Der folgende Blogbeitrag behandelt das Heftchen Des Hochverräthers Heinrich Ludwig Tschech mörderischer Angriff auf das Leben des Königs von Preußen, weshalb er den 14. Decbr. 1844. bei Spandau hingerichtet wurde. Hierbei handelt es sich um Kolportage-Literatur. Diese wurde durch Händler von Tür zu Tür kolportiert und war damit auch für Menschen abseits der Zivilisation zugänglich (vgl. Rosenbaum 2019, 310 & Meier 2007, 286). Für die Heftchen aus der Oldenburger Sammlung, aus der unser Material stammt, ist vermutlich dieser Vertriebsweg des Haustür-Verkaufs weniger relevant, sind doch die meisten Heftchen auf Jahrmärkten und Messen von sogenannten Bänkelsängern verkauft worden. Bänkelsänger „waren […] Kolporteure, Heftchenkrämer. Vom Verkauf ihrer Billigdrucke lebten sie. Und verkauft wurde gewiß nicht bloß, was zuvor vom Bänkel – jener Namensgebenden kleinen Bank – herab vorgetragen wurde“ (Braungart 1985, 9). Der Inhalt des Heftchens stellt das historische Attentat des ehemaligen Bürgermeisters von Starkow, Heinrich Ludwig Tschech, auf den damaligen König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV. dar, welches Tschech begeht, weil er sich vom König übergangen fühlt, denn dieser ignoriert sein Begehren, ein Amt im Staatsdienste zu bekleiden. Tschechs Attentat schlägt wie durch ein Wunder fehl. Er wird zum Tode verurteilt und schließlich hingerichtet.
Schätzungen zufolge wurde das Heftchen im Jahr 1845 (vgl. Schenda 1971, 1551) kurz nach der Hinrichtung von Tschech veröffentlicht. Damit fällt es in eine Epoche, welche „aufgrund der ‚Doppelgesichtigkeit‘ […] als literaturhistorischer Problemfall“ (Wortmann 2016, 164) gilt. In der Literaturwissenschaft herrscht Uneinigkeit darüber, ob der Epochenbegriff des Zeitraums zwischen 1815 und 1848 mit dem Begriff Biedermeier (politisch, religiös und sozial konservative Autoren) oder mit dem Begriff Vormärz (sozialkritische Autoren) charakterisiert werden solle (vgl. Wortmann 2016, 164). Neben dem Titel enthält das Werk keinen Untertitel. Sowohl der Autor als auch der herausgebende Verlag und der Ort der Herausgabe sind nirgends erwähnt (vgl. Koolman 1990, 40). Kategorisieren lässt es sich unter dem Typus „Attentat“ (Schenda 1971, 1643). Das Heftchen wurde im Format 195×125 mm gedruckt. Auffällig ist, dass die Schrift der vorherigen Seite auf die nächste Seite durchdrückt, was man auf die von Braungart (1985, 9) vorgenommene Klassifikation der Kolportage-Literatur als ‚Billigdruck‘ zurückführen kann.
Der Titel wird durch Vignetten umrahmt. Innerhalb dieser Rahmung unter dem Titel ist eine weitere Vignette visualisiert. Auf der nachfolgenden Seite gibt es oberhalb des Prosatextes ein eigens markiertes Motto, welches einen Satz umfasst. Anschließend erfolgt der Prosatext, welcher mit einer Vignette abschließt. Zum Schluss gibt es ein Lied, welches ebenfalls mit einer Vignette abgeschlossen wird. Es existieren Seitenzahlen mittig oben. Darüber hinaus ist das Lied nach Strophen nummeriert. Der Prosatext ist bündig und weist bis auf eine Ausnahme keine orthographischen Fehler auf.
Im vorliegenden Heft werden verschiedene Daten genannt, welche Gegenwartsbezogenheit herstellen, so beispielsweise das Datum des Attentats und das der Hinrichtung. Bereits der Titel bietet dem Leser eine Menge Informationen über den Inhalt des Kolportageheftchens. Zu entnehmen ist, dass Tschech bereits hier als Hochverräter deklariert wird. Eine weitere Auffälligkeit ist der zusammenfassende Charakter, vergleichbar mit dem Klappentext eines Romans. Das Motto nimmt im Vergleich zum Prosatext und Lied einen geringen Bestandteil des Heftchens ein. Es lautet: „Wer da steht vernehmt es Alle, / Sehe zu, daß er nicht falle!“. Metaphorisch ausgedrückt stellt das Motto das Dach dar, unter welches der nachfolgende Prosatext und das Lied gestellt werden. Bei dem Motto handelt es sich um ein Zitat aus der Bibel (1.Kor 10, 12-13). Dort wird vor der sündigen Lust gewarnt bzw. wird dort appelliert, jedweder Versuchung zu widerstehen.
Der Prosatext hat auf den ersten Blick eine berichtende Funktion, ähnlich wie ein Zeitungsartikel oder eine Reportage. Jedoch werden im Verlauf des Textes geschickt christliche Werte und Wertungen gegenüber Tschech eingestreut. Generell wird der Prosatext in der Nullfokalisierung erzählt. Die Erzählung enthält eine lineare Ordnung der Zeit: A (Bürgermeistertätigkeit) à B (Wiederholte trotzige Forderungen von Tschech) à C (Das Attentat) à D (Urteilssprechung) à E (Hinrichtung). Das Erzähltempo wechselt zwischen zeitraffendem und zeitdehnendem Erzählen. Durch verschiedene Stilmittel lässt der Prosatext Raum zu interpretativen Schlüssen. Beispielsweise existiert ein Vergleich, in dem das gescheiterte Attentat mit einem Wunder gleichgesetzt wird. Dieses Wunder lässt sich auf Gott zurückführen und repräsentiert letztlich die Funktionstüchtigkeit des göttlichen Ordo in dieser fiktiven Welt.
Das Lied soll zunächst der Unterhaltung dienen. Es enthält zehn Strophen mit jeweils vier Versen. Wie der Prosatext greift auch das Lied das Attentat von Tschech auf, verpackt diese Rahmenhandlung jedoch lyrisch. Die zeitliche Abfolge ist identisch mit dem Prosatext, es wird jedoch auf die Urteilssprechung verzichtet (D). Durch die Kombination des durchgängigen Reimschemas des Paarreims, dem rhythmischen „Singsang“ des Jambus (Willing & Geldschläger 2019) und dem Inhalt, strahlt das Lied eine gewisse Ernsthaftigkeit, Traurigkeit und Düsternis aus und erhält dadurch einen mahnenden Charakter. Im Lied wird zwischen Nullfokalisierung und interner Fokalisierung gewechselt. Auch wird das Publikum durch die in der ersten Strophe stehende Antithese direkt angesprochen: „Betrachtet dies Bild hier, ihr Großen und Kleinen“. Die sechste Strophe birgt die Brücke, welche zwischen Prosatext und Lied herrscht, denn der dritte Vers verdeutlicht die Lösung des Wunders, des gescheiterten Attentats: „Drum schoß ich doch Gott hat die Kugeln regiert“. Die letzte Strophe, Vers drei und vier, verweist auf das Motto und steht exemplarisch für den 1. Korinther Kapitel 10 aus der Bibel und stellt darüber hinaus die Moral des Heftchens dar: „Ermeßt eure Thaten, bedenket den Lohn, Dann schützt euch der Mächtige im Himmelsthron“.
Letztlich lässt sich das Werk als monarchietreues, christlich-konservativ geprägtes Heftchen einordnen und kann damit der Strömung des Biedermeiers zugeordnet werden. Es werden bspw. Passagen aus der preußischen Staatszeitung übernommen und in den Prosatext integriert (vgl. Riedel 1963, 74&75). Darüber hinaus war es für den historisch realen Friedrich Wilhelm IV. von Bedeutung, die Botschaft einer christlichen Erlösung zu vermitteln (vgl. Barclay 1995, 134). Die Parallelen der Intention des Heftchens als affirmatives Medium mit der Intention des Königs sind unbestreitbar. Das monarchisch-religiöse Konstrukt des fiktiven Preußens im Heftchen wird als funktionierende Ordnung dargestellt, in die Tschech als Störfaktor eingreift, vermittelt durch Werturteile und dem iterativem Erzählen seiner trotzigen Forderungen. Getreu der funktionierenden christlichen Ordnung greift Gott ein, rettet den König, um damit diese funktionierende Ordnung aufrechtzuerhalten. Letztendlich kann es auch kein Zufall sein, dass die Moral des Liedes in der letzten Strophe ein Verweis auf das Motto ist und dem Leser als Lehre mitgibt, Versuchungen zu widerstehen, um zur göttlichen Erlösung zu kommen; genau das, worauf Friedrich Wilhelms moralisches Verständnis aufbaut. Abschließend bestätigt Braungart (1985, 417): „Immer wieder ist betont worden, daß der Bänkelsang ein konservatives, ein affirmatives Medium sei. Das ist er tatsächlich: Der Bänkelsang versucht, zerfallende Ordnungen zu stabilisieren […]“.
Till Trautmann