Authentischer Bericht über den Raubmord, welcher zwischen Bremerhaven und Lehe am 30. September dieses Jahres von Leopold Müller verübt wurde.

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2c:2,53

Das achtseitige, in Fraktur gedruckte Kolportage-Heftchen mit dem Titel Authentischer Bericht über den Raubmord, welcher zwischen Bremerhaven und Lehe am 30. September dieses Jahres von Leopold Müller verübt wurde wurde in Bremen von N. A. Ordemann gedruckt. Ein Veröffentlichungsjahr ist nicht angegeben, aber unter dem Text findet sich ein Vermerk auf das Erwerbungsdatum: Bremen 1854. Sowohl Bilder als auch das häufig in Kolportage-Heftchen vorkommende Lied fehlen und auf dem Titelblatt ist neben dem Titel nur die Druckerei vermerkt.

Die Taten ereigneten sich am 30. September auf der Verbindungsstraße von Bremerhaven und Lehe. Hier sprach Leopold Müller sein erstes Opfer an, schoss auf den Mann und raubte ihn aus. Das Opfer verstarb am nächsten Tag. Das zweite Opfer wurde ebenfalls am 30. September von Müller angegriffen, überlebte jedoch. Tage später konnte Leopold Müller als Täter vom zweiten Opfer identifiziert werden. Nach anfänglichem Leugnen gestand er am 5. Oktober, aufgrund angeblicher Visionen, die er im Gefängnis gehabt hatte.

Vermeintliche Authentizität | Schon der Titel spricht von einem „authentischen Bericht“, der im Vergleich zu allen anderen Quellen, die über den Vorfall berichtet haben, glaubwürdig sei. Auf den ersten Blick erscheint der Bericht, zu dem keine Gerichtsprotokolle oder Intertexte auffindbar sind, objektiv geschrieben, bei einer genaueren Überprüfung scheint es aber, als bringe der Autor unterschwellig seine Meinung mit ein.

Bereits bei der Schilderung der ersten Tat, dem Mord an Brinkmann, fallen einige mögliche Unstimmigkeiten auf. Während der Täter das Opfer in einem nahen Graben ausgeraubt habe, seien zwei Passanten an dem Tatort vorbeigekommen, die den Mörder für einen Betrunkenen, der sich in den Graben übergibt, gehalten hätten. Jedoch hätten die Fußgänger den vorausgehenden Schuss theoretisch hören müssen. Außerdem wurde zuvor beschrieben, dass der Mörder den „im Blute schwimmenden, röchelnden Unglücklichen“ nach der Tat zum Straßengraben getragen habe. Es hätte also einerseits Blut sichtbar sein müssen und andererseits das Röcheln des Verletzten hörbar sein können, da die Passanten zu diesem Zeitpunkt schon sehr dicht am Ort des Verbrechens gewesen sein müssten. Auch die zweite Tat wirft Fragen auf. Wieder plante der Raubmörder, sein zweites Opfer, Herrn Schlüter, zu erschießen. Ein Schuss, der den Nacken des Opfers getroffen habe, sei aber nicht tödlich gewesen. Hier stellt sich die Frage, wie solch eine Verletzung nicht tödlich enden kann.

Ebenfalls ist die Chronologie des Textes an einigen Stellen schwer verständlich. Bereits nach ein paar Tagen schon soll Schlüter beinahe genesen sein, und das nach einem Schuss in den Nacken. Weiterhin bleiben nach dem Lesen des Textes mehrere Fragen offen, was nach einem authentischen Bericht nicht der Fall sein sollte. Welche Visionen hatte der Mörder im Gefängnis, die ihn zu einem Geständnis bewegt haben? Warum wird der Traum, den Schlüter über das Ereignis hatte, von niemandem hinterfragt? Ist eine derartige Illusion aussagekräftig genug, um einen Mörder zu überführen? Was waren überhaupt die Motive von Leopold Müller? Es handelt sich laut Titel um einen Raubmord, aber was genau wurde gestohlen?

Soll der Kolportagetext vielleicht doch eher das Interesse und die Aufmerksamkeit der LeserInnen oder HörerInnen auf Märkten wecken? Denn die typischen, noch heute aktuellen und auf Sensation abzielenden Motive, wie Verbrechen, Mord, unerklärliche Träume und Visionen, finden wir hier wieder. Ob das Ereignis wirklich genau so geschehen ist, lässt sich nicht ohne weiteres herausfinden. 

Die Physiognomie des Verbrechers | Ein typisches Merkmal von Kolportagetexten, die von Verbrechenerzählen, ist, dass sie ein „unreflektierte[s] Gerechtigkeitsgefühl[]“ ihrer Leser/innen ansprechen und das Bedürfnis nach Gerechtigkeit lediglich „rein formal“ befriedigen (Petzoldt 1974, 70). In dem Raubmord-Textwird ein Verbrecher mit einem niedergeschlagenen, unsicheren und schwankenden Blick charakterisiert, zusätzlich besitzt er einen Ausschlag im Gesicht und eine schmächtige Statur. So ist die Schuld des Verbrechers, Leopold Müller, über die eigentliche Beweislast hinaus, schon seinem Äußeren abzulesen. Diese Vorstellung lässt sich mit der Physiognomik in Verbindung bringen, die einen großen Einfluss auf die sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Kriminalwissenschaften besaß (vgl. Marxen 1991). Als Physiognomik werden Theorien bezeichnet, die einen Zusammenhang der äußeren Erscheinung des Menschen (Knochenbau, Gesicht, Mimik) mit seinen seelischen Eigenschaften (Temperament und Charakter) annehmen (vgl. Blankenburg 1994). Es galt die Vorstellung, dass ein Verbrecher sich äußerlich von anderen Menschen unterschied. Es war in der damaligen Berichtserstattung gängig, die Täter durch eine physiognomische Beschreibung zu charakterisieren, um somit ein verbrecherisches Profil zu entwerfen.

Johannes Keller / Rebecca Lass / Lea Marks / Loes Samel