Das arme Hirtenmädchen oder: bestrafter Hochmuth und Belohnung uneigennütziger Gastfreundschaft

Das Heftchen Das arme Hirtenmädchen oder: bestrafter Hochmuth und Belohnung uneigennütziger Gastfreundschaft wurde in Oldenburg von dem Verlag Büttner und Winter gedruckt und herausgegeben. Es wurde auf acht Seiten im Format 18,0 x11,5 cm gedruckt. Die Erzählung ist als Prosatext verfasst; ein Lied, welches sechs Strophen mit je vier Versen im Kreuzreim hat, beschließt das Heftchen. Das Titelbild des Heftchens ist ein Ausschnitt eines Holzschnitts, der auch das Titelbild eines weiteren Heftchens der Oldenburger Sammlung ziert.

Landesbibliothek Oldenburg: Spr XIII 4 c 2a:3,123

Genau wie die Erzählung hat das Lied das Oberthema ‚Gerechtigkeit‘. In dem Lied werden Werte und Moralvorstellungen wie Nächstenliebe, Güte und Bescheidenheit angesprochen, die auch in der Erzählung hervorgehoben werden. Diese Ideale sind auch in der christlichen Religion wiederzufinden; im Lied stellen bestimmte Ausdrücke und Formulierungen den Bezug zu christlichen Themenbereichen her, etwa die wiederholte Anrede „Brüder“ (V. 2 & 21), die Erwähnung von „Ewigkeit“ (V. 24) und die Formulierung „Gottes Straf“ (V. 5). Damit ähnelt das Lied einer abstrakten, christlichen Morallehre – hat es doch keinerlei konkrete Bezüge zur Geschichte mehr.  

Die Prosaerzählung lässt sich nicht eindeutig einem Typus zuordnen. Ein Versuch könnte es sein, sie unter der Thematik des Moral- und Werte-Typus zu kategorisieren; es sind jedoch auch Merkmale einer von Treue gekennzeichneten Liebesgeschichte vorhanden. Die Erzählung beruht auf einer kontrastiven Darstellung von Werten: Während ein Gastwirt Gäste wie einfache Handwerker ablehnt, die seinen Ansprüchen an Kundschaft nicht entsprechen, nimmt eine Hirtenfamilie diese ohne Entlohnung auf und bewirtschaftet sie. Der Erbprinz der nahegelegenen Residenz, der von dem Verhalten des Wirtes gehört hat, zieht aus, um den Wirt als Handwerker verkleidet zu testen, welcher ihm die Unterkunft verwehrt. Wie schon viele vor ihm, wird er an die Hirtenfamilie verwiesen, die ihn aufnimmt. Guntchen, die Hirtentochter, umsorgt ihn und berichtet von ihrem Verlobten, den sie aufgrund ihres Standes nicht ehelichen kann. Als Folge der Ereignisse bestraft der Erbprinz den Wirt für seinen Hochmut, der daraufhin das Gasthaus verliert, welches als Belohnung der Hirtenfamilie überschrieben wird, deren Tochter nun ihren Verlobten heiraten darf.

Die weitgehend chronologisch verlaufende Erzählung wird vorrangig im narrativen Modus, auf der extradiegetischen Ebene und durch Nullfokalisierung erzählt. Die Ereignisse werden zeitraffend dargestellt und sind von einer expliziten Ellipse unterbrochen (Prinz bei der Hirtenfamilie). Wechsel von Präteritum und Präsens, die nicht begründet scheinen, deuten möglicherweise auf die schnelle Herstellung von Kolportage-Texten hin. Zu Anfang suggeriert das Tempus Glaubwürdigkeit, lässt jedoch im Verlauf darauf schließen, dass Einheitlichkeit nicht beachtet wurde.

Die Geschichte weist Merkmale von Märchen auf, obwohl sie keine Anfangs- und Schlussformel aufweist. Die Zuordnung von Gut und Böse wird durch die Darstellung der Figuren klar hervorgehoben, indem der Wirth ausschließlich negative Eigenschaft aufzeigt. Der „edelmütige“ ErbprinzGuntchen und ihre Familie hingegen werden durch ihr uneigennütziges und freundliches Handeln durchweg positiv dargestellt. Auch ist ein besonders kluges, mit dem Attribut treu besetztes Tier zu finden: Kappo, der Hund der Hirten, der die abgewiesenen Gäste zu der Hirtenfamilie führt. Er und Guntchen werden als Einzige namentlich genannt. Das Merkmal des Magischen erfüllt die Geschichte nicht, endet jedoch mit einem glücklichen Ende und einer Moral, indem das Böse bestraft und das Gute belohnt wird.

Eine Besonderheit der Geschichte ist ein Erwartungsbruch, da innerhalb der Geschichte und durch die Nähe zum Märchen vermutet werden kann, dass Guntchen den Prinzen ehelicht. Durch das Ausbleiben dessen, wird ihre Treue gegenüber ihrem Verlobten hervorgehoben. Dabei wird Guntchen als kindlich, unschuldig und rein dargestellt, was auch durch das Deminutiv betont wird.

Wie andere Heftchen der Oldenburger Sammlung wurde Das Hirtenmädchen von der Druckerei Büttner & Winter gedruckt. Obwohl das Erscheinungsjahr unbekannt ist, kann es anhand der Geschichte der Druckerei ungefähr eingeordnet werden: Die Buchdrucker J. C. F. Büttner und Winter erhielten 1856 eine Gewerbeerlaubnis, woraufhin sie ein Jahr später die Druckerei Büttner & Winter in der Haarenstraße gründeten. Aus der Druckerei ging schon im 19. Jahrhundert eine Werbeagentur hervor, die heute noch besteht.

Oldenburger Adressbuch von 1880. www.alt-oldenburg.de/plaetze/adressbuecher

Das Heftchen kann daher nicht vor 1857 gedruckt worden sein. Ein weiteres Indiz dafür ist das Titelbild, welches Teil eines Titelbildes eines anderen Heftchens ist, welches 1855 gedruckt wurde. Weitere Drucke von Büttner & Winter lassen sich in den 1850er/60er Jahre verorten. Somit ist es wahrscheinlich, dass dieses Heft ebenfalls um diese Zeit gedruckt wurde. 

Inka Kahmann / Benedikt Mügge / Franciska Wendel