Das erwachte Gewissen beim Gebete des Herren, oder schreckliches Ende einer Mutter, welche ihr Kind verhungern ließ

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2a:2,64

In diesem Blogbeitrag widmen wir uns dem Heftchen Das erwachte Gewissen beim Gebete des Herrn, oder schreckliches Ende einer Mutter, welche ihr Kind verhungern ließ, welches von C.L. Mettcker und Söhne in Jever (ohne genaue Jahresangabe) gedruckt wurde. Das Heftchen misst 17 cm x 8,5 cm und umfasst acht Seiten, inklusive Titelblatt und einem zweiseitigen Lied. Das Titelblatt ist nicht illustriert, hat aber zwei waagerechte Ornamente. Diese stellen keinen direkten Bezug zum Inhalt her, sondern erfüllen eine Gliederungsfunktion. Während das eine Ornament eher schlicht ist, wirkt das andere sehr prägnant. 

Im Titel sind die Worte „erwachtes Gewissen“ auffällig groß gedruckt und wirken auf dem Titelblatt fast ermahnend und gleichzeitig rational. Somit verweist der Titel bereits auf die thematische Ausrichtung des Heftchens. Die religiöse Thematik wird an der Wortwahl erkennbar („Gebete des Herrn“, „erwachtes Gewissen“); durch den Untertitel wird auf die Thematik Mord/ Schreckensgeschichte verwiesen. Autor und Datum der Veröffentlichung sind nicht bekannt. Der Inhalt der Geschichte gibt ebenfalls keinen Hinweis auf seinen Entstehungszeitraum, es handelt sich um eine universell einsetzbare Erzählung (nicht an Datum oder Örtlichkeit gebunden). Es kann keine genaue Angabe darüber gemacht werden, wie sehr die Geschichte der Wahrheit entspricht, da lediglich Angaben zum Ort des Geschehens gemacht werden; der Stadt Lothringen. Genaue Angaben zu Datum, Zeit oder Personen werden im Heftchen nicht gemacht. 

Die tragische Geschichte erzählt von einer Mutter, welche aus Liebe zu ihrem neuen Geliebten ihre Tochter verhungern lässt. Die Tragik wird dabei durch die realistische gesellschaftliche Problematik erschaffen, dass eine Heirat nicht mit einem Kind aus vorheriger Ehe möglich ist.

Petzoldt (1974) ordnet Kolportage-Texte in verschiedene Kategorien ein. Dieses Heftchen lässt sich nicht eindeutig zu einem Typus zuordnen, da sich Aspekte verschiedener Typen in ihm finden lassen. Die größten Übereinstimmungen sind in der Kategorie Religiöse Thematik zu finden. Einzelne Merkmale von Liebesgeschichten und persönliche Tragik, Verbrechen und Prozeßberichte lassen sich diesem Heftchen ebenfalls zuordnen. 

Religiöse Thematik | Der Prosatext des Heftchens beginnt damit, dass darauf hingewiesen wird, dass die nachfolgende Geschichte die Wahrheit der Worte des Galaterbriefs (Kap 6, V7-8) des heiligen Apostels Paulus beweise. „Irret Euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch säet, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten.” (Gal 6, 7-8)

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2a:2,64

Petzold (1975, S. 79) verweist darauf, dass geistliche/religiöse Thematiken bzw. Geschichten oft auf Grundlage volkstümlicher Liebestragödien vermittelt werden. Dies trifft auch auf hier zu. In der Geschichte lernt eine verwitwete Mutter einen neuen Geliebten kennen und erwartet ein uneheliches Kind. Der Geliebte stimmt einer Heirat nur mit einer kinderlosen Frau zu. Um den Geliebten heiraten zu können, tötet die Mutter ihr Kind. Sie lässt das Kind im Keller verhungern. Das Kind bittet mehrmals um Brot, die Mutter verweigert dies. Erst bei der Beerdigung des Kindes erwacht das Gewissen der Mutter, das durch die kirchliche Liturgie (Gebet des Vater Unser) geweckt wird. Dies stellt den Wendepunkt der Geschichte dar. Durch die Worte „unser tägliches Brot…” wird bei der Mutter Reue geweckt. Gott richtet durch das anwesende Volk – die in der Kirche versammelte Trauergemeinde – die böse Tat der Mutter; diese wird erschlagen. Der Prosatext endet mit einem Appell an die Leserschaft. Sie solle als ein Wesen Gottes aus der Geschichte lernen, Böses zu vermeiden, denn jedes Verbrechen würde bestraft. Durch diesen Appell wird Religion und das Respektieren der biblischen Werte fast schon propagiert. 

Liebesgeschichten und persönliche Tragik | Die Mutter verliert ihren Mann, mit dem sie ein gemeinsames 7-jähriges Kind hat. Sie genießt in der Gesellschaft ein gutes Ansehen. Mit ihrem neuen Geliebten erwartet sie ein uneheliches Kind. Der Geliebte will keine Ehe mit einer Frau mit Kind eingehen, weshalb die Mutter in der Tötung des 7-jährigen Kindes und einer anschließenden Heirat ihren einzigen Ausweg sieht. Bleibt die Tat unbemerkt, dann behält sie ihr Ansehen.  Mit einem unehelichen Kind würde sie ihr Ansehen in der Gesellschaft verlieren. Die Mutter befindet sich in einer Zwickmühle. Durch den vorherrschenden gesellschaftlichen Wertekanon wird sie zum Mord an ihrer Tochter gedrängt. Sie ist dazu gezwungen, den Vater ihres ungeborenen Kindes zu heiraten, da ein uneheliches Kind gesellschaftlich nicht akzeptiert werden würde. In der Gesellschaft herrscht Einigkeit über die Schuld der Mutter. Im Text wird die Mutter als „Rabenmutter” (S. 3) bezeichnet. Hierbei handelt es sich nicht um ein Einzelschicksal, mehrere Kolportage-Heftchen thematisieren den Mord des eigenen Kindes bzw. die Taten einer ‚Rabenmutter‘. 

Verbrechen und Prozeßberichte | Der Punkt, der für die Einordnung in die Kategorie der Verbrechensgeschichten spricht, ist, dass das Kerngeschehen die Ermordung ihrer Tochter durch Verhungern ist. Unter Anderem wird die Konsequenz der Tat ebenfalls geschildert. Hingegen ist ein Prozessbericht nicht gegeben. Es handelt sich nicht um die Mitschrift eines Gerichtsprozesses, noch werden genaue Orts- oder Zeitangaben genannt; die verschiedenen Schauplätze werden erzählend beschrieben. 

Zum Lied | Das Lied stellt einen klassischen Abschluss des Heftchens dar. Es fasst die Liebesgeschichte, die persönliche Tragik und das Verbrechen der Rabenmutter zusammen und besitzt, wie auch der Prosatext, einen religiösen/moralisierenden Effekt: „Jetzt durch Gott gerächt durch Volk“; „Wie die That, so auch der Lohn“ (S. 8).  

Nils Kulik / Inga Lammers / Lucy Nolte / Jasmin Schmitz