Die seltsame Geschwisterliebe

Der Text Die seltsame Geschwisterliebe. Eine wahre und traurige Begebenheit, welche sich im Königreiche Belgien zugetragen. ist auf das Jahr 1856 datiert. Er besteht aus einem vier Spalten umfassenden Prosatext und einem fünf-strophigen Lied. Das Material der Quelle fällt durch einige formale Abweichungen zu anderen Kolportageheften der Oldenburger Sammlung auf. Es liegt ein Ein-Blatt-Druck vor (statt der in der Oldenburger Sammlung üblichen vier gefalteten Blätter), der Einkerbungen am Rand aufweist, die auf eine Bindung hindeuten. Es gibt zudem kein bebildertes Titelblatt, dafür sind Verlagsangabe, nämlich den „Verlag bei Frau Löhrig in Nordhausen“, sowie eine Angabe zum Drucker, nämlich „M.A. Ordemann in Bremen“, unten auf der Rückseite angegeben.

Es wird von der Familie eines Kaufmanns aus Antwerpen erzählt. Der älteste Sohn, Friedrich, studiert, der zweite Sohn, Wilhelm, wird ebenfalls Kaufmann und geht nach Amerika, und die jüngste Tochter Karoline bleibt zunächst bei ihren Eltern. Als diese jedoch sterben, zieht sie zu Friedrich, der mittlerweile Oberförster in Brüssel geworden ist. Wilhelm wird in die Heimat eingeladen, um die Erbschaftsangelegenheiten zu beraten. Er bringt sich und seine Familie in einem Gasthaus im Dorf unter und beschließt den Weg zum Forsthaus zu Fuß zu gehen. Nach einem glücklichen Wiedersehen wird Wilhelm gebeten über Nacht zu bleiben, ein Angebot, dass er ausschlagen muss, da seine Frau und sein Kind im Gasthaus auf seine Rückkehr warten. Den Rückweg bei Nacht muss er alleine bestreiten und wird prompt überfallen und entführt. Als man vergeblich nach ihm sucht, wird der ältere Friedrich verhaftet, da man ihn verdächtigt seinen Bruder in einem Erbschaftsstreit umgebracht zu haben. Nach einem halben Jahr erreicht ein Brief Wilhelms die Familie, in dem er davon erzählt, entführt worden zu sein, um für die englische Armee im Orient zu kämpfen. Die Schwester Karoline begibt sich nun nach der Krim, um den Bruder zu befreien. Dort wird ihr allerdings berichtet, dass ihr Bruder mittlerweile nach Sibirien verschleppt wurde. Also reist Karoline nach St. Petersburg um dem Kaiser ihr Leid zu klagen. Dieser hört sie an und veranlasst die Freilassung Wilhelms. Mit vielen Geschenken bedacht können sich die Geschwister letztlich wieder auf die Heimreise machen. 

Einordnung in den historischen Kontext | Wilhelm wurde von „Seelenverkäufern“ (S. [2]) nach England verschleppt. Dabei handelt es sich um eine Form des Menschenhandels zur Rekrutierung von wehrfähigen jungen Männern. Das sogenannte ‚Schanghaien‘, auch ‚Pressen‘ genannt, meint die gewaltsame Freiheitsberaubung und war besonders im 18. Und 19 Jahrhundert in europäischen (britischen) und nordamerikanischen Häfen verbreitet. Mit der Einführung der Wehrpflichtsgesetze im 19. Jahrhundert wurde diese Praktik obsolet, da das Gesetz eine behördliche Einberufung ermöglichte. 

Wilhelm wurde Teil der britischen Armee und im Orient stationiert. Aus seinem Brief geht hervor, dass er Teil der Belagerung von Sewastopol war. Aufgrund der Übereinstimmung mit der zeitlichen Datierung des Kolportageheftchens handelt es sich hier um den Krimkrieg von 1853 bis 1856 zwischen Russland auf der einen und dem Osmanischen Reich und dessen europäischen Verbündeten Frankreich, Großbritannien und dem Königreich Sardinien auf der anderen Seite. Der Krimkrieg wird als erster ‚moderner‘ im Sinne von industriell geführten Krieg angesehen (vgl. Fesser 2003). Besonders im Rahmen der in der Geschichte erwähnten Belagerung Sewastopols werden neue Maßstäbe im Bereich der kriegsrelevanten Logistik und Industrieproduktion gesetzt. Die Schlacht geht als eine der ersten Materialschlachten in die Geschichte ein, die Feldherrenkunst spielt eine nebengeordnete Rolle. Am 8. September wurde die Stadt nach einjähriger Belagerung schließlich von alliierten Truppen erobert. Der Sieg über die russischen Verteidiger war eine Vorentscheidung in dem Konflikt, der schließlich mit dem Pariser Frieden beigelegt wurde (vgl. Maag 2010). Die moderne Kriegsführung und der technische Fortschritt ermöglichten eine neue Dimension der Zerstörung in einem militärischen Konflikt. Neben den hohen Opferzahlen durch neue Waffensysteme wurden zahlreiche Menschen verletzt oder erlagen den katastrophalen Bedingungen in den Truppenlagern. 

Literarische Motive | Die seltsame Geschwisterliebe bietet zahlreiche Handlungsstränge und Motive an, die jedoch nur in Ansätzen erzählt werden. So deutet der Beginn des Textes an, dass es sich bei der Figur des Kaufmanns Georg Schmieder um den Protagonisten handelt. Dieser Eindruck kann sich schon im nächsten Absatz nicht bestätigen und der Text nimmt stattdessen die drei Geschwister in den Fokus. Die einzelnen Lebenswege werden für die Kürze des Textes auffällig detailliert beschrieben. Das Motiv der Reise kündigt sich schon in der Geschichte des mittleren Bruders an, der nach Amerika auswandert. Den Rahmen für den weiteren Handlungsverlauf bietet eine zu klärende Erbschaft, auf die allerdings nicht weiter eingegangen wird. Und auch Wilhelms Entführung und Reise wird nicht direkt erzählt, sondern nur aus der Perspektive der zurückbleibenden Schwester. Letztlich findet die Erzählung einen Fokus in dem ungewöhnlich hohen Einsatz und der Bereitschaft der Schwester, sich für die Rettung ihres Bruder auf eine so schwierige und lange Reise zu begeben. Dennoch erscheint der Titel Eine seltsame Geschwisterliebe auch in Bezug auf diesen Fokus als merkwürdig. Das „seltsam” muss vielleicht nicht im Sinne von ‚irritierend‘, sondern eher im Sinne von ‚selten‘ verstanden werden. Somit ergäbe sich auch ein moralisierender Aspekt der Erzählung, im Sinne von: Eine solch loyale Geschwisterliebe, wie sie hier vorgestellt wird, findet man selten und kann als gutes Beispiel und Vorbild dienen.

Henrik Berlage / Antonia Erdmann