Medienereignisse

Dieser Post stellt folgendes Heftchen aus der Oldenburger Sammlung vor: Der Brand / des Dampfschiffes “Austria” / am 13. September 1858, / welches 538 Personen an Bord hatte, / und / von Hamburg nach New-York / bestimmt war. / Das Schiff wurde durch Räuchern mit Theer im Zwischendeck, / indem das Gefäß umstürzte und Feuer fing, in Brand gesteckt. / Druck von Büttner & Winter in Oldenburg. [o. J.]. Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2a:1,51.

Die Kolportage-Heftchen gewinnen ihr Lesepublikum durch ihre Unterhaltsamkeit. Um zu unterhalten, muss das, was erzählt, berichtet und besungen wird, nicht unbedingt neu und ungehört sein. Oftmals greifen die Heftchen Themen auf, über die auch an anderer Stelle geschrieben wurde und bei denen das Interesse der Zielgruppe gewiss war. Beispiele dafür, wie Kolportage-Heftchen zeitgenössische Themen nutzen und sich auf diese Weise mit der Brisanz des Aktuellen ausstatten, finden sich auch in der Oldenburger Sammlung: Ein in Oldenburg vom Verlag Büttner & Winter gedrucktes Heftchen mit dem langen Titel Der Brand des Dampfschiffes ‚Austria‘, am 13. September 1858, welches 538 Personen an Bord hatte, und von Hamburg nach New-York bestimmt war berichtet über eines der schwersten Schiffsunglücke der damaligen Zeit.

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2a:1,51

Das Auswandererschiff Austria sank nach einem Feuer und wurde zur Todesfalle für fast 500 Menschen. Das Unglück rief ein enormes mediales Echo hervor. Zeitgenössische Berichte finden sich etwa in vielgelesenen und an ein breites Publikum gerichteten Blättern wie der Gartenlaube (Heft 44-45, 13.09.1858) und der Illustrirten Zeitung (Nr. 800, 30.10.1858)

Zahlreiche Darstellungen entstanden, die das schreckliche Geschehen ins Bild setzen.

Der Untergang der Austria, Lithographie (Wikimedia Commons)

Gerade die Unterhaltungsmedien der Zeit greifen das Unglück auf: In sogenannten Panoramen wurde der Schiffsbrand dem sensationsfreudigen Publikum vor Augen gestellt, wie sich etwa dieser Anzeige, die in der Bayreuther Zeitung vom 27. April 1859 erschien, entnehmen lässt.

Annonce in der Bayreuther Zeitung Nr. 116, 27.04.1859.

Und auch fünf Jahre nach dem Unglück ist dieses noch für Zwecke der Unterhaltung interessant, wie eine Werbungsannonce vom November 1863 für eine sogenannte Nebelbild-Schau zeigt. Die Nebelbild-Schau, eine Projektionstechnik, die als Vorläufer des Kinos gilt, zeigt den Brand der Austria, der als Schluss- und Höhepunkt des Spektakels angekündigt wird.

Annonce in der Isar-Zeitung Nr. 323, 23.11.1863

Der Untergang der Austria wird also zu einem Medienereignis. An die mediale Aufmerksamkeit für das Schiffsunglück schließt auch die Kolportageliteratur an. In der Oldenburger Sammlung sind insgesamt fünf Heftchen vorhanden, die sich dem Brand der Austria widmen. Das hier vorgestellte Heftchen bietet auf acht Seiten Anknüpfungspunkte für unterschiedliche Lesebedürfnisse. Die Titelseite benennt das Ereignis, gibt die grundlegenden Daten und Fakten an und zeigt den Holzschnitt eines in Fahrt befindlichen Dampfschiffes. Indem hier in erster Linie Informationen zusammengefasst werden, erfüllt die erste Seite eine Nachrichtenfunktion. Der auf Seite 2 beginnende dreiseitige Prosatext erzählt die Vorkommnisse auf dem Schiff und den Ablauf des Unglücks. Die Anfangspassage setzt sich in zeitliche Nähe zu dem berichteten Geschehen, das auf den September des vorigen Jahres datiert wird. Neben dem Wunsch nach aktueller Berichterstattung und Information bedient der Prosatext zudem Bedürfnisse nach Sensation und Unterhaltung, denn das Unglück wird im Stil einer Abenteuergeschichte erzählt.

Landesbibliothek Oldenburg, Spr XIII 4c 2a:1,51

Auf den Prosatext folgt auf den Seiten 5-6 eine Auflistung der „Namen der Geretteten“, sortiert nach Passagieren und Mannschaftsangehörigen. Diese Liste liest sich zwar nicht unterhaltsam, ist aber dennoch dazu geeignet, Jammer und Schauder zu erregen und die Gemüter zu bewegen. Denn es lässt sich mittels der Liste Gewissheit über den Verbleib etwaiger mitgereister Verwandter oder Bekannter erlangen und auch denjenigen, die niemanden der Schiffsreisenden persönlich kannten, ermöglicht die Auflistung der Namen eine Identifikation mit den Unglücklichen. Die Namen ‚ganz normaler Leute‘ zu lesen, die auf dem Schiff dabei waren und den Brand überlebt haben – wie „Betty Erdmann aus Lemberg, Frau mit 4 Kindern“ oder „Emil Sasse aus Enger in Preußen, Regierungsbezirk Minden, allein“ – lassen das Geschehen fassbar werden. Wie die meisten der Bänkeldrucke enthält auch das hier betrachtete Heftchen auf den letzten Seiten (hier S. 7-8) ein Lied. Das hier vorliegende Lied fasst das im Prosatext Erzählte zusammen, bietet es in zugespitzter und gereimter Form dar und schließt mit dem Lob und Dank der Geretteten an „den höchsten Gott“.

Das Heftchen knüpft thematisch also an ein breit rezipiertes Medienereignis an, nutzt die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie für seine Zwecke und bietet mit seinen unterschiedlichen strukturellen Bestandteilen (Titelseite, Prosatext, Lied, Liste) eine ganze Palette an Angeboten für ein bunt gemischtes Publikum.

Katharina Grabbe