähler erneut den Wahrheitsgehalt beteuert und auf weitere wundersame Fähigkeiten der Johanna Pirnauer hinweist. Das abschließende Lied greift die Visionen des Wundermädchens auf und verdeutlicht die prophezeiten Kriegsereignisse in sechs zukunftsweisenden Strophen. Durch die Vermischung der unterschiedlichen Erzähl-Instanzen erscheint das Ende des Kolportage-Heftchens abrupt. 

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2c:2,44

Das Lied gibt inhaltlich mehr Klarheit und bietet Erklärungen, die im Prosatext fehlen. Ein politischer Diskurs um die damalige Zeit der Aufstände lässt eine zeitliche Zuordnung zu damaligen geschichtlichen Ereignissen zu. Die Erwähnung des Schicksals Schleswig-Holsteins könnte auf die Schleswig-Holsteinische Erhebung (1848-1851) hindeuten (vgl. Jessen-Klingenberg). Ein weiterer historischer Verweis findet sich in der Erwähnung des Krieges in Österreich-Ungarn und des ungarischen Rechtsanwaltes und Politikers Lajos Kossuth. Dieser trat als Anführer der ungarischen Revolution 1848/49 für die Unabhängigkeit Ungarns vom Kaisertum Österreich ein. In der dritten Strophe des Liedes wird auf Kossuths Flucht ins Exil verwiesen, die er aufgrund der Niederlage der ungarischen Revolution antrat (vgl. Fischer/Seifert 2007).

Die Fähigkeit Johanna Pirnauers, Kranke zu heilen und zukünftige Ereignisse vorherzusagen, lässt sich mit übernatürlichen, vielleicht göttlichen, Tätigkeiten vergleichen. Religiöse Aspekte spielen dabei eine bedeutende Rolle, da der Glaube besonders in Hinblick auf übernatürliche Ereignisse relevant ist. 

Gesa Kuhlbusch / Céline Schlabach / Lena Schröer